Zwanzigstes Kapitel

[347] Noch waren im Herbste dieses Jahres die Menschen mit den Ereignissen und Folgen der französischen und belgischen Revolution beschäftigt, als Gerüchte über eine große Aufregung der Gemüther in Polen sich bei uns in Preußen zu verbreiten begannen, und das Fortschreiten der Cholera gegen die Grenzen des europäischen Rußlands hin schwere Besorgnisse einzuflößen anfing.

Von den Zuständen in Polen, von dem Drucke, mit welchem das russische Gouvernement auf dem Lande lastete, von den einzelnen schreienden Ungerechtigkeiten, von der launenhaften und bizarren Tyrannei, in welcher der Großfürst Constantin sich gefiel, wußte man, so sehr der Verkehr zwischen Preußen und Polen auch erschwert war, in unserer Heimath doch mehr als genug, um den Widerwillen der Polen gegen die russische Herrschaft begreiflich zu finden.

Mein Vater selbst hatte seiner Geschäfte wegen mehrmals einen längern Aufenthalt in Warschau gemacht, und die Stadt, und das gesellige Leben in ihr, und der schwungvolle Charakter ihrer Männer und Frauen hatten ihm zugesagt. Wir Alle hatten seit unserer Kindheit viel Polen kennen lernen, da ihrer alljährlich eine Anzahl[347] mit meinem Vater in Geschäftsverbindung standen, und es hatten sich unter diesen Gutsbesitzern, welche in den Wittinnen ihre Landesprodukte zum Verkaufe brachten, häufig schöne und angenehme Männer befunden. Die Mehrzahl von ihnen verstand das Deutsche gar nicht, einige radebrechten es nothdürftig, aber Alle sprachen mehr oder weniger geläufig französisch; und da von diesen Gutsbesitzern und Kaufleuten uns häufig die Frauen ihrer Familie empfohlen wurden, wenn dieselben auf ihren Reisen nach Deutschland Königsberg berührten, oder wenn sie in eines der preußischen Ostseebäder gingen, so hatten wir oftmals polnische Gäste im Hause, deren Unterhaltung dem Vater und mir zufiel, weil Niemand im Hause des Französischen mächtig war, als wir beide.

Ich hatte auf solche Weise eine gute Uebung in dieser Sprache gehabt, und eine Vorliebe für die Polen gewonnen. Die Männer sowohl als die Frauen hatten leichtere Umgangsformen, als ich sie bis dahin kennen lernen, und eine Wärme des Ausdrucks, eine Begeisterungsfähigkeit, die für mich etwas Hinreißendes besaßen. Sie hatten mich auch gern, weil mein Antheil für sie und meine Lebhaftigkeit ihnen zusagten, und eine ältere polnische Dame, die ihres kranken jüngsten Töchterchens wegen einen langen Aufenthalt in Preußen machte, gewann auf mich dadurch einen Einfluß, daß sie mich bemerken machte, wie vorurtheilsvoll und hart ich in meinen Urtheilen über andere Frauen und Mädchen, und wie prüde ich selbst sei. Sie war eine ernste Frau, eine treffliche Mutter, und wie ihre Landsleute sagten, die mir später von ihr sprachen, von einem tadellosen Ruf.[348] Es fiel mir daher auf, als sie sich einmal in einer Gesellschaft im Seebade Kranz, wo ich während einer Woche ihr Gast war, sehr freundlich der Frau eines Königsberger Professors näherte, und mit ihr sprach, welche von den übrigen Damen mit großer Geflissenheit gemieden wurde, weil man sie als eine der frühern Maitressen des Prinzen August bezeichnete. Ich fragte sie am Abende, ob sie das nicht wisse? – »O ja! versetzte sie, man ist sehr beeifert gewesen, es mir zu erzählen. Aber die Frau ist hier um sich zu erholen, sie giebt keinen Anstoß irgend einer Art, sie war neulich am Strande freundlich gegen meine Tochter, und es ist unbarmherzig, sie so ohne Noth an eine Vergangenheit zu erinnern, die sie vielleicht selbst gern vergessen möchte. Die Tugend der deutschen Frauen muß sehr zerbrechlich sein, daß sie fürchten, sie könne durch die bloße Begegnung mit einer armen, verirrten Person gleich Schaden leiden!« –

Ein andermal, als wir wieder auf dies Gespräch zurückkamen, und ich ihr erklärte, wie strenge man in meinem Vaterhause darauf sehe, mich auch den Schein einer Unvorsichtigkeit vermeiden zu lassen, warf sie flüchtig die Bemerkung hin: »man wird dahin kommen, Sie zu einer völligen Prüden zu machen, und das wäre nicht gut. Man thäte besser, Ihnen zu sagen, daß es Lagen giebt, in denen auch Frauen es nicht scheuen dürfen, den Anschein des Unrechts auf sich zu nehmen, wenn es einer großen Ueberzeugung oder einem großen Zwecke gilt. Der Ruf einer Frau ist etwas sehr Wichtiges und Beachtenswerthes, aber er ist nicht das letzte Kriterium für ihren Werth! Und bedenken Sie es, wie leicht Sie[349] es haben, zwischen Vater und Mutter auf der ebenen Straße fortzugehen. Was wissen Sie, was wissen die andern Frauen, welche sich hier von der armen Professorin so richterlich abwenden, von den Wegen ihrer Vergangenheit? Aber es ist der Protestantismus, der die deutschen Frauen so unbarmherzig macht. Der Protestantismus kennt die Vergebung der Sünde (die Absolution) nicht, und hat kein Mitleid mit dem Sünder. Nur im Katholizismus liegt die Liebe, liegt die vergebende Barmherzigkeit.«

Das waren Alles neue Begriffe für mich. Nicht, daß ich nicht ähnliche Aussprüche gelesen hatte; aber die Wirkung eines in Thätigkeit gesetzten Grundsatzes ist eine ganz andere, als die der geschriebenen Doktrin, und die Worte und die Handlungsweise jener Polin wirkten um so lebhafter in mir fort, je mehr ich gewohnt war, Alles was mir der Art entgegenkam lange und still in mir zu verarbeiten. Ich bin weder in der Jugend, noch in späterer Zeit im Stande gewesen, große fertige Systeme in mich aufzunehmen, oder große, eigentliche Lehrbücher mit Vortheil zu benutzen, weil ich mir das Fremde immer selbst vollständig zum Eigenen machen mußte, ehe es irgend eine Bedeutung für mich gewinnen, oder mir gar brauchbar werden konnte. Ich glaube auch, daß die selbstthätige Entwicklung eines einzigen Satzes dem Menschen, der nicht mit außerordentlichen Gaben versehen und nicht förmlich für das studirende Erkennen fremder Theorien geschult ist, viel mehr Nutzen bringt, als das massenhafte Kennenlernen des von Fremden Gedachten. Mich haben systematische Lehrbücher über Theorien fast immer nur[350] erschreckt und verwirrt, denn sie waren mir meist zu mächtig; aber das einzelne lebendige Wort oder der Anblick eines bestimmten Thun's brachten mir Nutzen und förderten mich.

Daß eine Frau wie diese Marschallin von Raës ihr Vaterland liebte, daß sie die Unterdrückung desselben beklagte, verstand sich von selbst. Aber sie hatte natürlich mit mir nie ein Wort von der Möglichkeit seiner nahen Befreiung gesprochen, während ich doch wußte, welchen Antheil sie an den Revolutionen im Westen nahm. Nur als sie Königsberg verließ, und davon sprach, im nächsten Jahre wiederzukehren, – was nicht geschah – äußerte sie die Ansicht, daß es dann hoffentlich leichter sein werde, Pässe in das Ausland zu erhalten. Auf unsere Frage, worauf sich diese Erwartung gründe, versetzte sie: »auf alle die Umwälzungen, welche dies Jahr gebracht hat. Man ist sehr unglücklich bei uns, und das Unglück giebt Entschlossenheit und Muth.«

Weiterhin gegen den Herbst brachten die polnischen Juden, die Hauptvermittler des Handels zwischen Polen und Preußen, so oft sie über die Grenze kamen, die Nachricht, daß es »unruhig« in Polen sei. Endlich, im Anfang des Dezember, kamen die ersten Nachrichten von der Revolution in Warschau nach Königsberg.

Das berührte uns nun freilich näher, als die Revolutionen im Westen, und an ungewöhnliche Ereignisse nicht eben gewöhnt, ging man im Fürchten und im Hoffen weiter, als die Wahrscheinlichkeit es zu thun berechtigte. Für den Kaufmannsstand, sofern ihn kein höheres Interesse beschäftigte, stand die Frage, welchen[351] Einfluß die Revolution auf die Grenz- und Zollverhältnisse haben werde, in erstem Gliede, und das Bedürfniß so der kriegführenden Polen wie der Russen machte es bald nothwendig, die Einfuhr nicht wie bisher zu kontrolliren. Ich erinnere mich nicht, ob von polnischer Seite die Grenze förmlich geöffnet wurde, oder ob man dort wie auf den russischen Stationen nur durch die Finger sah, aber der Handel in Königsberg wurde plötzlich so lebhaft, daß die Stadt im Winter so voll von polnischen Juden war, als es sonst nur im Sommer der Fall zu sein pflegte, und es war bei uns damals mit Allem und an Allem Geld zu verdienen.

Solch eine Gelegenheit wußte denn auch der Vater zu benutzen. Die Arbeit in den Weinlägern ging buchstäblich mitunter Tag und Nacht in einem Zuge fort. Die Nächte hindurch spülte man in unserm Hofe Fässer und Flaschen, und da es kalt war, mußten Nachts von uns Kaffee und Biersuppen gekocht werden, die Arbeiter wach und frisch zu erhalten. Mein Vater war viel auf Reisen. Er fuhr nach Danzig und Stettin, um aus den dortigen Niederlagen seine Vorräthe zu vergrößern, er ging ein paar Mal nach den verschiedenen Grenzstationen, um die Beförderung der Waaren zu überwachen, und je weiter die Revolution in Polen sich ausbreitete, um so lebhafter wurde auch der Geschäftsverkehr in unsrer Stadt, ja selbst im Hause wurde von der Familie, gegen alle sonstige Gewohnheit, im Erwerb geholfen.

Mein Vater hatte nämlich von jeher den Wunsch gehabt, seinen Kindern irgend welche praktischen Fertigkeiten für den Erwerb anzueignen, und wie er mich, bald nachdem[352] ich aus der Schule gekommen war, im Schneidern und in allen Arten von Stopfereien unterrichten lassen, so war immer davon die Rede gewesen, daß die Brüder ein Handwerk erlernen sollten. Man hatte gedacht, sie zu einem Buchbinder oder Glaser zu schicken. Indeß die Paar freien Stunden, welche den beiden Gymnasiasten übrig blieben, würden zur Erlernung dieser Handwerke nicht ausgereicht haben, und so hatte der Vater grade in dem vorhergehenden Frühjahre die Gelegenheit benutzt, sie durch einen Franzosen, der zufällig durch Preußen gereist war, in der Destillation von Liqueuren, von Eau de Cologne und von Parfümerien unterrichten zu lassen, die auf kaltem Wege fabrizirt wurden.

Es war dazu eigens einer der Waarenräume, die sich hinter unsern Wohnstuben in dem Hause befanden, eingerichtet worden, und unter der Anleitung von Herrn Jeannillon hatten die Brüder und die älteste meiner Schwestern, die sehr gewandt und zu allen solchen Beschäftigungen äußerst anstellig war, in den Abendstunden Branntwein entfuselt und mit Beinschwarz und ätherischen Oelen herumhandtiert, bis die Fabrikate, die sehr gut ausfielen, zu Stande kamen. Nach Jeannillon's Abreise war hie und da unter des Vaters Leitung wieder einmal solch ein kleiner Posten Liqueure gemacht worden, um die drei jungen Fabrikanten in Uebung zu erhalten, und unser Geschäftsreisender hatte sie, wenn er seine Tour durch die Provinz machte, mit Vortheil abgesetzt. Jetzt, nach dem Ausbruche der Revolution, da in Polen alles Verkaufbare Gewinn versprach, wurde auch diese Fabrikation in weit größerem Maßstabe in Angriff genommen.[353] Es war artig zu sehen, mit welchem Eifer die beiden Primaner und die Schwester, wenn sie ihre Studien und Unterrichtsstunden beendet hatten, in ihr Laboratorium eilten, und dann schwarz wie die Kohlenbrenner, aber seelenfroh daraus hervorgingen, weil sie dem Vater hatten nützlich sein können. Die Mutter, ich und die Kinder, hatten nur das leichte Amt dabei, die Etiketts zu schneiden und auf die Flaschen zu kleben, und auf solche Weise wurde neben den großen Geschäften meines Vaters noch ein ganz ansehnliches Nebengeschäft gemacht, das hauptsächlich auf der Thätigkeit der drei Geschwister beruhte. Ein andermal, gegen das Frühjahr hin, kaufte der Vater eine ganze Ladung Apfelsinen, die bei uns im Hause umgepackt, einzeln nachgesehen und frisch eingewickelt werden mußten, und der Ertrag dieses Geschäftes wurde der Mutter, die wie wir Alle dabei geholfen hatte, zur Anschaffung eines Atlas-Mantels überwiesen, da sie seit den Jahren, in welchen der Vater seine Zahlungen eingestellt, sich jeder Art von Luxus enthalten hatte. Der Vater verfuhr in diesem Betrachte so consequent, daß, als mein ältester Onkel mir zum fünfzehnten Geburtstage ein schwarzseidnes Kleid schenkte, es ein Paar Jahre liegen bleiben mußte, weil der Vater unserer Mutter keine seidenen Kleider geben konnte, und es mir also nicht angestanden haben würde, mit einem mir geschenkten seidenen Kleide Parade zu machen. Später, als der Vater selbst uns Allen wieder seidene Kleider und einen verhältnißmäßig großen Toiletten-Luxus gewähren durfte, haben die seidenen Kleider, welche meine Verwandten mir hie und da zum Geburtstage schenkten, keine Hindernisse erfahren,[354] und mir, die den Putz liebte, großes Vergnügen gemacht.

Je weiter die Revolution in Polen um sich griff, um so lebhafter wurden Handel und Gewerbe in Königsberg, und eben der vorhin erwähnte Mangel an Transportmitteln gab bei uns im Haushalt oft zu komischen Dingen Veranlassung. War der Vater um Fuhrwerk in Verlegenheit, so sendete oder ging er auf den Markt, um nachzuhören, ob Bauern von der preußischen Grenze da wären, und diesen wurde dann, gleichviel ob ihre Produkte für uns brauchbar waren, oder nicht, ihre ganze Ladung in Bausch und Bogen abgekauft, und sie selbst noch an demselben Tage mit einer Rückfracht von Weinen und andern Dingen nach den Grenzstädten geschickt, in denen die Spediteure die Waaren zur Weiterbeförderung in Empfang nahmen. Dadurch befanden wir uns je nach der Jahreszeit bald im Besitz von so viel Zwiebeln, als wir in Jahr und Tag nicht verbrauchen, von weit mehr Eiern, als wir irgend benutzen konnten, und einmal wurde unser Hühnerstall ganz plötzlich mit nahezu achtzig Hühnern bevölkert, die dann in aller Eile aufgegessen werden mußten, weil der Stall so viel nicht halten konnte.

Zu dem, was man sonst ein gleichmäßiges ruhiges Leben nannte, kamen wir in dem Jahre nicht. Es gab immer neue Arbeiten, immer neue Störungen. Aber wir sahen den Vater sehr heiter, weil seine Thätigkeit Gewinn brachte, und das machte auch die Mutter froh, die sich dabei gern der »Kriegszeiten von achtzehnhundert zwölf und dreizehn« erinnerte, in denen das Treiben noch ein ganz andres gewesen war. Dazwischen kamen dann ab[355] und zu mit der Aussicht auf größere Sorgenfreiheit auch einzelne Annehmlichkeiten, die man lange entbehrt hatte, und die man nun um so mehr genoß. Es wurde an den Feiertagen wieder Wein auf den Tisch gebracht, was bis dahin, obschon der Vater Weinhändler war, nicht geschehen war. Nur die Eltern tranken bei dem zweiten Frühstück ein Glas Wein, im Uebrigen genoß der Vater, der persönlich ganz bedürfnißlos war, und weder rauchte, noch schnupfte, noch Karten spielte, nur Wasser. Was aber noch größeres Wohlbehagen als der Wein erregte, der eigentlich nur als Symbol besserer Zeiten Werth für uns hatte, das war die erste Spazierfahrt in einem Miethswagen, den man vor die Thüre kommen ließ.

In meiner Kindheit war eine Spazierfahrt am Sonntag eine feststehende Sache, und die sämmtlichen Kutscher des alten Fuhrherrn Stange unsere guten Freunde gewesen. Mit dem Vermögensverluste meines Vaters hatte das aufgehört, und es waren neun Jahre vergangen, in denen das höchste Vergnügen darin bestanden hatte, einmal mit einem Stellwagen vom Thore aus auf das nächste Dorf hinaus zu fahren, wobei dann der Heimweg vom Thore in die Stadt zurück, mit den müden, schlaftrunkenen Kindern, die man gelegentlich auch tragen mußte, sehr beschwerlich war. Nun kam eines Abends der Vater im Sommer von einunddreißig nach der Arbeit aus dem Comptoir herauf. Man hätte gern noch Luft geschöpft, aber zu einem Spaziergang war er zu müde, und plötzlich sagte er: wir wollen eine Stunde fahren, ich werde einen Wagen holen lassen.

Die Freude, welche mir diese Worte machten, ist mir[356] noch gegenwärtig. Es war wie eine Erlösung und wie eine Verheißung, es war etwas Feierliches für mich, und obschon weiter kein Wort darüber gesprochen wurde, haben gewiß alle die Meinen es ebenso empfunden. Neben der Wonne, daß der Vater sich dies Vergnügen wieder gönne, daß die Mutter, der frische Luft so nöthig war, und die keine Kraft zu weiten Wegen hatte, nun wieder fahren könne, neben dieser verständigen Freude hatte ich auch eine kindische Genugthuung unsern Nachbarn gegenüber, als ich dachte, daß nun auch bei uns wieder ein schöner gelber Wagen vorfahren würde. Ich meinte, sie müßten es dem Hausknecht ansehen, daß er fortginge, einen Halbwagen zu bestellen, und als der Wagen nun wirklich vorfuhr, als wir Alle ruhig im Zimmer warteten, bis die Eltern fertig waren, damit man uns die freudige Ungeduld nicht so anmerke, und als wir dann nun wirklich durch die Langgasse fuhren, der Vater und die Mutter im Fond, ich, die Schwester und der eine Bruder auf dem Rücksitz, der andere Bruder bei dem Kutscher auf dem Bock, überall die Bekannten grüßend, und in der That über unsern ungewohnten Luxus von ihnen angestaunt, da – ja da waren wir, glaube ich, Alle ebenso glücklich als ich.

Solch ein Hinblick auf die Nachbarschaft, solch eine Werthschätzung eines kleinen Ereignisses, mag Manchem kleinlich scheinen, aber das Leben setzt sich eben nur aus kleinen Ereignissen zusammen, und wem die volle Empfindung für das Kleine fehlt, der wird überhaupt keinen großen Gewinn und Genuß von seinem Leben haben. Man braucht nicht in das Kleinliche zu verfallen, weil[357] man sich des Kleinen und seiner einstigen Bedeutung für uns erinnert, und bei der Beurtheilung solcher Empfindungen muß man es nothwendig in Anschlag bringen, wie verschieden in großen und in kleinen Städten der Zusammenhang der Menschen ist. In einer großen Stadt hat man in der Regel keine Nachbarn, selbst nicht an den Personen, mit denen man denselben Flur bewohnt. In Königsberg waren die Einwohner unserer ganzen Straße unsere Nachbarn, und unsere Nachbarn waren mehr oder weniger die Welt für uns, wenngleich dasjenige, was fern von uns in der großen weiten Welt geschah, uns darum nicht weniger berührte. Man kann sich der ungestörten Verlorenheit in einer großen Stadt zu Zeiten sehr erfreuen, und kann zu andern Zeiten sich doch daran erinnern, wie anders es war, als man von seiner Straße noch sagen konnte: das ist meine Welt!

An dem Kriege und an dem Schicksale der Polen nahm man in Preußen großen Antheil, obschon die sogenannte preußische Neutralität den Russen vielfach Vorschub leistete. Das hielt uns jedoch gar nicht ab, Charpie für die Polen zu zupfen und ihren Siegen mit Begeisterung zu folgen, ihre späteren Niederlagen zu betrauern. Die Bilder von Chlopicki, Lelewel, Dwernicki, Skrzynecki, und vor allen das Bild der heldenhaften Gräfin Cäcilie Plater waren in Aller Händen, überall hörte man die polnischen Lieder und Märsche singen und spielen, und wie sehr auch später ein Theil unserer preußischen Landsleute sich mit ihrem Antheil von dem Schicksal, d.h. von der Befreiung Polens abwendete: damals wünschte die bei weitem größte Mehrzahl ihnen ganz entschieden[358] den Sieg. Man freute sich an dem Gedanken, die russische Tyrannei nicht mehr zum Grenznachbar zu haben, man erzählte es sich mit Vergnügen, wie der verhaßte und gefürchtete Großfürst Constantin inmitten seiner russischen Soldaten eigentlich dem unbesonnenen Wagniß einiger jungen Patrioten erlegen sei; und obschon die älteren und erfahrenern Personen unserer Bekanntschaft bald bedenklich auf die Uneinigkeit blickten, die sich in den Unternehmungen der Polen zeigte, und das Wort von der Zerfahrenheit der polnischen Reichstage als böses Omen bald zu hören war, so erregten doch die Heldenthaten der Einzelnen und der Muth der Truppen im Allgemeinen eine große Bewunderung selbst bei Denen, die an dem Gelingen des Unternehmens zweifelten.

In der Mitte des Sommers, als der Stern der Polen schon tief im Sinken war, mich dünkt, es muß Ende Juni oder Anfangs Juli gewesen sein, brach in Königsberg zum ersten Male die Cholera aus, und zwar in einem der Häuser am Dey'schen Garten, der einst der Tummelplatz unserer Kinderspiele gewesen war.

Man hatte dem Heranrücken der Plage seit Jahr und Tag mit wachsendem Schrecken entgegengesehen. Städte im fernsten Rußland, an die man sonst nie gedacht, hatten für uns eine Bedeutung bekommen, je nachdem die Cholera sie berührt oder übersprungen hatte, und das Entsetzen vor der Krankheit war noch durch die drohende Absperrung gesteigert worden. Die Bilder der Aerzte, die, in Wachstuch gekleidet, mit Essigflacons vor den Nasen, an das Bett der Kranken treten sollten, die schwarzen Schilder an den Häusern, in denen sich Kranke[359] befanden, der Gedanke, daß man die Kranken und die Todten der Sorgfalt der Familien entreißen, und die Gestorbenen in allgemeine, mit Kalk angefüllte Gruben werfen werde, hatte etwas Grauenhaftes, und man würde davon noch stärker ergriffen worden sein, hätte die Theilnahme an dem Kriege den Gemüthern nicht zeitweise eine andere Richtung gegeben.

Etwa ein halbes Jahr, ehe die Cholera nach Königsberg kam, waren mehrere junge preußische Aerzte nach Rußland und nach Polen gegangen, theils um die Cholera kennen zu lernen, theils um in den Lazarethen Hilfe zu leisten. Unter ihnen hatte sich Johann Jacoby befunden, der damals erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Kurz vor seiner Abreise hatte ich ihn noch in einer Gesellschaft gesehen, und es hatte uns Mädchen überrascht, daß Jemand so fröhlich tanzen und so sorglos heiter sein könne, der einer so ernsten Zeit und einer so ernsten Aufgabe entgegenging. Ich selbst kannte ihn damals nicht näher, unsere Freundschaft stammt erst aus einer viel späteren Zeit, ja ich glaubte in jenen Tagen, daß er ein Vorurtheil gegen mich habe, und mich für oberflächig halte. Das wäre freilich kein Wunder gewesen, denn ich hegte und pflegte damals noch als etwas Gutes allerlei Arten von Thorheiten in mir, die er wohl in ihrem rechten Lichte sehen mochte; und wie er mich meist scharf und kurz anredete, so machte ich mir das Vergnügen, ihm in ähnlicher Weise zu entgegnen. Ich war daher immer der Meinung, daß wir einander abstießen und gut thäten, uns zu meiden. Die ruhige Ueberlegenheit, die diesen Mann von früher Jugend an kennzeichnete und ihn über alle seine Altersgenossen hinaushob,[360] forderte eine Achtung ab, die ich nicht geneigt war, einem jungen Manne zu gewähren, weil seit Leopold's Tode keiner meiner jungen männlichen Bekannten sie mir einzuflößen wußte.

Sobald die Cholera in Preußen auftrat, kehrte Jacoby aus Polen zurück, und seinen Berichten verdankte man es hauptsächlich, daß der treffliche und aufgeklärte Ober-Präsident der Ostseeprovinz, Herr von Schön, sich gegen die Absperrungstheorie erklärte, und Königsberg sowohl nach Außen, als in dem Inneren der Stadt vor dieser Widerwärtigkeit bewahrt blieb. Dennoch waren der Schrecken und die Verwirrung unter den Menschen außerordentlich groß, und da die Cholera in den ersten Tagen eben nur Personen aus den arbeitenden Ständen ergriffen hatte, welche in dem Bereich des Dey'schen Gartens und der Holzwiesen am Pregel wohnten, so waren denn, wie in vielen anderen Fällen, auch hier das Mißtrauen und die Thorheit schnell bereit gewesen, an eine Vergiftung der armen Leute zu glauben.

Es war am hellen Mittag, als sich die Nachricht verbreitete, daß ein Volkshaufe sich vor der Wohnung des Polizeipräsidenten Schmidt auf dem Altstädtischen Markte versammelt habe, und dort nicht zu bewilligende Forderungen stelle. Die Einen erzählten, das Volk wolle die Kranken nicht in die Choleraspitäler schaffen lassen, Andere sagten, man wolle gegen die Aerzte Etwas unternehmen. Dann wieder hieß es: man verlange von den Reichen bessere Nahrungsmittel für die Armen, und nachdem der Vater selbst nach dem Markte hingegangen war, sich zu überzeugen, was dort geschehe und was man[361] dort begehre, kam er mit der Ansicht zurück, daß von einer bestimmten Forderung gar keine Rede sei, sondern daß Angst und Schrecken die Menschen in eine Aufregung versetzt hätten, die sich eben in dem Tumulte Luft mache, und durch einzelne Personen unter den Arbeitern, die von den Revolutionen des letzten Jahres wußten, zu einem schwachen Seitenstück derselben gesteigert werde.

Dennoch blieb es, eben weil weder die Ruhigen, noch die Aufgeregten in der Stadt an solche Vorfälle gewöhnt waren, ganz unberechenbar, wie weit die Sache gehen, wie weit die Unruhe sich ausdehnen könne, denn je grundloser eine Aufregung ist, um so mehr ist sie durch jeden Zufall der Steigerung in das Maaßlose ausgesetzt. Man hatte im Polizeigebäude die Fenster eingeschlagen, Möbel und Geschirre auf die Straße geworfen, Betten zerrissen und die Federn zerstreut, und als man damit fertig, war die aufgeregte Masse nach dem Kneiphof aufgebrochen, um ihr Heil vor dem Rathhause zu versuchen, in welchem der Magistrat seine Versammlung hatte.

Mein Vater war, als er nach Hause kam, schnell entschieden was er zu thun habe. Er ließ seine Weinkeller und Lager schließen und schickte sein ganzes Personal, die Commis und die Arbeiter, zu uns in das Haus. »Die laufen und spektakeln wenigstens nicht mit!« sagte er zu uns, während er ihnen ernst und wichtig den Auftrag ertheilte, über seine Frau und seine Töchter und über das Haus zu wachen. Von dem Balkon vor der Thüre wurden die eisenbeschlagenen Stangen abgenommen, welche die Markisen trugen, da sie füglich als Waffen dienen konnten, die Laden zu ebener Erde wurden zugemacht,[362] die Dienstboten erhielten die Weisung, mit den Kindern die Hinterstuben nicht zu verlassen. Und nachdem der Vater also die Männer, über die er zu bestimmen hatte, für den Moment unschädlich gemacht, ging er mit den beiden Brüdern, die damals noch Primaner des Gymnasiums waren, nach dem Magistrate, wo eine Anzahl von Bürgern sich versammelt hatte, um zu versuchen, wie man die Menschen beruhigen könne.

Kaum war er fort, so hörten wir die Avantgarde jedes Straßenereignisses in Königsberg, die Schusterjungen, lärmend durch die Straßen laufen. Hie und da klirrten zerbrochene Scheiben, und von einer Gallerie im Innern des Hauses, die allerdings von einem Steinwurf wohl getroffen werden konnte, sahen wir, wie ein Haufe von Arbeitern, Sackträgern und Weibern an unserm Hause vorüber in die Brodbänkengasse einbog, und vor dem Magistrate Posto faßte. Aus den Fenstern meiner Stube konnten wir, als der Haufe davongezogen war, die Bewegung vor dem Rathhause sehen und hören, aber es währte etwa nur eine halbe Stunde, als es dort lichter und ruhiger wurde. Einzelne Gruppen, unter ihnen manch Einer mit Blut bedeckt, fingen an zurückzukommen, man sah sie lebhaft gestikuliren und die Fäuste drohend erheben, indeß das eigentliche Gewitter war trotz diesem Grollen des Donners vorüber. Die Polizeibeamten und die sogenannten Stadtsoldaten, ein kleines Invalidencorps, wurden vor dem Rathhause wieder sichtbar, die Bürger, die sich auf das Rathhaus begeben hatten, fingen an, mit weißen Taschentüchern, als Erkennungszeichen um den Arm gebunden, durch die Straßen zu[363] gehen, und es währte nicht lange, bis der Vater mit den Brüdern nach Hause kam, uns zu sagen, daß wir ruhig sein könnten und daß anscheinend keine Gefahr mehr vorhanden sei. Dennoch organisirte sich eine Art von Bürgerwehr, in die der Vater und die Brüder eintraten, und die ein paar Tage hindurch Tag und Nacht in den Straßen patrouillirte, wobei höchst originelle Physiognomien und Gestalten zum Vorschein kamen, deren Komik dadurch noch gesteigert wurde, daß man die Leute kannte, und also wußte, wie weit diese Art der Tagesarbeit und der nächtlichen Heerschau von ihren Neigungen und von ihren Gewohnheiten entfernt lag.

So endete dieser erste Krawall, dem ich zugesehen habe, und er hatte, da er keinen Zweck gehabt, auch Nichts ausrichten können, als daß die Geister nach einer anderen Seite hin beschäftigt worden waren, und daß man sich inzwischen darin gefunden hatte, die Cholera in den Mauern zu haben, und die Menschen plötzlich als ihre Opfer hinsterben zu sehen. Nach anderthalb Tagen wurden die Markisenstangen wieder auf dem Wolme festgebunden, die Menschen kehrten zu ihren Geschäften zurück, und nur Einer von des Vaters Arbeitern, ein rühriger, heftiger einäugiger Mann, wurde entlassen, weil er während des Krawalls trotz des Vaters Befehl auf die Straße gegangen war. Er hatte es lockender gefunden, einige Fenster einzuwerfen, als »seine Madame und die Fräuleins« zu beschützen, und ihm allein war der Gedanke gekommen, daß mein Vater eigentlich gar kein Recht hatte, seine Untergebenen in ihrem freiem Willen zu beschränken und in ihren Krawallvergnügungen zu stören.[364] Leute aber, die seinen Befehlen gegenüber andere persönliche Rechte zu haben glaubten, als die, welche sein Wille ihnen zugestand, konnte der Vater nicht gebrauchen; ja ich möchte behaupten, es sei ihm nie der Gedanke gekommen, daß Jemand, der als sein Untergebener in seinem Lohn und Brod stehe, mehr verlangen könne, als der reiflich überlegten, wohlmeinenden Anordnung des »Herrn« pünktlich Folge zu leisten.

In unsrer Lebensweise brachte die Cholera keine wesentliche Aenderungen hervor, weil der Vater jeder übertriebenen Besorgniß mit Ruhe entgegentrat, und selbst unsere Mutter die Erinnerung bewahrt hatte, daß die Zeit des Typhus und der Lazarethfieber während der Kriegsjahre mehr Opfer gefordert hatten, als die jetzt herrschende Epidemie. Die Schulen waren freilich geschlossen, und für die jüngeren Schwestern wurde deshalb gleich ein Privatunterricht hergestellt, um sie nicht müßig gehen zu lassen. Es blieb auch in dem plötzlichen Hinsterben der Menschen, es blieb in dem dumpfen Rasseln des sogenannten Cholera-Wagens, der Abends die Leichen zu dem neuerrichteten Cholerakirchhof in die Kalkgruben fuhr, noch Quälendes genug für die Phantasie übrig; aber unser Haus und unsere Familie blieben von der Seuche ganz verschont, und ich glaube, ich war diejenige im Hause, die sich mit ihren hypochondrischen Grillen am meisten das Leben erschwerte, wennschon man nach der Hausordnung solche Selbstquälereien nicht verlauten lassen durfte. In solchen Dingen aber ist das Schweigenmüssen ein großer Gewinn, denn bei allen körperlichen Leiden pflegt das Klagen die Empfindung der Beschwerde zu[365] steigern, ganz abgesehen davon, daß es die Stimmung der Andern verdirbt. Uns z.B. über die Hitze des Sommers, über die Kälte im Winter zu beklagen, war Etwas, was der Vater uns von jeher verboten hatte. Denkt Euch einmal, welch eine verdummende Unterhaltung entstehen müßte, pflegte er zu sagen, wenn sich in einem Haustand von achtzehn Personen jeder Einzelne über unabänderliche Thatsachen auslassen und beschweren wollte! Im Sommer ist es heiß, im Herbste naß, im Winter kalt! Das fühlt Jeder, das erleiden Alle, wozu also die un nütze Meldung und das unnütze Gerede?

Bald nach dem Ausbruch der Cholera überraschte der Vater uns eines Tages mit der Nachricht, daß er bei der Regierung darum eingekommen sei, den Namen Markus ablegen und dafür den Namen Lewald führen zu dürfen, den seine Brüder schon zwanzig Jahre früher angenommen hatten. Ob der Vater diese Maßregel grade in diesem Zeitpunkte vorbereitet hatte, um die Thatsache festgestellt zu haben, wenn das Unglück ihn uns während der Seuche entreißen sollte, ob er den Augenblick gewählt, weil er denken konnte, daß ein solcher Entschluß weniger Aufsehen machen würde, während man durch äußere Ereignisse so vielfach beschäftigt war, ist gleichgültig. Genug, seine Absicht wurde uns eben so bestimmt und plötzlich mitgetheilt, als früher den Brüdern ihre bevorstehende Taufe; aber die Letztere war der Mutter eine Freude gewesen, und die Kunde von dem Namenswechsel erregte in ihr eine große Betrübniß. Sie fiel dem Vater weinend um den Hals, sie bat ihn, nicht darauf zu bestehen, sie wären nun zwanzig Jahre unter diesem Namen glücklich[366] mit einander gewesen, und es sei ihr, als ob man ihr ein Stück ihres Lebens entreiße, wenn man ihr diesen Namen nehmen wolle.

Solche aus dem Gemüthe stammende Einwendungen schonte der Vater liebevoll, ohne daß sie natürlich in seinem Entschlusse Etwas änderten. Sein Herz war sehr warm, aber sein Verstand bewahrte ihn vor aller Weichheit der Empfindung, so lange er sich in seiner vollen Kraft befand, und erst später, als er krank wurde, zeigte sich jene Schwäche in ihm, die man so oft fälschlich als »Gemüth« bezeichnet. Er tröstete die Mutter freundlich mit Gründen der Vernunft. Er hielt ihr vor, wie inconsequent es von ihr wäre, die sich so viel möglich vom Judenthume loszusagen wünsche, wenn sie nicht mit Freuden einen jüdischen Namen ablege. Er fragte sie scherzend, ob sie ihn denn nicht geheirathet haben würde, wenn er vor zwanzig Jahren Lewald geheißen; und als er bemerkte, daß sich auch bei den Kindern, namentlich bei dem ältesten Bruder, ein Mißfall en gegen den Namenswechsel fühlbar machte, sagte er ernsthaft: die Hauptsache ist, ich halte diesen Schritt für angemessen, ja für nothwendig. Ihr beiden Jungen werdet im Laufe dieses und des kommenden Jahres die Universität beziehen. Was soll Euch da der jüdische Name? Was soll er Euch im Leben? Ganz abgesehen davon, daß Ihr als Namensfremde unter Euere Familie treten würdet, wenn Ihr jemals mit meinen auswärtigen Brüdern und deren Kindern zusammen kämet. Macht Euch also keine Gedanken darüber, ich weiß, was ich thue, und Ihr werdet es allmählig begreifen lernen und es mir danken.[367]

Am folgenden Tage wurde die Anzeige dieses Namenswechsels in den Zeitungen bekannt gemacht. Als dann gegen den Herbst hin das Gymnasium und die Schule, welche meine Geschwister besuchten, beim allmähligen Nachlassen der Choleraepidemie wieder eröffnet wurden, geschah in Bezug auf unseren neuen Namen eine Anzeige bei ihren Directoren, und gleich am ersten Tage hielt der Vater uns an, den Namen Lewald mit unsern Vornamen so lange wieder und wieder zusammen zu schreiben, bis wir ihn leicht und fließend in die Hand bekamen. Er und die Brüder behielten den Namen Markus als einen der Vornamen bei, wir Töchter legten ihn ganz ab, und da ich mich durch eine lange Zeit an den Gedanken gewöhnt hatte, meinen Familiennamen gegen den von Leopold zu vertauschen, so hatte ich eben keine schmerzliche Empfindung davon, daß ich ihn nun aus einem anderen Grunde ablegen sollte.

Woher der Name Lewald aber in unsere Familie gekommen ist, oder wie der eine Großonkel, der sich dreißig, vierzig Jahre früher mit einer christlichen Handwerkerstochter verheirathet und ihn zuerst angenommen hatte, darauf gefallen war, ihn zu wählen, habe ich nie erfahren. Er kam sonst in Preußen in den bürgerlichen Familien nicht vor. Die adelige Familie, die ihn führte, schrieb sich Lehwaldt, und so scheint unser Name in seiner jetzigen Schreibweise eine Erfindung jenes Onkels gewesen zu sein. Er hat für uns aber das höchst Angenehme damit erreicht, uns einen Namen vorzubereiten, der uns wenig Namensvettern gab und der uns also das leistete, was ein Name leisten soll – ein positives Kennzeichen zu sein.[368]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 347-369.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon