Achtzehntes Kapitel

[300] Moritz verließ uns am siebzehnten Juli, am dritten Juli aber war Heinrich Simon zum ersten Male in seinem Leben nach Paris gegangen. Das zog meine Gedanken nach zwei Seiten in die Ferne und ich hatte das nöthig, denn ich muthete mir zu, was über meine Kräfte ging, und hatte davon schwer zu leiden.

Ich schrieb meinem Vetter nach wie vor, ich zwang mich zu einer Ruhe, die zu fühlen ich sehr entfernt war, ich suchte ihn zu zerstreuen, ihn über meinen eigenen Zustand zu täuschen, und weil ich mich immer tiefer in die mir unnatürliche Tugend der Entsagung hineinleben wollte, fing ich auch an, mich mit meinem häuslichen Leben und mit meiner Stellung in der Familie auf den Entsagungston zu halten.

Ich begann meine Kleidung in bescheideneren Farben einzurichten, ich wollte in meiner Erscheinung den Schwestern und den Leuten darthun, daß ich nicht mehr die Ansprüche der Jugend mache, ich beschloß auf das Tanzen zu verzichten, mit einem Worte, ich wollte mich gewöhnen alt zu sein; und da ich, wie mein Vater, schon mit einundzwanzig Jahren hier und da ein graues Haar gehabt, so nahm ich die weißen Fäden, die sich in meinen Locken[300] mehrten, als eine Anmahnung zur Resignation, was mich indessen gar nicht abhielt, sie sorgfältigst zu verbergen.

Den Eltern entging es nicht, welche Wandlung ich mit mir zu machen beabsichtigte. Sie waren davon betroffen. Mein Vater, der von jeher ebenso wie die Mutter großen Werth auf unsere äußere Erscheinung und darum auch auf die Art unserer Kleidung gelegt hatte, machte gegen mich die Bemerkung, daß die matten Farben mich nicht kleideten, daß ich mich in der Toilette nicht vernachlässigen dürfe, daß jedes Frauenzimmer die Pflicht habe, so lange als möglich jung zu erscheinen, und so gut auszusehen, als ihr Aeußeres ihr es irgend gestatte. Ich scheine verstimmt zu sein, aber dagegen müsse man ankämpfen und sich »die Traurigkeit nicht einmariniren, um sie möglichst lange frisch zu erhalten. Es habe Jeder im Leben Dinge, die er von sich abschütteln und vergessen müsse, und je eher man das thue, um so gescheiter sei es.«

Das war nun recht schön und gut, ich sagte mir bisweilen auch dasselbe, und mit ein Bischen andern Worten sagte mir es hier und da auch unser Hausfreund, der treffliche Herr Rath. Es war nur schlimm, daß Keiner von Allen wußte, woran ich mich zerstreuen sollte, und schlimmer noch, daß ich die alte Widerstandskraft nicht mehr besaß. Die langen Jahre voll fortdauernder Gemüthserschütterungen waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Meine Gesundheit hatte sehr gelitten, und ich fühlte mich so abgespannt, so kraftlos und so ohne Schwung, daß ich mich selber nicht erkannte. Ich hätte immer nur die Platen'schen Worte auf mich anwenden[301] mögen: »ich schämte mich der eigenen Gedanken, wenn sie wie Schwalben an der Erde flögen.«

Es war nichts Gemachtes in der Entsagung, die ich an den Tag legte, denn wie alle phantasievollen Menschen hatte ich immer das entschiedene Bedürfniß, mein Innenleben auch äußerlich zur Erscheinung zu bringen. Ich hatte mich der hellen Farben, des Schmuckes, der Blumen, immer mit ganz besonderm Genusse bedient, wenn ich froh gewesen war; nun lastete das Alles auf mir, und die leichten Bänder und Ranken drückten mich wie Blei. Ich legte sie mit Widerwillen an, ich warf sie mit Verachtung von mir, und durch mein ganzes Leben ist mir dies Bedürfniß geblieben, mich im Aeußerlichen und Innerlichen in Harmonie zu erhalten. Es ist das ein Zug zur Demonstration, den man, wie ich glaube, nicht verdammen, sondern vielmehr selbst in Denjenigen nähren und pflegen sollte, denen er nicht angeboren ist; und bei den Deutschen ist er zum Nachtheil ihres öffentlichen, ja ihres politischen Lebens selten genug. Nicht der verschwiegene, sondern der kundgegebene Gedanke, nicht das heimlich genährte, sondern das ausgesprochene Gefühl ist der elektrische Funke, der sich von Mensch zu Mensch entzündend fortpflanzt, bis er die Massen entflammt. Es hat mich oft bedünken wollen, als wäre es für unser deutsches Vaterland ein großes Glück, wenn die Einzelnen das Bedürfniß hätten, ihr Wesen und ihr Wollen in sichtbaren Zeichen zu dokumentiren. Die Italiener, die Ungarn, die Polen, selbst die Engländer, haben diesen Zug in ihrem Charakter, und seine Wirksamkeit in ihrer nationalen Entwicklung hat sich bei den verschiedensten[302] Anlässen und in den verschiedensten Epochen thatsächlich genug bewährt.

Meine ältesten Geschwister zeigten sich nun sehr liebevoll gegen mich. Sie hielten es mir oftmals vor, daß ich eben nur krank sei, daß ich weit mehr Lebenslust besäße, als ich mir in diesem Augenblicke zutraute; und kam ich dann durch irgend einen Zufall mit Personen in Berührung, deren Gespräch mich anzog, die mich nöthigten von mir selber abzugehen, so wurde ich mir auch gleich wieder meiner Kraft bewußt. Mitten aus der Asche der Ermattung, die sich über mich gelagert hatte, zuckte dann plötzlich hell und fest der Vorsatz auf: mich nicht brechen, nicht untergehen zu lassen, mich aufrecht zu erhalten, und mich – – Ich wußte nicht, was ich noch hinzufügen sollte, aber es sollte und mußte, nach meiner Meinung, durchaus noch Etwas aus mir werden. Heinrich sollte sehen, was er an mir aufgegeben hatte, was er an mir hätte besitzen können. Er war und blieb noch immer der Mittelpunkt meiner Gedanken und die bewegende Kraft für all mein Thun.

Etwa vierzehn Tage nach der Abreise unseres jüngern Bruders, es war am zweiten oder dritten August, und wieder an einem heißen Mittage, erscholl in den Straßen mit einem Mal der Ruf: »Feuer auf der Lastadie«, und eingedenk der furchtbaren Zerstörung, welche achtundzwanzig Jahre früher die Stadt durch einen solchen Brand, den sogenannten Vorstädtischen Brand, dessen ich zu Anfang dieser Erinnerungen gedacht, erlitten hatte, erregte dieser Feuerruf ein Entsetzen unter den Einwohnern, denn die Löschanstalten waren noch immer äußerst unzureichend.[303]

Meine Schwestern waren im Hinterzimmer, sie hatten den Feuerruf nicht vernommen, und sahen plötzlich meinen Vater sehr schnell und bleichen Angesichts in die Stube eintreten. »Ruft mir den Otto herunter«, sagte er, »es ist Feuer auf der Lastadie, er soll gleich zu mir kommen! Ich werde alle Schlüssel der Läger und Keller heraufschicken, behaltet sie bei Euch, und laßt die Dienstmädchen nicht fortgehen.«

Das Feuer war in der Nähe eines Speichers ausgebrochen, in welchem sich die großen für den Export bestimmten und daher unversteuerten Rum- und Spiritusvorräthe der Kaufmannschaft unter Verschluß der Zollbehörden befanden. Erfaßte das Feuer diesen Speicher, geriethen diese Läger in Brand, so war das Unheil, welches daraus entstehen konnte, nicht abzusehen; und mit dem schnellen Ueberblick, der meinem Vater in den bedenklichsten Lagen eigen blieb, richtete er sein Augenmerk auf die Verhinderung dieser drohenden Gefahr.

Er ließ seine Läger in der Stadt alle sofort schließen, befahl seinen Handlungsgehülfen und Arbeitern, ihm zu folgen, und unserm Bruder Otto, ihm von dem nächsten Geldwechsler für hundert Thaler Zehnsilbergroschenstücke zu holen und sie ihm nachzubringen. Als er die Brandstätte erreichte, zu der man, weil die Schiffe sich gleich alle aus dem Hafen fortzumachen suchten und eine Ueberfahrt auf einem Boote also nicht ohne großen Zeitaufwand zu bewerkstelligen war, nur auf dem weiteren Wege durch die Straßen gelangen konnte, fand er dort den Brand schon verbreiteter, als er erwartet hatte, und sah den Zollspeicher, ich glaube er lag am sogenannten rothen[304] Krahne, verschlossen und von den Zollbeamten besetzt. Er verlangte, man solle den Speicher öffnen, damit man die feuergefährlichen Spiritusvorräthe fortschaffen könne. Die Zollbeamten verweigerten das. Sie hatten, wie sie sagten, noch keine Instruction dazu, und eigenmächtig oder auch nur mit vernünftiger, und in diesem Falle gebotener Selbstständigkeit zu handeln, fehlte den allein an das Gehorchen gewöhnten Subalternbeamten der Muth. Mein Vater hielt ihnen die Gefahr vor, welcher sie die Stadt aussetzten, indeß sie beharrten bei ihrer Weigerung. Da, rasch entschlossen, rief er einige Zimmerleute herbei: »Schlagt die Thüren ein!« gebot er, »ich übernehme alle Verantwortung und komme für den Schaden auf!« – Und diese Männer, deren Einsicht und Herzhaftigkeit nicht durch blindes Gehorchenmüssen gebrochen waren, welche also so gut wie jeder Andre die Dringlichkeit der von meinem Vater beabsichtigten Handlung begriffen, leisteten ungesäumte Folge. Die Thüren wurden eingeschlagen, mein Vater ließ so viel Arbeiter heranrufen, als man erreichen konnte. »Jeder, der hier aus dem Speicher die Fässer unversehrt nach der Laak (einer vom Feuer entlegenen Straße) hinschaffen hilft, erhält zehn Groschen pro Faß!« rief er ihnen zu, und befahl zugleich dem Böttigermeister, der immer für ihn beschäftigt war, sich mit seinen Gesellen und Collegen längs dem Wege aufzustellen, damit man überall gleich nachhelfen könne, wenn etwa bei dem Rollen der Gefäße hier und da die Bände abspringen sollten. Er hatte damit zugleich eine beständige Aufsicht geschaffen, welche es verhinderte, daß ein zufälliges Abspringen der Bände oder[305] das Platzen eines Fasses Anlaß zum Trinken, und dadurch zur Einstellung der Arbeit und zur Unordnung geben könne.

Auf diese Weise wurde der Speicher rasch und ohne alle weiteren Hindernisse geleert, die Ober-Steuerbehörde that dann auch nachher das Ihre zur Bewachung der geflüchteten Gefäße, indeß der Brand griff doch noch weit genug um sich, und eine ganze Anzahl von Speichern wurde trotz dieser Vorsicht ein Raub der Flammen. Der Rauch und der Qualm waren so stark, daß wir auf dem Lande, fünf viertel Meilen von der Stadt, ihn gegen den Abend plötzlich beim Athmen empfanden, und als man in die obere Etage hinaufging, nachzusehen, ob vielleicht irgendwo in der Nähe Feuer sei, brachten uns die heimkehrenden Landleute grade die Nachricht auf das Dorf hinaus, daß die Lastadie in Flammen stehe.

Während wir noch überlegten, ob wir zu den Unsern in die Stadt hineinfahren sollten, langte auch schon ein Bote meines Vaters, der niemals Etwas vergaß, was der Mutter Aufregung ersparen, oder eine Beruhigung bereiten konnte, bei uns an. Er meldete, daß ein Feuer ausgebrochen, daß man seiner Herr zu werden begonnen, daß die Gefahr anscheinend vorüber sei, und der Vater und die Geschwister sich wohl befänden. – Indeß trotz dieser guten Kunde ließ es der Mutter und uns nicht Ruhe in der kühlen Stille unsers Dorfes, da wir den Vater in Mitten solcher Bedrängniß wußten. Die Mutter ließ den Wagen anspannen, und wir fuhren in die Stadt.

Es mochte sieben oder halb acht Uhr Abends sein, als wir vor unserm Hause anlangten. Rauch und Qualm[306] lagen über unserer ganzen Straße, die nur durch den an dieser Stelle gar nicht breiten Pregel von der Brandstätte getrennt war. Die Verwirrung, die Aufregung waren noch in dem ganzen Stadttheil sichtbar. Einzelne Straßen waren noch gesperrt, auf der Lastadie Alles noch in voller Gluth. Man fühlte sie in weiter Entfernung. In unserm Hinterhause waren von der Hitze die Scheiben geplatzt.

Der Vater war eben erst nach Hause gekommen, er war mehr als acht Stunden nicht von der Brandstätte gewichen. Er saß auf dem Wolme, seine Kleider sahen unkenntlich aus, ihm selbst konnte man die Ermüdung, die Erschöpfung an jedem Zuge ablesen; aber kaum sah er den Wagen vor der Thüre halten, als er heiter die Treppe hinunter kam, der Mutter herauszuhelfen, und sie und uns zu begrüßen. Ich umarmte ihn, und als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, fühlte ich, daß seine Kleidung völlig naß war. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und bat ihn, sich umzukleiden. Er lachte. »Das haben mir schon die andern Marjellen (ein in Preußen üblicher lithauischer Ausdruck für Mädchen) auch gesagt, nun kommst Du noch dazu von Neuhausen herein. Laßt's gut sein, es geht heute in Einem hin; ich will Nichts als sitzen, denn gegessen und getrunken habe ich eben, und das ordentlich!« – Er war dabei freundlich, und als ob gar Nichts vorgefallen wäre, immer derselbe, immer für Andere sorgend, und ohne Ansprüche für sich selbst. Er erwähnte kaum, daß und wie schwer er gearbeitet, er sprach gar nicht davon, wie entschlossen er gehandelt und was er damit geleistet; und doch hatte er[307] allein an jenem Tage, nach meiner festen Ueberzeugung, unsere Vaterstadt vor einem unübersehbaren Unglück bewahrt.

Bald nach dem Brande zog ich zu meinem Vater in die Stadt, und meine beiden Schwestern, welche ihm bis dahin hausgehalten, gingen zur Mutter auf das Land hinaus. Ich hatte nicht viel zu thun, weil außer dem Vater und dem Bruder sich nur die vier Commis im Hause befanden. Die Männer waren sämmtlich den ganzen Tag beschäftigt, ich war also viel allein, und die Ruhe in den wohleingerichteten Zimmern, die Stille um mich her, waren mir sehr angenehm. Hatte ich am Morgen meine Wirthschaft versorgt, so gehörte mir, wenn ich im Laufe des Tages die Vorrichtungen für die einzelnen Mahlzeiten getroffen hatte, die ganze übrige Zeit; und waren dann bei dem schönen warmen Wetter die Markisen vor den Fenstern herabgelassen, und frische Blumen auf die Tische gestellt, so konnte ich mit dem größten Genusse in den kühlen dämmrigen Stuben vollkommen müssig sitzen, und mich umsehen, und mich daran freuen, daß es so hübsch bei uns sei. Die Fähigkeit zu diesem ganz gedankenlosen Ausruhen war damals ein wahres Heilmittel für mich, und bewährt sich mir, wenn ich einmal viel gearbeitet, viel gedacht, viel zu leisten gehabt habe, noch heute als ein solches. Ich mache dann wie die Türken, ohne daß ich es suche, recht eigentlich meinen »Keff«. Ich sehe einen Baum an, oder die Wolken, oder eine Katze auf dem Nachbardach, oder ein Bild, eine Statuette in meinem Zimmer, die ich bis in ihre kleinsten Züge kenne; und ich denke dabei gar Nichts. Ich genieße es nur, daß ich gut sitze, daß mein Kopf,[308] meine Arme, meine Füße bequem ruhen, ich fühle mich behaglich, und würde Stunden hindurch dasselbe thun können, wenn man mich nicht störte. Ich bin dann wie das Blatt Papier, auf das die Sonne die Bilder photographirt, ganz passiv, und oft kommen mir erst nach Monaten, ja nach Jahren die Eindrücke zum Bewußtsein, die ich in solchem dämmernden Ausruhen, ohne es zu wissen, in mich aufgenommen habe. Giebt es irgendwo jenen Aufenthalt der Seligen, dessen die Gläubigen sich getrösten, so werden sie dort wahrscheinlich eben so dasitzen und in alle Ewigkeit Nichts thun als sich behaglich fühlen, und sich mit sanfter Ruhe über irgend einen Anblick freuen.

Auf Erden aber hält dieses unvergleichliche Wohlbefinden nicht immer vor, und es gab Stunden, in denen ich nicht recht wußte, was ich thun sollte. Ich las sehr viel, schrieb mir aus langer Weile die Namen der Bücher und mein Urtheil über sie auf, das machte mir jedoch kein großes Vergnügen. Ich wußte ja, was ich von den Sachen hielt; es einem Andern vorzulesen, fiel mir nicht ein, das Schreiben dünkte mich also etwas Unfruchtbares, und ich gab es wieder auf. Dann fing ich einmal an, etliche Gedichte von Beranger und von Byron zu übersetzen, indeß sie waren ja auch ohne mich in guten Uebersetzungen vorhanden, meine Verse waren mir obenein nicht rein und glatt genug, und auch damit hatte es ein Ende.

Endlich an einem Sonntag-Nachmittage war ich ganz einsam in der Stadt. Der Vater und der Bruder waren, wie das bisweilen geschah, mit dem Neuhäuser Milchpächter[309] am Morgen zur Mutter gefahren, Rath Crelinger, der mir sonst oftmals Gesellschaft leistete, war zu einem Diner geladen, die Commis hatten sich ihren freien Sonntag zu Nutze gemacht, ich und das Dienstmädchen blieben in dem großen Hause also ganz allein, und es herrschte die vollkommenste Stille in demselben. Ich hatte lange gelesen, war dessen müde und blieb nun eine Weile sitzen, bis mir einfiel, ich könne wohl einmal an Heinrich schreiben. Ich stand auf, ging an meinen Schreibtisch, als ich aber die Feder in die Hand nahm, gab ich meinen Vorsatz wieder auf. Ich wollte ja zur Ruhe kommen, und wie konnte ich das, wenn ich seiner dachte, wenn ich zu ihm sprach?

»Draußen fiel der Regen mit langsamer Einförmigkeit vom Himmel hernieder. Der ganze Horizont war von bleichgrauen Wolken überzogen, kein Luftzug rührte sich, kein Lichtstrahl ließ sich blicken, und das lähmende Gefühl, das nervös reizbare Menschen bei warmer und feuchter Luft oft plötzlich überfällt, lastete schwer auf mir.«

Diese Situation, die ich damals nach der Natur schilderte, weil mir mit einem Male der Gedanke durch den Kopf schoß, ich müsse eine Erzählung schreiben, kopire ich in diesem Augenblicke aus dem Buche, in welchem ich sie damals verzeichnete. Es folgte ihr die Charakterisirung einer gewissen Mathilde, die natürlich Niemand anders, als ich selbst war, und ich hatte es auf etwa drittehalb Octavseiten gebracht, als unser Hausgenosse von seiner Mittagsgesellschaft heimkehrte, sich mit seiner Cigarre zu mir setzte, mir Bruchstücke aus Shakespeare's Heinrich[310] dem Sechsten vorlas, und danach den Rest des Abends mit mir verplauderte.

Nach mehreren Tagen, als ich das Buch wieder in die Hand nahm, schämte ich mich jenes Dichtungsversuches. Ich kam mir recht eigentlich »albern« damit vor. Ich kannte das Beste unserer eigenen und der englischen und französischen Literatur, und weil ich es sehr zu würdigen verstand, hatte ich eine tiefe Geringschätzung gegen das Mittelmäßige und Unbedeutende. Mir irgend ein über die Mittelmäßigkeit hinausgehendes Talent zuzutrauen, fiel mir gar nicht ein, und schlechte Schriftstellerinnen waren mir immer ein Gegenstand des Spottes, ihre Werke unlesbar gewesen. Aus langer Weile und Herzensleere Romane zu schreiben, schien mir obenein unwürdig; und mit meinem tiefsten Empfinden, mit meinem geheimsten Denken einfältige Frauenzimmer und schläfrige Kammerjungfern zu unterhalten, wie ich es mir damals nannte, kam ich mir zu gut vor. Ich dachte von der Dichtkunst sehr hoch, von der Masse des Publikums sehr gering; von mir als Talent hielt ich gar Nichts, von mir als meines Vaters Tochter und als Charakter um so mehr, und so zog ich denn durch die drei componirten Seiten drei dicke, ehrlich gemeinte Rothstift-Striche, und die begonnene Erzählung und das, wie ich glaubte, aus bloßer langer Weile entstandene literarische Gelüsten waren damit bescheidentlich wieder einmal für lange Zeiten abgethan.

Es gab auch in den nächsten Wochen Anderes für mich zu denken, denn unserm armen Moritz traten gleich beim Beginne seiner neuen Laufbahn unerwartete Hindernisse[311] in den Weg. Alle Erkundigungen, welche man vor seinem Abgange nach Rußland, bei den dortigen Behörden und von Privatpersonen über die Verhältnisse der Aerzte in Rußland eingezogen, hatten gleichstimmig dahin gelautet, daß die Bescheinigung des in Preußen wohlbestandenen medizinischen Staatsexamens zur Ausübung der ärztlichen Praxis in Rußland hinreichend sei. Kaum aber war Moritz in Wilna angelangt, als ein neues Gesetz ausgegeben wurde, welches alle von dem Auslande kommenden, und auch die bereits promovirten Aerzte, zu einem neuen Examen in Rußland verpflichtete, das eben so wie die preußische Prüfung in verschiedene praktische Sectionen zerfiel, und somit einen Zeitraum von mehreren Monaten hinnahm. Das war eine sehr lästige Sache, um so mehr, als das Examen eigentlich in russischer Sprache gemacht werden mußte, deren Moritz nicht mächtig war, und er hatte es endlich noch als eine Vergünstigung zu betrachten, als ihm, je nach dem Vermögen der verschiedenen Professoren, der Gebrauch des Lateinischen oder Deutschen für sein Examen zugestanden wurde.

Er nahm diese Verzögerung wie er mußte, aber schon in den ersten Wochen seines Aufenthaltes in Wilna gewann er die Ueberzeugung, daß an tüchtigen Aerzten dort gar kein Mangel, daß die Vorliebe für Deutsche, von welcher die Geschäftsfreunde meines Vaters gemeldet hatten, keineswegs vorhanden sei, und daß sich ihm dort nicht schneller eine Praxis eröffnen dürfte, als es in der Heimath der Fall gewesen sein würde. Es war also mit seiner Uebersiedlung nach Rußland im Grunde eine ganz[312] falsche Spekulation gemacht worden, sofern man nicht den ersten ursprünglichen Plan festhielt, der sich auf die großen Hauptstädte oder auf den Süden bezogen hatte, und man stand nun auf demselben Punkte wie zuvor. Man hatte eine zweite Entscheidung zu treffen, und hatte nicht wohl die Möglichkeit den Sohn zurückkommen zu lassen, ohne ihn zu compromittiren und seine Aussichten in Preußen durch seine schnelle Rückkehr aus der Fremde völlig ungewiß zu machen.

Während man im Beginn des Herbstes noch allseitig mit dieser Angelegenheit beschäftigt war, kam mein Vater eines Abends, mit einem Journal in der Hand, von der Börsenhalle, der Ressource der Kaufmannschaft, in welcher er nach dem Schluß des Comptoirs eine Stunde die Zeitungen zu lesen pflegte, nach Hause. Er legte das Blatt, ein Heft der Europa, welche damals sein Cousin August Lewald redigirte, vor mir nieder und sagte: »Wenn ich nicht wüßte, daß Du sehr lange dem August nicht geschrieben hast, würde ich behaupten, dieser ganze Artikel sei von Dir.«

Ich nahm das Heft und erkannte in der angezeigten Stelle augenblicklich ein Stück aus einem Briefe, den ich mehrere Monate vorher meinem Vetter geschrieben, und in welchem ich ihm auf seinen Wunsch, Auskunft über den Stand des Muckerprozesses und über die Schwärmerei der Sekte gegeben hatte. Der Vater fand, daß der Bericht gut geschrieben sei. Er machte die Bemerkung, daß er sich, nun er wisse, wie Lewald meine Briefe benutze, Manches erklären könne, was ihm in der Europa hier und da auffallend gewesen sei, und da wir keine Journale[313] im Hause hielten, sah und erfuhr ich nicht, was Lewald früher etwa aus meinen Briefen für seine Correspondenz-Artikel benutzt hatte. Ich fragte ihn deßhalb auch nicht weiter an, denn unser Briefwechsel war überhaupt nicht durch irgendwelche schöngeistige Idee, sondern durch die Vorsorge für seine alte Mutter eingeleitet und fortgeführt worden.

Diese alte Tante Lewald war eine durchaus originelle Person. Sie stammte aus einer angesehenen und durch ihre große Bildung ausgezeichneten Kopenhagener Judenfamilie, mit Namen Eichel. Ihr Bruder war ein Freund von Moses Mendelsohn gewesen und hatte, wie ich glaube, die Psalmen oder irgend welche andere Theile des alten Testamentes vortrefflich in das Deutsche übersetzt. Sie selbst war sehr jung an einen Halbbruder meines Großvaters verheirathet worden, und muß nach einem Bilde, das sie als Braut, im weißen Brokatkleide mit einer Menge von rosa Schleifen, das braune Haar hoch auffrisirt, und mit obligaten Schönpflästerchen an Schläfe und Wange, darstellte, trotz ihrer auffallend kleinen Gestalt, eine gar hübsche Person gewesen sein. Noch in ihrem späten Alter hatte sie sehr feine Züge, einen wunderschönen Mund, eine feingebogne Nase und kluge hellbraune Augen von lebhaftem und schnell wechselndem Ausdruck. Ihre Erziehung war offenbar sehr sorgfältig gewesen, und sie hatte ihre Kindheit und Jugend in reichlichen und angesehenen Verhältnissen zugebracht, denen leider ihre Lage nach ihrer Verheirathung in Königsberg nicht entsprach. Sie verlor ihren Mann sehr früh und blieb ohne Vermögen mit ihren Kindern[314] zurück. Einige davon starben in der Kindheit, eine erwachsene sehr schöne Tochter war im Jahre achtzehnhundert vierzehn der Schwindsucht erlegen, und meine ersten Erinnerungen an die Tante reichen nahe an diese Zeit zurück. Ihr einziger Sohn war damals schon seit etlichen Jahren von Königsberg entfernt, und sie lebte mit der letzten ihr übrig gebliebenen Tochter, die, ebenso wie die ältere Schwester, schwindsüchtig war, in einer engen, äußerst saubern Wohnung, in welcher einige altmodische Möbel, ein Paar chinesische Porzellanvasen und ein Potpourri, der sehr stark duftete, und auf dessen Deckel sich eine rothe Rose befand, während der Topf an der Vorderseite eine Namenschiffre von Vergißmeinnicht zeigte, für mich etwas Bezauberndes hatten. Dazu hingen einige Oelgemälde in den Stuben, die einzigen, welche ich damals zu sehen bekam. Es waren, das Portrait der Tante abgerechnet, lauter Arbeiten ihres Sohnes August. Eine hübsche Copie nach der Rafael'schen jardinière, eine schöne Landschaft nach Claude Lorrain und noch einige andere Landschaftsbilder; und wie diese mich fesselten, so liebte ich auch die brustkranke Cousine Adelheid, welche eine treffliche Clavierspielerin war, und mit ihrer weißen Stirne und den braunen Haaren so besonders aussah.

Meine Eltern hielten Beide große Stücke auf Adelheid. Sie wurde mir immer als ein Muster von Güte und Geduld vorgestellt, denn sie hatte bei ihrer kleinen, sehr excentrischen Mutter ein recht schweres Leben, und war doch, wenn sie zu uns kam, um meinem Bruder Musikunterricht zu geben, oder Sonntags mit uns zu essen,[315] immer heiter. Manchmal hörte ich, daß sie meiner Mutter vertraute, wie sie wieder sehr heftig Blut gehustet, es aber zu Hause verheimlicht habe, und wenn ihr darüber abmahnende Vorstellungen gemacht wurden, so sagte sie: »Es hilft mir ja doch nicht! ich werde ebenso sterben wie Johanne!«

Meine Mutter that für Adelheid's Pflege, was in ihren Kräften stand. Ich mußte oft Bouillon-Gelee's und Fruchtsaft und ähnliche Erfrischungen zu ihr tragen, wenn sie krank war, aber was mir die Cousine besonders anziehend machte, war mein Glaube, daß Adelheid meinen ebenfalls brustkranken Musiklehrer, den im Beginne dieser Erinnerungen erwähnten schönen Gustav Wiebe, den Freund ihres Bruders, geliebt habe. Ob zu dieser Annahme irgend ein Grund vorhanden war, weiß ich nicht, indeß der Instinkt aufmerksamer Kinder pflegt sich in solchen Voraussetzungen selten zu irren, und die kranke Cousine erschien mir dadurch in einem noch poetischeren Lichte.

Aber das war noch lange nicht Alles. Tante Lewald wohnte in jener Zeit nahe an der Schloßbrücke, in dem Instrumentenmacher Weber'schen Hause, in welchem, weil es unfern vom Theater lag, auch eine Schauspielerfamilie wohnte. Diese Familie und noch einige andere Schauspieler, mit denen August Lewald bekannt gewesen war, kamen zuweilen zur Tante zum Besuch. Und Schauspieler zu sehen und sprechen zu hören, mich mit Agathe Lanz, die ich als Aschenbrödel, als Fanchon angestaunt, in demselben Zimmer zu befinden, machte mir das größte Vergnügen. Es wurde jedoch noch unendlich gesteigert, wenn die Tante gelegentlich eines solchen Besuches mit[316] ihren geheimen Schätzen hervorrückte, die in nichts Geringerm, als in den Resten einer Maskengarderobe bestanden.

Die Tante hatte nämlich die geschicktesten Hände von der Welt. Das Wort: »was die Augen sahen, konnten die Hände machen« fand auf sie seine volle Anwendung; und da sie eine Frau von Ehrgefühl war, hatte sie nach dem Tode ihres Mannes jedes Mittel ergriffen, sich und ihre Kinder anständig durchzubringen, ohne ihren Verwandten lästig zu fallen. Sie hatte Pensionäre gehalten, Zimmer vermiethet, aus feinem Leder, welches man ihr aus Dänemark sendete, eine Art sehr gesuchter Handschuhe fabrizirt, Blonden gewaschen, und endlich, da sie neben ihren geschickten Händen auch viel Phantasie besaß, auf Bestellung, für die damals sehr üblichen Maskeraden die Costüme angefertigt. Einzelne Stücke davon waren in ihrem Besitz geblieben, und in einem großen Turban, der mir auf dem Kopfe wackelte, mit einem gelben Atlasschurz und blechernem Dolche als Mohrenkönig in der kleinen Stube umherzugehen, oder im rosa Domino und Federbarett auf dem Stuhle am Ofen zu sitzen, und dazu das Bild der belle jardinière und die schöne waldige Landschaft anzusehen, auf welcher einige Götter und Göttinnen sich im Vordergrunde bewegten, war mir als Kind ein ganz entzückender Genuß gewesen.

Später, als ich schon größer geworden, nahm die Poesie, welche sich für mich an diese Wohnung knüpfte, eine andere und positivere Gestalt an. Adelheid ließ mich bisweilen in ihren Papieren kramen. Da gab es Stammbücher der Tante und des Bruders und Johannens,[317] Zeichnungen, getrocknete Blumen, mancherlei Verse, und endlich verschiedene Hefte von geschriebenen Erzählungen, welche theils von der verstorbenen Johanne, theils von Adelheid verfaßt waren. Ich wurde nicht müde, sie immer wieder zu lesen, und fand sie unvergleichlich schöner, als alles Gedruckte, was ich kannte. Aber ich durfte davon gegen Niemand, auch gegen meine Eltern und gegen Adelheid's Mutter nicht sprechen. Wenn ich sie gelesen hatte, wickelte Adelheid wieder den rothseidenen Faden um die Papierrolle, und sie verschwanden in dem kleinen Nähtisch, der mir dadurch eben so geheimnißvoll und heilig däuchte, wie das kleine Marmortischchen auf der Servante meiner Mutter mir in meiner ersten Kindheit erschienen war.

Adelheid hatte ihr Schicksal nur zu richtig vorausgesehen. Sie starb wie ihre Schwester früh. Die Mutter blieb nun ganz einsam zurück, und fing selber mehr und mehr zu kränkeln an. Sie hatte schon früher oft an Gicht gelitten, jetzt wurde sie fast beständig davon geplagt. Ihre arbeitsamen Hände bekamen dicke Knollen; sie konnte nicht mehr nähen, und wie sie dadurch hülflos, und auf die Unterstützung meines Vaters und ihres Sohnes angewiesen wurde, so nahmen ihr Unglücksgefühl und mit diesem ihre Reizbarkeit und ihre Empfindlichkeit von Jahr zu Jahr in stetem Wachsen zu.

Meine Mutter und meines Vaters Schwestern hatten viel Noth und noch mehr Geduld mit ihr. Man hatte sie, um sie besser versorgen zu können, dahin überredet, daß sie in den Kneiphof zog, wo wir und die Tanten wohnten. Die Frauen besuchten sie oft und besorgten[318] auch ihre Kost; indeß das Brod der Wohlthätigkeit bleibt immer ein bittres, und was man auch mit dem besten Sinne für sie that, sie zweifelte beständig an dem guten Willen, den man für sie hegte, und war mit Niemandem zufrieden, außer mit meinem Vater, der ihr neben seiner Güte auch zu imponiren wußte. Manchmal war man ärgerlich über sie, manchmal mußte man lachen. Es war nichts Seltenes, daß sie eine der Frauen plötzlich mit dringender Bitte, gleich zu kommen, zu sich bescheiden ließ, blos um ihr zu sagen: die Suppe, welche sie ihr geschickt, sei zu gesalzen für ihren gestrigen Zustand gewesen. Dann wieder ließ sie einmal meine Mutter holen, um ihr einen nöthigen Vorschlag zu machen, der in nichts Anderem bestand, als daß wir erwachsenen Kinder, den von einer Reise heimkehrenden Vater auf der Post mit einem Liede empfangen sollten, das sie gedichtet, und zu dem sie auch die Melodie ausgesucht hatte. Und sie weinte und schalt dann vor Herzenskränkung, als die Mutter ihr die Unstatthaftigkeit ihres Vorschlages nachwies, und ihr damit, wie die alte Frau es nannte, die Gelegenheit raubte, sich dankbar zu beweisen.

Sie war höchst beklagenswerth, denn sie hatte von den Fehlern ihrer guten Eigenschaften, von ihrer Phantasie und ihrer Lebhaftigkeit reichlich so viel zu leiden, als sie den Andern dadurch zu ertragen gab. Es war schwer mit ihr zu leben!

Da mein Vater unmöglich die Zeit hatte, ihr die Briefe an ihren Sohn, wie sie es wünschte, zu schreiben, so war mir allmählig dieses Amt zuerkannt worden, und ich war im Auftrage der alten Tante und meines Vaters[319] in eine Correspondenz mit unserm Vetter August Lewald gerathen, den ich persönlich gar nicht kannte; denn er hatte Königsberg bereits verlassen, als ich zwei oder drei Jahre alt gewesen war. Natürlich drehte dieser Briefwechsel sich immer um dasselbe Thema, und da mir dies allmählig kein Vergnügen machte, da ich auch obendrein sehr gern schrieb und Lewald von seiner Vaterstadt gern erzählen hörte, so hatte ich mich gewöhnt, ihm neben der Auskunft über das Ergehen seiner Mutter auch Nachricht über die in Königsberg vorkommenden Ereignisse zu geben; und einmal an diesen Zusammenhang gewöhnt, wurde er auch nach dem Tode der alten Tante aufrecht erhalten, der, wie ich meine, im Jahre achtunddreißig erfolgt sein muß.

Ich hatte nach demselben auf Anordnung meines Vaters ihre Papiere durchgesehen, und dem Sohne, während ich ihm von den letzten Tagen seiner Mutter berichtete, die Bilder, Briefschaften und Skripturen aus ihrem Nachlasse gesendet. Sie bezogen sich zum Theil auf seine Jugend, und ich hatte damit einen Einblick in sein und seiner Jugendgenossen Leben und Treiben gewonnen, das ihn mir noch anziehender machte, als die Schilderungen, die ich in seiner und meiner Familie von ihm vernommen. Er hatte dann allmählig auch seinerseits ein Interesse und eine Zuneigung und Freundschaft für mich gefaßt, die mir bald sehr zu Statten kommen, und maßgebend und entscheidend für mein ganzes Leben werden sollte.

Wenn ich mich an diese Einzelnheiten und Anfänge erinnere, fällt mir oft der Ausspruch von George Sand[320] ein. Er lautet: »La vie ressemble plus souvent à un roman, qu'un roman ne ressemble à la vie!« Daran liegt aber nichts Auffallendes. Die Gewalt der Ereignisse und ihre zwingende, nothwendige Folgerichtigkeit, sind stärker und mächtiger, als es oftmals die Vernunft der Dichter ist, und wer den Lebensweg eines Menschen in seinen Einzelnheiten und diese in ihrem Zusammenhange betrachtet, wird, je nach seiner Anschauungsweise, an das Walten einer göttlichen Vorsehung, an eine Nemesis oder an das folgerechte Auf- und Ineinanderwirken der Charaktere und der Zustände, in welchen sie sich bewegen, glauben müssen.

Alles, was mir begegnete, was ich that und thun mußte, war immer halb Nothwendigkeit, halb Freiheit, oder wenn man so sagen kann, Freiheit in der Nothwendigkeit. Die Ereignisse, die Personen, traten ohne mein Zuthun an mich heran, nur das Erfassen war freie Wahl aus innerer Nothwendigkeit. Das Erleiden drängte mich zum Handeln, mein Thun wurde mir dabei zum Leide; und ganz unmerklich wurde ich durch die natürlichsten Vorgänge innerhalb des Familienlebens, darauf hingeleitet, mir der Kraft bewußt zu werden, welche in mir schlummerte, während eben so natürliche Verhältnisse mich abhielten, auf ihren Gebrauch zu verfallen, ehe eigenes Denken und Beobachten, Erleben und Erleiden, mir ein selbstständiges Material zur Verarbeitung, und ein, bis zu einem gewissen Grade, selbstständiges Wesen erschaffen hatten.

Es ging mir damals lange und lebhaft im Kopfe herum, als ich durch jene Europa-Artikel die Bemerkung[321] machte, daß August Lewald, dessen eleganter Styl, dessen gewandte Darstellung uns oft große Freude gewährt hatten, und dessen Erfahrung in literarischen Dingen unzweifelhaft war, meine sorg- und absichtslos geschriebenen Briefe für den Druck geeignet fand. Meine Worte und Gedanken sahen mich auf dem weißen Papier mit den schönen schwarzen Lettern, und in Gesellschaft mancher bekannten Schriftstellernamen, fremd und vornehm an. Es war mir, als befände ich mich plötzlich in kostbarer, mich verschönender Kleidung in einem prächtigen Saale, von verehrten Menschen gütevoll empfangen. Es that mir äußerst wohl. Aber wie ich es mir damals noch keineswegs beikommen ließ, mich für ein Talent zu halten, so hatte ich noch viel weniger den Muth, meinen Vetter anzufragen, ob er mir ein solches etwa zutrauen würde.

Indeß meinen Eltern mochte sich doch wohl durch diesen und mancherlei andere kleine Vorgänge die Idee aufdrängen, daß in mir ein Etwas vorhanden wäre, welches der Ausbildung werth, und daß ich eine Natur sei, der man vielleicht mehr Raum für ihre Entwicklung gönnen müsse. Gesund war ich nicht, heiter und zufrieden auch nicht, und meine Unzufriedenheit, die ihre Ursache nur in geistigen Motiven hatte, ließ sich durch äußere Gewährungen nicht beschwichtigen. Je friedlicher sich im Allgemeinen das Familienleben gab, wenn die Mutter nur leidlich wohl war, um so unbehaglicher mußte Allen der Gedanke sein, in dem Kreise einer so harmonischen Familie ein Mitglied zu zählen, das sich nicht mehr mit demselben in dem rechten und vollen Einklange befand, und es nicht über sich gewinnen konnte, dasjenige[322] aufzugeben, was sich nicht in den Sinn der Gesammtheit einfügen ließ. Das Axiom von meiner Kälte und Gemüthlosigkeit, von meinen freien Ideen und von meiner Unweiblichkeit, war allen Frauen des Hauses, von meiner Mutter bis hinab zu den jüngsten Schwestern wundervoll geläufig, und wenn sämmtliche Schwestern sich auch zutrauensvoll und von meinem guten Willen für sie zweifellos überzeugt, an mich wendeten, sobald Etwas sie bedrückte oder betrübte, so konnte es doch unter den obwaltenden Verhältnissen gar nicht fehlen, daß sie Alle mich für extravagant und sich im gewissen Sinne für besser als mich halten mußten, besonders da meine Art zu fühlen und zu sein mich nicht glücklich, sondern unglücklich gemacht hatte. Wo man also damals von meiner Herrschsucht zu leiden glaubte, hatte ich mich in Wahrheit immer nur in meinem Rechte und in meiner Eigenthümlichkeit zu vertheidigen und zu behaupten. Wo man im Stillen über die Nachsicht und die Vorliebe klagte, welche mein Vater mir angedeihen ließ, that ich das Meinige, um mir durch die größte Nachgiebigkeit und Unterordnung den Schatz, den Rettungsanker zu erhalten, den ich in der Liebe meines Vaters besaß. Und ich glaube, wenn auch die nächsten Freunde es wußten, daß ich nicht glücklich sei, so hatte doch sicher Niemand eine Ahnung davon, wie nicht meine unerwiderte Liebe für meinen Cousin allein, sondern die innersten Elemente unseres Familienlebens mich unglücklich machten. Wir litten Alle, ich direkt und die Meinen indirekt, von der falschen auch jetzt noch herrschenden Sitte, welche die Töchter der Mittelstände über die Jahre[323] der Kindheit und Jugend hinaus zum nutzlosen Hinleben in den Banden der Familie verdammt, auch wenn sie denselben lange entwachsen und in jedem Betrachte für ein selbstständiges Leben und Walten reif geworden sind. Als bezahlte Vorsteherin eines fremden Haushalts und einer fremden Familie würde ich sehr nützlich gewesen, würde ich zur Ruhe gekommen, und bei meinen etwaigen Besuchen im Vaterhause glücklich und geliebt worden sein, wie ich es ersehnte und wie ich es verdiente. Als die Aelteste von sechs erwachsenen und zu versorgenden Töchtern war ich für den ganzen Organismus der Familie überflüssig und unnütz wie das fünfte Rad am Wagen, und obenein hinderlich wie ein solches fünftes Rad, weil ich für mich eigene und unabhängige Bewegungen machen wollte und machen mußte, um mich zu erhalten.

Dennoch begehrte ich meine Entfernung nicht, und konnte sie auch aus den vielfach angeführten Gründen nicht begehren, hätte ich mich sogar überwinden können, es dem Vater einzugestehen, daß ich nicht mehr glücklich in seiner Nähe sei. Für eine Dienstbarkeit hätte ich die Erlaubniß nie erhalten, und an einen andern Aufenthalt außer dem Hause zu denken, war für mich schon darum ganz unmöglich, weil er Kosten verursachen mußte, die ich meinem Vater um so weniger zumuthen durfte, als Moritz in Wilna noch zu unterhalten war.

Es dünkte mich deßhalb eine wahre Wohlthat, als meine Eltern mir die Möglichkeit in Aussicht stellten, meinen Vater abermals auf einer Reise zu begleiten. Er war seit der ersten Reise, auf welcher er mich mit sich genommen, mehrmals in Deutschland und über dessen[324] Grenzen hinaus gewesen, und im Herbste von neununddreißig wieder zu einer Reise genöthigt. An diese Reise nun knüpfte sich sein Plan, mich bis Berlin mit sich zu nehmen und mich, wenn es zu machen wäre, den Winter dort zubringen zu lassen. Außer dem guten Willen für mich, wirkte ohne Frage der Hinblick auf meine Schwestern bestimmend auf diesen seinen Entschluß ein. Die Schwestern konnten mehr zur Geltung und zur freiern Ausbildung ihrer Eigenthümlichkeiten gelangen, wenn nicht eine älteste Tochter von so bestimmter Richtung auf ihnen lastete: das fühlten Alle, und das war auch ganz richtig. Man muß ja auch im Walde durch das Fällen der alten Bäume Raum für das Gedeihen des Nachwuchses zu schaffen suchen.

Da ich nun große Neigung hatte, für eine Weile fortzukommen, und in jenem Augenblicke Niemand ein Interesse daran, mich zu halten, so wurden die Einrichtungen für meine Abreise bald gemacht. Und nach einem Zeitraum von mehr als sieben Jahren verließ ich denn, unter dem Schutze meines Vaters, zum zweiten Male die Vaterstadt und das Vaterhaus; aber nicht wie das erste Mal eine, trotz ihrer Schmerzen sehr glückliche Jugend, sondern eine Reihe bittrer Leidensjahre hinter mir zurücklassend, und weit, sehr weit entfernt von allen jenen goldenen Hoffnungen und Erwartungen, welche mich einst bei jenem ersten Eintritte in die Welt so fröhlich umgaukelt hatten.[325]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 300-326.
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