XVI

[152] Der Morgen war regnerisch und kalt. Alfred blieb mit Felix in seinem Zimmer, wo sie allein das Frühstück eingenommen hatten. Das Kind war schlaftrunken und fröstelte. Als Alles zur Abreise bereit war, ging er mit ihm zu Caroline.

Schon? rief diese erbleichend, als sie bei ihr eintraten.

Alfred, eben so erschüttert und bleich als sie, entgegnete: Ich wünsche zeitig nach Worben zu kommen. Sage der Mutter Adieu, Felix.

Der Knabe that es mit gänzlicher Unbefangenheit. Er reichte der Mutter die Hand und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. Da rang sich ein Schrei des Schmerzes aus ihrer Brust, vor dem Alfred erzitterte; es war einer jener Naturlaute, die der Wilde mit dem civilisirtesten Menschen gemein hat. Sie preßte den Knaben an sich, als ob sie ihn für ewig halten wollte, und ihre glühenden Thränen flossen auf ihn herab.

Auch Alfred's Augen schwammen in Thränen, aber er ermannte sich, sagte leise: komm, mein Sohn! und schritt mit ihm davon.

Caroline stürzte ihnen nach, kniete neben Felix nieder, prüfte, ob sein Anzug warm und fest sitze, zog ihm den Kragen des Mantels in die Höhe und knüpfte diesen mit einem Tuche fest, das sie sich vom Halse nahm. Alfred's Herz blutete ihm in der Brust.

Mit abgewendetem Gesicht reichte er seiner Frau die Hand:[152] Wie meinen Augapfel werde ich ihn behüten! sagte er mit dem Tone, mit dem man einen heiligen Eid schwört. Sie hielt seine Hand fest, drückte einen Kuß darauf und rief: Lehre ihn nicht, mich zu hassen.

Da sei Gott vor! entgegnete Alfred und ging schnell mit Felix hinaus, der, vor Ueberraschung sprachlos, Alles mit sich geschehen ließ.

Mit gerungenen Händen sank Caroline auf das Sopha; dann eilte sie zum Fenster und blickte dem fortrollenden Wagen nach, so lange ihre Blicke ihn erreichen konnten.[153]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 10, Berlin 1872, S. 152-155.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Eine Lebensfrage
Eine Lebensfrage (1); Roman
Eine Lebensfrage (2 ); Roman