XVIII

[316] Langsam und drückend schwer gingen die Tage an Therese vorüber. Sie hatte gleich nach des Bruders Erkranken ihre Pflegetochter von sich entfernen, sie zu Frau von Barnfeld schicken wollen, aber Agnes hatte es mit Bestimmtheit verweigert, sich von ihr zu trennen. Sie erklärte, daß Nichts sie vermögen würde, die Freundin, der sie so viel frohe Stunden verdanke, der sie von Herzen ergeben sei, zu verlassen, nun da diese in Angst und Sorgen sei, und Therese hatte sich in ihre Ansicht gefügt.

Mit verständiger Thätigkeit und großem Geschick übernahm Agnes alle häuslichen Geschäfte, die sonst der ältern Freundin oblagen. Sie sorgte für Alles, wußte für Alles Rath, was Julian irgend bedürfen konnte, so daß Therese sich mit ruhiger Zuversicht ausschließlich der Pflege des Bruders widmen durfte. Dabei schien das junge Mädchen sich recht in ihrem Elemente zu fühlen und trotz wirklicher Sorge um den Präsidenten und mancher körperlichen Anstrengung ihren ruhigen, klaren Sinn zu behalten. Das machte sie Therese immer werther und ward für Eva unschätzbar, die alle Fassung verloren hatte.

Schon am frühesten Morgen kam sie zu den Freundinnen und verließ sie so spät als möglich. Wie Agnes wünschte sie helfen und nützen zu können, aber die gänzliche Unkenntniß aller häuslichen und wirthschaftlichen Fertigkeiten hinderte sie daran. Doppelt betrübt durch die Unthätigkeit, zu der sie sich[316] verdammt fühlte, saß sie tagelang mit verweinten, halbgeschlossenen Augen da. Sie war ein wahres Bild des Kummers, und Therese sowohl als Agnes und Theophil empfanden inniges Mitleid mit ihr. Konnte man irgend eine Beschäftigung für sie ermitteln, die sich auf Julian bezog, dann belebte sie sich plötzlich; war die kleine Arbeit beendet, so sank sie in die frühere Abspannung zurück. Sie machte den rührenden Eindruck eines kranken Kindes und wie ein solches ward sie von Agnes mit unwandelbarer Güte und Nachsicht behandelt, die, obgleich bedeutend jünger als Eva, jetzt wie ihre Beschützerin auftrat.

Theophil entging die große Tüchtigkeit des jungen Mädchens nicht und er wußte ihr die Erleichterung Dank, welche sie Theresen verschaffte. Unablässig für diese besorgt und vorsorgend, dachte er dennoch daran, auch Agnes Beweise seiner Theilnahme und Achtung zu geben, die sich von Tag zu Tag für sie steigerten. Durch Agnes erfuhr er zu jeder Stunde, wie es um Julian stehe, wie Theresen's Stimmung sei, denn diese selbst war nur für Augenblicke sichtbar.

Tag und Nacht an Julian's Lager beschäftigt, schien sie fast übermenschliche Kraft in sich zu finden, um dem Bruder nie zu fehlen, wenn für kurze Zeit die Nebel des Fiebers von ihm wichen und er seine Umgebung erkannte. Am Neujahrsmorgen hatte sie einen Brief von Theophil's Mutter erhalten, die ihr in den wärmsten Ausdrücken für die Güte dankte, welche sie dem leidenden und jetzt genesenen Sohne bewiesen habe. Ein Brief von Theophil war beigelegt, in welchem er sich erfreut über die Rückkehr der Gesundheit und voll Sehnsucht nach einem Glücke aussprach, das er einst vielleicht von der Hand seiner treuen Pflegerin zu erhalten hoffen dürfe. Die zärtliche Mutter beschwor Therese, ihrem Sohne das Glück, das er nicht näher bezeichnet, das sie aber leicht errathen hatte, nicht zu versagen. Sie schilderte ihr die tiefe Verehrung ihres Sohnes für sie, sie[317] rühmte mit mütterlichem Stolz die Vorzüge des Sohnes und hieß im Voraus Therese als die geliebteste Tochter willkommen.

Der Brief, so wenig ihn Theophil selbst gutgeheißen haben würde, hätte er eine Ahnung von seinem Inhalte gehabt, rührte Therese sehr. Es gab sich eine große Güte darin kund und es that ihr leid, die Hoffnungen nicht erfüllen zu können, welche man auf sie baute. Sie begriff die Nothwendigkeit, Theophil nicht länger in Zweifel über seine Aussichten zu lassen, aber die Angst um den Bruder drängte jeden andern Gedanken in den Hintergrund und die erste Woche des neuen Jahres war bereits vorüber, ohne daß sich eine Besserung in dem Zustande des Kranken gezeigt hätte. Der entscheidende einundzwanzigste Tag nahte heran, und mit ihm die tödtliche Spannung, in der man solche Ereignisse erwartet.

In der Befürchtung der traurigsten Möglichkeit gewann es Therese über sich, mit Theophil zu sprechen. Sie fürchtete den Tod des Bruders und der Gedanke, irgend eine naheliegende Pflicht erfüllen zu müssen, nachdem sie den Bruder verloren haben würde, kam ihr hart an.

Sie suchte also Theophil in einem freien Augenblicke auf, dem sie im Wohnzimmer begegnete. In dem lebhaften Wunsche, sobald als möglich zu Julian zurückzukehren, fand sie die Kraft, ohne alle Vorbereitung gerade zum Ziele zu gehen; alle die kleinlichen Rücksichten verschwanden vor der Größe des Kummers, der von allen Seiten auf sie einstürmte.

Sie haben von mir noch Antwort auf eine Frage zu erwarten, guter Theophil, sagte sie, die ich Ihnen längst hätte geben müssen. Sie haben meine Hand begehrt, aber ich kann die Ihre nicht werden. Ich bin nicht frei, wie ich es Ihnen schon früher gesagt habe, wie Sie selbst es jetzt wissen. – Da sie an Theophil's Zügen sah, welch schmerzlichen Eindruck ihre Worte auf ihn machten, und da sie fühlte, daß die Weise, in[318] der sie zu ihm gesprochen, ihn kalt und herzlos dünken müsse, wünschte sie zu begütigen, so weit es in ihrer Macht stand. Sie sagte ihm, daß sie schwankend gewesen sei, was ihr zu thun obliege, daß sie in festem Vertrauen auf seine Großmuth, in der Gewißheit seiner Liebe daran gedacht hätte, seine Frau zu werden, und daß nur die Unmöglichkeit sie davon abgehalten, weil sie ihm nur ihre Hand, nicht ihr Herz zu geben habe.

Glauben Sie mir, Theophil, sagte sie, es kann, es darf nicht sein. Meine Vergangenheit ist ausgefüllt mit dem Bilde, mit der unwandelbarsten Hingebung an das Andenken eines Mannes, der nie der Meine sein wird –

Und die Zukunft? fragte Theophil bittend.

Sagte ich Ihnen nicht, daß diese Liebe unwandelbar sei? Sie wird auch meine Zukunft ausfüllen, wie sie hoffnungslos mein ganzes Leben in sich faßte. Es ist ein Geschick und ich klage nicht darüber; denn eine große Liebe, selbst wenn sie unglücklich ist, ist ein Glück.

Therese, sagte Theophil, ich muß grausam Ihre Wunden berühren, wie der treue Arzt, der zu helfen wünscht. Welches Loos erwarten Sie für sich?

Sie meinen, welch ein Loos ich erwarte, ergänzte Therese, wenn es im unerforschlichen Rathe einer höhern Macht beschlossen ist, daß ich meinen Bruder verliere? – Ihre Stimme ging in Thränen unter, als sie dem Gedanken, den sie seit Wochen in verschwiegener Brust gehegt, zum Erstenmale Worte gab. Es war ihr, als würde das gefürchtete entsetzliche Ereigniß dadurch schon jetzt zur Gewißheit erhoben, als trete es von diesem Augenblicke an in die Reihe der unumstößlichen Thatsachen, und ihr schauderte vor der Gewalt des Wortes. Doch überwand sie sich und sagte: Ich werde leben in Erinnerungen großer Liebe, in der Freude, von den edelsten Herzen geliebt worden zu sein. Für Sie, Theophil, vermag ich nichts, kann ich nichts[319] sein, denn mir fehlt die Jugend, ein neues Leben zu beginnen. Glauben Sie mir das.

Er hörte sie schweigend an, wie man ein Urtheil anhört, dessen Schwere man empfindet und das man für unumstößlich hält. Vergebens erwartete sie irgend ein Wort von ihm, das ihr verkündete, er zürne ihr nicht. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte starr zur Erde nieder, bis der Eintritt des Dieners, der Therese in das Krankenzimmer zurückzurufen kam, ihn aus seinen Gedanken aufstörte.

Sie trat an Theophil und bot ihm die Hand. Können Sie mir nicht vergeben, Theophil? fragte sie. Ich mache Ihnen Kummer und sähe Sie doch so gern, so gern recht glücklich.

Sie wollte fort, aber er preßte ihre Hand an seine Lippen, hielt sie zurück und sagte: Wollen Sie mir eine Gunst gewähren? Ich bitte darum als Zeichen Ihres Vertrauens, ich fordere sie, als ein Recht der heiligsten Freundschaft. Lassen Sie mich in Ihrer Nähe bleiben, bis ich beruhigter über Sie von Ihnen gehen kann. Bis Julian Sie wieder beschützt, lassen Sie mich statt seiner, so gut ich es vermag, Ihnen zur Seite stehen. Ich gehe, sobald Sie meiner nicht mehr bedürfen. Darf ich bleiben, Therese?

Sie antwortete nicht, denn ihre ganze Seele war schon bei dem Bruder, aber der feste, stumme Druck der Hand, mit dem sie Theophil's Rechte erfaßte, gab ihm die Gewißheit, daß seine Bitte erhört sei, und daß er bleiben dürfe.[320]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 10, Berlin 1872, S. 316-321.
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