Drittes Capitel

[44] Früh, ehe der Freiherr noch aufgestanden war, ritt Renatus nach Rothenfeld hinüber, um sich bei seinem greisen Lehrer und Erzieher Rath zu holen.

Er fand ihn mit seinem Gehülfen, der inzwischen auch nicht jünger geworden war, bei der Morgensuppe sitzen, denn der Caplan war der Ersten einer gewesen, welcher bei der Theuerung der Colonialwaaren sich bereit erwiesen hatte, auf ihren Gebrauch zu verzichten, obschon er durch ein langes Leben an den Kaffe gewöhnt gewesen und bei seiner großen Mäßigkeit eigentlich auf denselben als auf ein ihm nothwendiges Reizmittel angewiesen war. Wie Renatus ihn in dem hellen Sonnenlichte vor sich sah, bemerkte er, daß seine Schläfen tief eingesunken waren. Auch die Hauskleidung seines Freundes schien dem jungen Freiherrn trotz ihrer Sauberkeit sehr abgetragen zu sein, und man hatte in der Pfarrwohnung, obschon der älteste Diener und treueste Freund der Arten'schen Familie sie bewohnte, die Verwüstungen, welche die Einquartierten während der ersten Franzosenzeit in derselben angerichtet hatten, kaum auf das Nothdürftigste hergestellt. Die Fensterläden waren erneut, aber immer noch nicht angestrichen, die Wände noch eben so verräuchert, als Renatus sie vor zwei Jahren verlassen, der Kachelofen hatte zwar die nöthigen Ersatzsteine erhalten, aber sie paßten nicht zu demselben. Es war Alles in Verfall gerathen; nur die Blumentöpfe des Greises blühten wohlgepflegt am Fenster, und sein[44] Antlitz sah noch eben so edel und so zufrieden aus, als in den Tagen, in welchen die vorsorgliche Freundschaft der Baronin Angelika in Schloß Richten allen seinen Bedürfnissen schon im voraus begegnet war.

Sobald Renatus sich mit dem Caplan allein befand, erzählte er ihm, was vor seinem Abmarsche aus der Hauptstadt vorgegangen war. Er verhehlte ihm nichts, weder die Stimmung, in welcher er sich befunden, als er sich seiner Neigung für seine Jugendgespielin bewußt geworden war, noch die Zweifel, die ihn nachdem befallen hatten; auch nicht die Umstände, unter denen er sich Hildegard angelobt, ehe er noch seines Vaters Meinung eingeholt und dessen Billigung erhalten hatte. Er berichtete darauf, was am gestrigen Tage zwischen ihm und seinem Vater verhandelt worden war, und sagte dann: Nie in meinem Leben habe ich mich mehr im Zwiespalt mit mir selbst gefunden. Es drückt mich, mit einem solchen Geheimnisse vor meinem Vater zu stehen und von ihm Rathschläge und Wünsche für meine Zukunft aussprechen zu hören, die keine Bedeutung mehr für mich haben. Es drückt mich eben so, daß ich nicht den Muth besitze, meiner Liebe und meiner Braut gerecht zu werden, indem ich meinem Vater sage, daß ich bereits gewählt und mich gebunden habe. Aber kann ich meinem Vater, den ich sehr gealtert finde und sehr gebeugt sehe, unter den obwaltenden Umständen ein Zugeständniß abfordern, das er mir, wie ich jetzt weiß, nur widerstrebend geben würde? Meine Ergebenheit für meinen Vater, mein Ehrgefühl, ja, selbst meine Liebe für Hildegard sträuben sich dagegen. Sie ist kein Mädchen, das einer Familie aufgedrungen werden darf, und doch liegt mir Alles daran, sie auch von meinem Vater als meine künftige Gattin anerkannt zu wissen. Ich ziehe in das Feld, und da ich jetzt in den Besitz meines mütterlichen Vermögens treten soll, möchte ich für den Fall meines Todes zu ihren Gunsten über dasselbe[45] verfügen, denn Hildegard wird keinem anderen Manne angehören, wenn ich sterbe. Darauf kenne ich ihr Herz.

Der Caplan hatte ihn mit keiner Frage, mit keiner Bemerkung unterbrochen, da Renatus nicht zu den in sich befangenen Naturen gehörte, denen man zu Hülfe kommen muß, damit sie sich überwinden und erschließen. Er war vielmehr, wo er vertraute, zu überströmender Mittheilung geneigt, wurde sich in derselben gegenständlich, rührte und tröstete sich nach eigenem Bedürfen, sobald er nur erst dahin gekommen war, sich auszusprechen, und der Caplan hatte also keine große Mühe, den Seelenzustand seines jungen Freundes zu durchschauen, wennschon er es nicht für angemessen fand, ihn über denselben sofort aufzuklären. Er hatte niemals den Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, zu dem seinigen gemacht, aber er war, wie so Mancher, unter dessen Augen sich viele Lebensschicksale abgewickelt haben, zu der Ansicht gelangt, daß in dem Dasein der Menschen, wie in der Natur überhaupt, das Geringere dem Stärkeren dienen müsse. Da er ohne persönliche Wünsche und also ohne persönliche Hoffnungen war, hatte er, weil kein Mensch eines bestimmten Zieles entbehren kann, ohne in seiner Thätigkeit zu erlahmen, das Wohlergehen und Gedeihen des Arten'schen Geschlechtes und der von demselben gegründeten katholischen Gemeinde zu seiner Herzenssache gemacht, und beharrlich wie die Kirche, der er angehörte, suchte er in dem Sohne und durch den Sohn dasjenige fortzuführen, was der Vater begonnen hatte und was durch die Noth des Tages beeinträchtigt und gefährdet ward.

Jedes Wort, das Renatus zu ihm gesprochen, hatte den scharfblickenden Geistlichen davon überzeugt, daß der junge Freiherr, stolz auf den Rang, den sein Geschlecht seit langen Jahren unter dem Adel des Landes eingenommen hatte, augenblicklich mehr mit der Sorge um dessen würdiges Fortbestehen, als mit[46] seinen persönlichen Herzensangelegenheiten beschäftigt, und daß von einer eigentlichen Liebe oder Leidenschaft für seine erwählte Braut, für Hildegard, bei Renatus nicht die Rede war.

Aber der Caplan hütete sich, ihm dieses bemerklich zu machen. Er wollte ein mild erwärmendes und reinigendes Feuer nicht durch den scharfen Hauch des Widerspruches zu einer Flamme anfachen, die man nicht leicht wieder dämpfen und erdrücken konnte, wenn man dies zu thun etwa nöthig finden sollte. Der Caplan war es im Gegentheile nach den schweren Erfahrungen, welche das von Leidenschaften stürmisch bewegte Leben des alten Freiherrn ihn hatte machen lassen, sehr wohl zufrieden, daß Renatus sein unschuldiges Herz einem edeln jungen Mädchen zugewendet hatte, dessen Bild ihn begleiten, und ihn vor den Versuchungen des Lebens wie vor den Verlockungen seiner Sinne bewahren konnte. Aber daß Renatus sich mit einem armen Mädchen verheirathete, lag eben so außerhalb seiner als außerhalb des Freiherrn Ansichten.

Schon seit Jahren hatte der Caplan aus den Mitteln, welche der Freiherr seiner Zeit für den Pfarrer seiner katholischen Kirche bestimmt, den Sakristan und die vier Chorschüler unterhalten; denn es war, da der Freiherr sich nach dem Tode der Baronin auf Reisen begeben und viel Geld gebraucht hatte, nicht zu der Feststellung eines Capitals für die kirchlichen Zwecke gekommen, und auch die Hoffnung, daß man in den Chorschülern sich brauchbare Handwerker und eine katholische Gemeinde erziehen werde, hatte sich nicht verwirklicht. Weil man für die Knaben auf den Dörfern keine guten Lehrmeister finden konnte und man, wenn einmal ein solcher vorhanden war, bei ihm auf die Weigerung stieß, einen Katholiken in sein Haus aufzunehmen, war man stets genöthigt, die Chorschüler, sobald sie herangewachsen waren, in die Lehre nach der Stadt zu schicken, und die Mehrzahl von ihnen hielt es dann nach vollendeter Wanderschaft[47] und erlangter Meisterschaft mehr ihrem Vortheile angemessen, ihr Gewerbe in den großen Städten, als auf den Gütern des Freiherrn zu betreiben, auf denen obenein die Abneigung und das Mißtrauen der protestantischen Bevölkerung ihnen hindernd entgegentraten. Man mußte also immer auf's Neue katholische Knaben heranzuziehen suchen, und wenn es an und für sich auch ein gutes Werk war, diesen eine wohlgeleitete Erziehung zu geben, so ward das Unternehmen, weil es in sich nicht fortwirkte, sondern sich fast ganz unfruchtbar erwies, doch kostspieliger, als man erwartet hatte, und der Freiherr hatte schon bei seiner Rückkehr aus Italien alle Theilnahme dafür verloren. Er hatte es kein Hehl, daß er den Kirchenbau bereute, er kam auch selten in die Kirche, obschon Vittoria oft zur Messe fuhr, und wenn er gelegentlich auf den Sakristan und auf die Sänger zu sprechen kam, fragte er nicht, wie sie unterhalten würden, nachdem er einmal die Erfahrung gemacht hatte, daß der Caplan für sie Sorge trug.

Hatte man des Quartettes einmal nöthig, wenn Vittoria sich vor der Gesellschaft im geistlichen Gesange hören lassen wollte, so berief man den Sakristan mit seinen Schülern; der Freiherr wußte sich dann etwas mit dieser Art von Capelle, zeigte sich ihr gnädig, lobte und tadelte als ein Kenner und ließ es an einem Gnadengeschenke auch nicht fehlen. Im Uebrigen beruhigte er sich damit, daß der Caplan in den langen Jahren, welche er dem Arten'schen Hause angehört hatte, ein hübsches Vermögen erworben haben müsse, dessen er nicht bedurfte, und es schien dem Freiherrn so natürlich, wenn der Geistliche, der durch die Gründung der Pfarre lebenslang versorgt war, seinen im Arten'schen Dienste zusammengebrachten Besitz auch zum Nutzen und zur Ehre des Hauses, die hier zugleich die Ehre Gottes und der Kirche war, verwendete, daß er es nie für nöthig gefunden hatte, darüber auch nur eine Sylbe gegen den Caplan[48] zu verlieren. Er war in seinem Verhältnisse zu Allen, die ihm dienten, nach wie vor derselbe.

Aber der Caplan war auch sich selber treu geblieben, und wie der Freiherr an dem würdigen Fortbestehen seines Geschlechtes, so hing der Geistliche an der Erhaltung des Gotteshauses, das unter seinen Augen entstanden war, und an der Hoffnung, das katholische Bekenntniß in diesem Theile des Landes endlich Wurzel fassen und sich ausbreiten zu sehen. Indeß die Erhaltung der Kirche für die katholische Confession wurde zweifelhaft, wenn Renatus jemals gezwungen werden sollte, sich des väterlichen Besitzes zu entäußern, da derselbe dann leicht in nichtkatholische Hände übergehen und es in einem solchen Falle nicht allzu schwer halten konnte, das Gotteshaus den Evangelischen zusprechen zu lassen. Dem Caplan war also eben so wie dem Freiherrn daran gelegen, Renatus mit einer reichen Erbin aus den katholischen Provinzen sich verbinden zu sehen, und weil er dieses wünschte und es im Augenblicke nicht zu erreichen war, that er wenigstens so viel an ihm lag, dem jungen Baron für die Zukunft die mögliche Freiheit bewahren zu helfen.

Er nannte die Neigung, welche Renatus für Hildegard empfand, edel und berechtigt, er pries die Eigenschaften der jungen Gräfin und das Glück derjenigen, deren reine Seelen sich in keuscher Neigung früh zusammenfinden; aber er gab es dem Jünglinge zu überlegen, ob unter den Bedenken, die sich in ihm gegen diese Verlobung erhoben hatten, nicht eines oder das andere begründet sein sollte. Er fragte ihn, ob er überzeugt sei, daß er niemals eine stärkere Empfindung hegen werde; ob er glaube, daß Hildegard dem Ideale entspreche, welches jeder reine Jüngling von dem Weibe, das er lieben solle, im Herzen trage. Er erinnerte ihn daran, daß er an der Ehe seiner Eltern das Beispiel vor sich habe, wie unglücklich eine nicht völlige Zusammengehörigkeit die Gatten machen könne, und er sprach[49] sich, da er Renatus nachdenklich werden sah, endlich dahin aus, daß er es für alle Theile heilsam glaube, wenn man vorläufig das Herzensbündniß der Liebenden noch als ein Geheimniß bewahre.

Du, mein theurer Renatus, sagte er, wirst dadurch der Nothwendigkeit enthoben, Deinem richtigen Zartgefühle entgegen, eben jetzt von Deinem Vater ein sicherlich widerwillig gegebenes Zugeständniß zu fordern. Du und auch die theure Hildegard, Ihr gewinnt beide die Zeit, in der Trennung Eure Herzen und die Beständigkeit und Stärke Eurer Neigung zu erkennen und zu prüfen, und kehrst Du uns, wie wir alle sehnlich hoffen, unter dem Schutze des Höchsten aus dem Kriege heim, hellt unser politischer Gesichtskreis sich so weit wieder auf, daß Gewerbe und Handel sich wieder frei bewegen können, daß der Grundbesitz seinen wahren Werth zurückerlangt, nun, so wird Dein Vater keine Ursache mehr haben, Dir irgend eine Beschränkung bei Deiner Wahl aufzuerlegen, und er wird dann diejenige mit Freunden in seine Arme schließen, der er heute nur widerwillig seinen Segen geben würde.

Renatus hatte, den Kopf in die Hand gestützt, den Auseinandersetzungen seines geistlichen Freundes ohne eine Erwiderung zugehört. Auch als derselbe geendet hatte, regte der junge Mann sich nicht. Der Caplan kannte das an ihm und es galt ihm als ein gutes Zeichen. Wenn Renatus nach einem Meinungsaustausche auf solche Weise in sich selbst versank, war er in der Regel damit beschäftigt, wie er die fremde Ansicht mit der seinigen so verbinden könne, daß dasjenige als freie Entschließung erschien, was er auf Zureden eines Anderen that. Denn obschon er die stolze Selbstherrlichkeit seines Vaters nicht besaß, hatte er doch die Eitelkeit, in den geringfügigsten wie in den wichtigsten Dingen seine Meinung und seine freie Entschließung kundgeben und behaupten zu wollen; ja, er war im Stande, seine eigene Ueberzeugung, wenn ein Anderer dieselbe[50] ausgesprochen hatte, zu verleugnen und ihr entgegen zu handeln, nur um den Verdacht der Unselbständigkeit von sich abzuwehren. Hier aber, wo der Rath seines Lehrers mit seinem geheimsten Wollen zusammentraf, verlangte es ihn, vielleicht ohne daß er sich dessen klar bewußt war, danach, sich auch im voraus gegen die Vorwürfe zu sichern, die er oder Andere ihm später über seine Handlungsweise machen konnten. Er wollte Herr über seine Entschlüsse bleiben und doch die Möglichkeit haben, die Verantwortlichkeit für dieselben im Nothfalle auf fremde Schultern wälzen zu können, und der Caplan war es als ein Diener seiner Kirche gewohnt, wo es der Förderung ihrer Zwecke galt, schwerere Lasten und Verantwortungen über sich zu nehmen, als Renatus ihm in diesem Falle zu tragen auferlegen konnte.

Woran denkst Du, lieber Renatus? fragte er endlich, da der junge Mann alle Anregung, ja, selbst die Aufforderung, sich zu erklären, diesmal von seinem alten Freunde zu erwarten schien.

Muß ich Ihnen das erst sagen? Was wird Hildegard, was die Gräfin von mir denken, wenn ich die Forderung an sie stellen muß, unsere Verlobung geheim zu halten? Denn ich darf ihnen nicht auseinander setzen, daß die augenblickliche Stimmung und die gegenwärtigen Verhältnisse meines Vaters es mir fast wie eine Entweihung erscheinen lassen, wollte ich ihm jetzt enthüllen und Preis geben, was mir nächst meiner Ehre das Theuerste und Heiligste ist!

Er schwieg, um sich eine ihm zu Hülfe kommende Einwendung machen zu lassen; da der Caplan sie ihm aus gutem Grunde vorenthielt, sprach er selber nach einigem Ueberlegen: Wenn ich sicher wäre, daß Hildegard meiner Liebe, meinem Worte so voll vertraute, wie ich ihr ....

Mein Sohn, unterbrach ihn der Caplan, versündige Dich nicht an Hildegard: sie gibt ihr Herz nicht, wo sie nicht vertraut![51]

Aber die Gräfin? wendete Renatus ein.

Der Caplan legte seine Hand auf des jungen Mannes Schulter und sagte: Gräfin Rhoden ist eine welterfahrene Frau und eine vorsorgliche Mutter, die Dich und ihre Tochter kennt, aber sicherlich auch auf des Lebens Wechsel und Möglichkeiten denkt. Sie weiß, daß Deine Liebe und Dein Wort ihrer Tochter angehören, wenn Du heimkehrst, indeß ... Er hielt inne und sagte dann, mit vorsichtiger Mißbilligung den feinen Kopf wiegend: Es war vielleicht nicht wohlgethan, im Angesichte eines solchen Krieges um die Hand eines jungen Mädchens zu werben. Ich bin sicher, daß es der Frau Gräfin nicht willkommen war, und es wäre großmüthiger von Dir gewesen, Dich zu überwinden und zu schweigen, denn es ist traurig, ein junges Mädchen zur Wittwe werden zu sehen, ehe es noch das Glück der Ehe kennen gelernt hat.

Renatus war gegen den leisesten Tadel empfindlich. Hildegard's Herz hätte in jedem Falle um mich getrauert, meinte er, wenn die Würfel des Todes mir fallen sollten!

Gewiß; aber man betrauert einen im Verschwiegenen geliebten Mann mit anderer Empfindung, als einen, dem man sich heimlich anverlobte, oder gar als einen erklärten Bräutigam. Das Mitwissen Anderer steigert für die meisten Menschen den Schmerz und zwingt oder veranlaßt sie oftmals, ihn in sich noch aufrecht zu erhalten, wenn sie bereits in der Verfassung wären, ihn zu überwinden. Und wo man nicht sicher ist, Glück und Freude bereiten zu können, soll man trachten, mögliches Leid und Unglück zu verhüten.

Renatus erhob sich, denn es bemächtigte sich seiner eine große Unruhe. Er konnte den Ansichten des Caplans nichts entgegensetzen, sofern sie auf eine noch zu begehende Handlung angewendet werden sollten; aber er ahnte ihren Zweck für diesen[52] besonderen Fall und er verhehlte sich nicht, daß seine Neigung für Hildegard keineswegs eine unüberwindliche gewesen war, daß er eine Uebereilung begangen habe und daß er leicht in die Lage kommen könne, ja, daß er sich eigentlich bereits in der Lage befinde, diese Uebereilung zu bereuen.

Er ging hastig ein paar Mal im Zimmer auf und nieder, blieb dann plötzlich vor dem Geistlichen stehen und fragte kurz und heftig: Was soll ich denn thun? Was wollen Sie denn, daß ich thue?

Dasjenige, was Du zu thun ohnehin entschlossen warst, sprach der Geistliche gelassen.

Sie rathen mir also, gegen meinen Vater von der ganzen Angelegenheit zu schweigen?

Unbedenklich!

Und Hildegard – die Gräfin – wie soll ich vor ihnen dieses Verhalten rechtfertigen? Wie kann ich ihnen meine Handlungsweise erklären? rief er noch einmal.

Der Caplan hob sein Auge zu ihm empor und blickte ihn ruhig an. Ueberlasse es mir, mein theurer Sohn, Deine Rechtfertigung zu übernehmen! sagte er. Und er wußte, daß Renatus diese Antwort von ihm erwartet hatte. Renatus zögerte auch nicht, sich dieselbe zu Nutzen zu machen.

Aber, fragte er, was soll ich Hildegarden schreiben?

Das fragst Du mich? entgegnete der Caplan. Nun, Du wirst Hildegarden alles sagen, was Dein Herz Dir eingibt, und das Uebrige vergönne mir, der Frau Gräfin auseinander zu setzen. Ich gebe die Verhältnisse des Freiherrn sicherlich nicht Preis, und da ich die Ansichten der Frau Gräfin aus langjährigem Vertrauen kenne, hoffe ich, Gehör bei ihr und die Billigung Deiner Handlungsweise von ihr zu erlangen. Jetzt aber – er trat an's Fenster und sah zu dem Kirchthurme empor – jetzt ist's wohl an der Zeit, auf Deine Rückkehr zu denken, denn der Freiherr wird Dich erwarten.[53]

Renatus zog die Uhr hervor und gab dem Caplan Recht. Er sagte, daß er ihm eine große Beruhigung verdanke, daß er nun wieder mit freiem Herzen an die Geliebte denken könne, und daß er nur bedauere, Vittoria in das Vertrauen gezogen zu haben. Indeß er nahm das alles leicht, da er für jetzt der Rücksprache mit dem Freiherrn enthoben war, vor der er sich mehr, als er sich selbst gestehen mochte, gefürchtet hatte.

Im Schlosse fand er, da von dem Freiherrn alle vorbereitenden Schritte bereits vor einigen Wochen geschehen waren, die richterlichen Beamten, vor denen der besprochene Akt seiner Mündigkeitserklärung vollzogen, und durch welche die Eintragung von Renatus' Vermögen auf Richten bewerkstelligt werden sollte, schon angelangt. Erst bei diesen Verhandlungen erfuhr der junge Freiherr, daß seine Befürchtungen wegen seines Vermögens nicht ohne Grund gewesen waren. Sein Capital stand, wenn man die Nähe des Krieges und die mit ihm zusammenhängenden Möglichkeiten in Betracht zog, keineswegs sicher auf dem Gute, und die vor ihm eingetragenen Gläubiger erhielten unverhältnißmäßig höhere Zinsen, als der Freiherr sie seinem Sohne festzusetzen für angemessen fand. Auch sah der Freiherr wohl, daß Renatus die Farbe wechselte, als er das betreffende Schriftstück unterzeichnete, indeß der Vater behandelte nur die Mündigkeits-Erklärung des Sohnes als ein ernstes Ereigniß, an das er mit aller Würde und Feierlichkeit heranging.

Er umarmte den Sohn, nannte ihn vor allen Zeugen einen fertigen Mann, einen Mann von wahrer Ehre und seinen Freund, und gab dann auf die Regelung der Geldangelegenheit anscheinend nur wenig Acht. Er erklärte sie für eine bloße Form, da zwischen Vater und Sohn von Mein und Dein doch nicht die Rede sein könne, meinte dann, daß Renatus erst jetzt wahrhaft in den Besitz seines mütterlichen Erbtheiles trete, wo er es in dem Grunde und Boden des Familiengutes anlege; und als[54] dann im Laufe des Nachmittages der militärische Chef des jungen Freiherrn mit seinem Stabe eintraf, war von den abgethanen Geschäften natürlich keine Rede mehr.

Der Freiherr hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, es seinen militärischen Gästen, es einer solchen Gesellschaft von Edelleuten aus allen Provinzen des Landes, in seinem Schlosse an irgend etwas fehlen zu lassen, was zu bieten er im Stande war, und Renatus hielt wo möglich noch mehr darauf, daß der Empfang seiner Vorgesetzten und Kameraden seinem Vaterhause Ehre mache.

Er hatte sonst es nicht leicht gewagt, dem Freiherrn gegenüber Verlangnisse zu äußern und Vorschläge zu thun; aber er war nun großjährig gesprochen, er hatte auch sein ganzes, persönliches Vermögen hergegeben, seinem Vater eine Erleichterung zu bereiten, und man konnte es doch in der That nicht wissen, ob es nicht das letzte Mal sei, daß er im Vaterhause weile. Er hatte nie gefühlt, was es mit der hastigen und feurigen Lebenslust des Soldaten auf sich habe. Jetzt erwachte sie in ihm. Er wollte froh sein, er wollte genießen und Andere mitgenießen lassen, was er besaß. Er blieb in beständiger Bewegung und Aufregung, erhielt alle Andern in derselben, und noch niemals hatte er seinem Vater so wohlgefallen, noch nie hatte der Freiherr es wie eben jetzt erkannt, daß sein Sohn ihm doch sehr ähnlich sei. Er gab jetzt allen Wünschen desselben unbedingte Folge. Ein Ball wurde aus dem Stegreif in das Werk gesetzt, die Säle, die Zimmer, die Fluren und Treppen waren wieder einmal belebt, wie in den Tagen, deren Renatus sich aus seiner Kindheit zu erinnern wußte. Wo die jetzt beschränkte Dienerschaft des Hauses nicht ausreichte, half die militärische Bedienung der Einquartierten aus, die man für die wenigen Stunden, in denen man ihrer bedurfte, in die Livréen des Hauses steckte; es waren deren noch mehrere von früher her vorhanden.[55]

Allerdings durfte Renatus nicht nach der Schloßthorseite an das Fenster treten, ohne daß es ihm durch das Herz schnitt, wenn die Allee, die prächtige Allee, ihm fehlte, wenn er so weit hinaus die große Fläche übersehen konnte. Sie kam ihm wie ein Schlachtfeld vor, es schwebten traurige Schatten, Unheil verkündende Geister über ihr. Aber Niemand von seinen Kameraden vermißte die alten Bäume, es vermißte auch Niemand die schweren silbernen Tafelaufsätze und Pracht-Geräthschaften, die sonst bei feierlichen Gelegenheiten die Tafel geziert und den großen alten Schenktisch geschmückt hatten. Es waren während des Krieges viele Alleen niedergeschlagen worden und viele Gutsbesitzer hatten in den harten Zeiten ihr Silber eingeschmolzen oder es in den großen Städten in verhältnißmäßige Sicherheit zu bringen gesucht. Renatus fragte nicht darum, er nahm ohne Weiteres das Letztere an. Man ritt, man jagte in den schönen Revieren der Herrschaft, Alles wurde besehen, Alles bewundert: der Ahnensaal im Schlosse und die Kirche in Rothenfeld und die prächtige Familiengruft, in welcher die Baronin Angelika neben den anderen Todten ihres Hauses ihre Ruhestätte gefunden hatte.

Die Stunden der kurzen Rasttage entschwanden, ohne daß Renatus zur Besinnung kam. Er sah seinen Vater angeregt und wohlaufgelegt wie seit langen Jahren nicht. Vittoria schien auch neu belebt zu sein, die Anwesenheit so vieler Männer, der Eindruck, den sie auf dieselben machte, die Bewunderung, welche sie durch ihren Gesang wie durch die Fremdartigkeit ihres ganzen Wesens erregte, zerstreuten sie und schmeichelten ihr wie ihrem Gatten. Renatus konnte es nicht über sich gewinnen, noch einmal mit Vittoria von seiner Verlobung zu reden und die seltene Zufriedenheit zu stören, die ihn umgab. Es ward von Hildegard gar nicht mehr gesprochen. Nur mit Mühe fand er die Muße, seiner Braut zu schreiben oder ihrer in Ruhe zu gedenken.[56]

Am Abende vor dem Abmarsche hatte man noch einmal die Gesellschaft aus der ganzen Umgegend zusammengebeten. Man tanzte noch einmal, und man spielte. Spät, als die Dunkelheit schon lange über der Erde und über dem ersten Knospen des Frühlings ausgebreitet lag, flammte oben auf der Margarethen-Höhe ein Feuerwerk empor und an dem Giebelfelde des Freundschaftstempels glänzte in farbigem Licht das Wort: »Victoria.«

Es war eine Ueberraschung, mit welcher der Chef des Regiments seinen Wirthen den Dank für ihre verschwenderische Gastfreundschaft zu erkennen geben wollte; denn wie das Wort die Hoffnung der zum Kampfe ziehenden Krieger aussprach, so huldigte es auch der schönen Schloßherrin, und es kam dabei nicht in Betracht, daß der Freundschaftstempel sehr verfallen war, daß man alte Geräthschaften und Reisig in dem Raume aufbewahrte, der einst das Bild der Herzogin Margarethe umschlossen hatte und ihrem Andenken gewidmet worden war. Das glänzende Licht des Feuerwerks, wie vergänglich es auch war, machte alles Andere vergessen, und als es erloschen war, dachte man des Tempels und der Margarethen-Höhe überhaupt nicht mehr.

Renatus schrieb, wie er sich ausdrückte, mit dem Fuße im Bügel, noch an seine Braut. Der Caplan übernahm die Besorgung dieses Briefes.

Die Regimentsmusik schmetterte auf dem großen Schloßhofe schon ihre muthigsten Weisen, als der Freiherr den Sohn in die Arme schloß, als Renatus, mit Thränen und von des Vaters Segenswünschen begleitet, aus seinen Armen schied. Sie hatten sich nie so nahe gestanden, waren einander nie so lieb gewesen, als in diesem Beisammensein, und noch im letzten Augenblicke legte der Freiherr seine Gattin und Valerio an seines Sohnes Herz und sagte sehr erschüttert, obschon die Fremden es sehen und hören konnten: Kehre mir wieder, mein theurer, theurer[57] Sohn, und sei ihre Stütze, wenn ich nicht mehr bin, wie Du mein Freund und meine Freude bist! –

Er weinte und schämte sich der Thränen nicht. Der Mensch, der Vater, trugen in ihm den Sieg über die Formen der Gesellschaft davon, die überall aufrecht zu erhalten er sonst als seine Aufgabe angesehen hatte. Die Ereignisse waren stärker, als er und seine schwindende Kraft, und sie wuchsen mit jedem Tage an Gewaltigkeit, an Furchtbarkeit und an Erhabenheit über ihn hinaus.[58]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 44-59.
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