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Weil ich glaube, daß viele die Verse Lichtensteins nicht verstehen, nicht richtig verstehen, nicht klar verstehen –
Die ersten achtzig Gedichte sind lyrisch. Im landläufigen Sinn. Sie unterscheiden sich wenig von Gartenlaubenpoesie. Der Inhalt ist die Not der Liebe, des Todes, der allgemeinen Sehnsucht. So weit sie »zynisch« (im Kabaretton) sind, mag beispielsweise der Wunsch, sich überlegen zu fühlen, den Anstoß zu ihrer Formulierung gegeben haben. Die meisten der achtzig Gedichte sind unbedeutend. Öffentlich sind sie nicht mitgeteilt. Bis auf eins. (Eins der letzten.) Das ist:
Ich will in Nacht mich bergen,
Nackt und scheu.
Und um die Glieder Dunkelheiten decken
Und warmen Glanz.
Ich will weit hinter die Hügel der Erde wandern.
Tief hinter die gleitenden Meere.
Vorbei den singenden Winden.
Dort treffe ich die stillen Sterne.
Die tragen den Raum durch die Zeit.
Und wohnen am Tode des Seins.
Und zwischen ihnen sind graue,
Einsame Dinge.
Welke Bewegung
Von Welten, die lange verwesten.
Verlorner Laut.
Wer will das wissen.
Mein blinder Traum wacht fern den Wünschen der Erde.
[3] Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische Gebilde: »Der Traurige«, »Die Gummischuhe«, »Capriccio«, »Der Lackschuh«, »Wüstes Schimpfen eines Wirtes«. (Zuerst erschienen in der »Aktion«, im »Simplicissimus«, im »März«, »Pan« und anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar.
Beispiele: »Der Athlet«: Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der Athlet ... bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich. – »Die Gummischuhe«: Man ist mit Gummischuhen ein anderer Mensch als ohne.
Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:
»Die Dämmerung«. [Man erinnere sich des schönen »Weltende« des Jacob van Hoddis, erschienen im ersten Jahr der Berliner Wochenschrift »Die Aktion«. Tatsache ist, daß A.Li.(Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, daß van Hoddis das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu baben, Li. das geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht zu haben.]
Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes zugunsten der Idee des Gedichtes zu beseitigen. Das Gedicht will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, irgendwo ... in ihrer Einwirkung auf die Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines Kinderwagens, einiger Hunde bildhaft dargestellt. (Der Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)[4]
Der Verfasser des Gedichtes will nicht eine als real denkbare Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet – angewandt auf die »Dämmerung«: Der dicke Knabe, der den großen Teich als Spielzeug benutzt, und die beiden Lahmen auf Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, in der er lustig sein muß – können ein dichterisches »Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher beispielsweise in der »Dämmerung« und ähnlichen Gebilden nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer Vorstellungen. Andere glauben sogar – zu Unrecht –, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche« Bilder möglich sind. (Man denke an die Futuristenmanschepansche.)
Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem Fenster.
Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns haben ... Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben ...
Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein Dichter wird[5] vielleicht verrückt – macht einen tieferen Eindruck als – Ein Dichter sieht starr vor sich hin –
Anderes nötigt in dem Gedicht: »Angst« und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen müssen sterben ... oder: Ich bin nur ein kleines Bilderbuch ... Das soll hier nicht auseinandergesetzt werden.
Daß die »Dämmerung« und andere Gedichte die Dinge komisch nehmen (Das Komische wird tragisch empfunden. Die Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige das Durcheinander bemerken ... ist jedenfalls nicht das Charakteristische des »Stils«. Beweis ist: Lichtenstein schrieb Gedichte, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem »Ungrotesken« verschwindet.
Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten (z.B. »Die Dämmerung«) und später entstandenen (z.B. »Die Angst«) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne bestimmte künstlerische Absichten.
Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.
Alfred Lichtenstein
(Wilmersdorf)
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