Von den Gerichts-Höfen.

[539] Ein auszehrendes und jämmerliches Ubel ist heut zu Tage die Unordnung und Weitläuftigkeit der Processen. Hier dienet die Gerechtigkeit zu einem Handwerck,[539] ihre Verwalter zu ernahren, und diejenige, die bey ihr Hülffe suchen, zu verderben. Es würde eine grosse Glückseligkeit für alle Völcker seyn, wenn man die Weitläuftigkeit der Rechts-Handel, so wohl als die abscheuliche Zungendreschereyen der Gewissenslosen Advocaten abstellen könte.

Es wär solches nicht unmöglich: Eine ordentlich eingerichtete Landes-Ordnung, darinn alle Haupt-Fälle und Rechts-Fragen auf das allerdeutlichste in gemeiner Landes-Sprache verfasset würden: Ein Gericht aus redlichen, vernünftigen und Rechts-kündigen Männern, die keinen weitern Nutzen von einem Proceß zu gewarten hätten, als daß sie ihn kurtz und gut ausmachten: und dann die Abschaffung aller Gerichts-Sporteln, Formalien, Fatalien und dergleichen oftmahls recht kindischen Umständen; die nur darzu ersonnen sind, um die Gerechtigkeit zu verwirren, und eine Menge unnöthiger Gerichts-Diener zu unterhalten: Diese drey Dinge würden zur Verwaltung der Gerechtigkeit einen viel leichtern Weg bahnen.

Ein jeder Kläger könte auf diese Art entweder seine Sache mündlich oder schriftlich selbst vortragen, und darüber ein Urtheil erwarten: Geschähe solches gleich nicht allemahl förmlich, und nach einer ausgekünstelten Rechts-Gelehrtheit; so könte man doch daraus desto besser die Wahrheit erkennen; ein geschickter[540] Referent, mit weniger Müh, einen kurtzen Verlauf der Sachen (speciem facti) entwerffen, und ohne weitere Umstände den Spruch heraus bringen.

Würde dabey nicht jederzeit die Form Rechtens beobachtet, so wär dieses nur ein kleines Ubel, wenn das Recht nicht selbst darunter leidet; ja solte auch dieses zuweilen darunter leiden, so wär doch dieses Ubel nicht so Grund-verderblich, als die abscheuliche Weitläuftigkeit der Processe.

O verkehrte Welt! O Jammer der Zeiten! Der Unschuldige leidet, man drückt ihn, man bringt ihn um einen Theil von seinem Vermögen: Er denckt die Obrigkeit mag richten: GOtt hat sie darzu eingesetzt: Er klaget, man höret ihn; aber seine Klage ist nicht förmlich; Er muß einen Advocaten annehmen: Dieser hat auf den Schlendrian geschworen, und der Schlendrian ist dargegen erkenntlich: Er schmeltzt ihm seine Suppen: Er macht seinen Schornstein rauchen: Der Client verläßt sich auf seine gerechte Sache, und der Advocat auf seinen guten Clienten. Sie gehen mit einander die Formalien durch: Es kommt kein Spruch, der Client will ungedultig werden: Der Advocat aber tröstet ihn, er spricht, seine Sache stünd gut: es kommt ein communicetur nach dem andern: dann werden Zeugen abgehöret, dann Eyde erkannt, dann über jeden Punct neue Erläuterungen[541] und Beweise gefordert: der andere excipirt, replcirt, duplicirt, triplicirt, quadruplicirt ... Endlich erscheint ein Decret: Der Client zahlt mit Freuden dem Advocaten seine lange Rechnung: Er denckt, mein Proceß ist zu Ende: Ich habe gewonnen. Der Gegentheil appellirt: da geht der Proceß von neuem an: hier kan der Advocat allein nicht helffen: hier müssen Agenten und Procuratoren angenommen werden: hier gilt so viel pro arrha, so viel pro honorario, so viel für deservit, so viel für Briefe, und dergleichen ... Der Client erschrickt über alle diese Dinge: Aber wie, spricht er, ist dann kein GOtt, ist dann kein Recht? Der Proceß wird indessen eifrig fortgesetzt: Der Richter findet immer noch etwas zu erinnern. Die Sache will nicht fort: Ein Jud, ein altes Weib, oder ein verdorbener Banckeruttirer kommt zu dem Clienten, und gibt ihm einen Anschlag seinen Proceß zu gewinnen: Dieser besteht darinn, daß er spendiren soll: nicht dem Referenten, nicht dem Richter, sondern hier und da und dort: Der Client denckt, der Proceß habe ihm schon so viel gekost, er wolle auch noch dieses dran wagen: Der Spruch kommt: Der Proceß ist wieder gewonnen: Nun GOtt Lob und Danck, spricht der ehrliche Mann, daß ich doch endlich wieder zu meinem Geld komme: Allein, vergebliche Freude! Neues Weh! Die Gegen-Parthie sucht restitutionem in integrum: Sie wird erkannt, und warum nicht? Die Gerichts-Ordnung bringt es ja so mit sich: Es kommen [542] Revisiones actorum, Leuterationes, dilationes, etc. Der Client kriegt darüber die Auszehrung: die Kräfte sincken: der Muth schwindet: Er borget Geld, um seinen Proceß fortzuführen: Er erlebt davon nicht das Ende: seine so lang geführte Rechts-Klage wird eine traurige Erbschaft für seine Kinder: darinn beruhet ihr gantzes Vermögen: ihre Noth, ihr anhaltendes Uberlauffen zwingen endlich den Richter zur Ungedult und zu einem Spruch. Die Execution wird erkannt, allein sie reget sich nicht: sie hat steiffe Hände; sie können sich nicht bewegen: Die Gold-Essentz, damit man sie schmieret, fehlet, die Clienten haben den Proceß gewonnen, und bleiben arm.

Wer sich einbildet, man trieb allhier die Sache zu weit, der gehe nur an die vornehmste Gerichts-Höfe, und lasse sich daselbst eine Verzeichniß der Processen geben, die über 50. ja gar über hundert Jahr vor Richter und Recht geschwebet; er wird mit gerührtem Mitleiden, wo nicht mit Graussen und Entsetzen, die traurige Schicksale solcher unglückseligen Parthien hören; und bekennen müssen, daß sie wären glücklicher gewesen, wenn sie auch gleich bey der ersten Instantz ihren Proceß verlohren hätten.

Noch eins, solte man den Schlendrian abschaffen, was würde man hernach mit den vielen Juristischen Büchern machen? Solten die Buchhändler solche alle ins Maculatur schlagen? Die meisten dürften vielleicht keiner[543] grössern Ehre würdig seyn; doch finden sich darunter auch viel gute und vortrefliche Schriften, die man nicht genug in Ehren halten kan: theils sind sie auch nöthig. Denn daß ein Richter ein Rechts-Gelehrter, wie der Geistliche ein frommer Mann, und der Artzt ein Naturkündiger seyn soll, ist wohl keine Frage. Ein Richter muß also die Gründlichkeit und die Ordnung einer Wissenschafft besitzen, welche ihn fähig macht, die verwickelste Vorfälle zu entscheiden, und über die verworrenste Streit-Fragen ein geschicktes Urtheil zu fällen. Die wohl ausgearbeitete Rathschläge berühmter Rechts-Gelehrten dienen hierzu: Sie sind billig, als Schätze einer so nöthigen Wissenschaft aufzusammlen: Auch sind die Römische Gesetz-Bücher mit nichten hindan zu setzen: die Römer waren kluge Leute, sie hatten trefliche Einsichten: Sie waren geschickt Gesetze und Ordnungen zu machen. Wir können uns in gleichen Fällen ihrer Aussprüche noch mit gutem Vortheil bedienen. Nur darinn gehen wir zu weit, wenn wir bey unserer heutigen Verfassung, die so weit von der Römischen entfernet ist, da wir andere Sitten, andere Gebräuche und eine andere Religion haben, alles auf Römisch schlichten und ausmachen wollen.

Wie nun die gröste Schwierigkeiten bey den Prozessen dadurch gehoben wurden, wenn ein jeder seine Klagen einfältig, ohne Rechts-Allegationen, und ohne Einstreuungen der[544] Vorurtheilen und Beweg-Ursachen zu decidiren, selbst in Person, oder schrifftlich, dem Richter vortragen, und darüber sein Urtheil erwarten müste; also solte auch ferner nicht wenig zur Erleichterung des Justitz-Wesens mit beytragen, wenn alle Kaufleute, Künstler und Handwercker; imgleichen alle Kirch-Spiele, Universitäten, Kriegs-Aemter und dergleichen ihre gewisse Ordnungen und Gesetze unter sich hätten, darüber mit Nachdruck hielten, und ihre Streitigkeiten, als bey ihrer ersten Instantz, durch ihre Aeltesten und Vorsteher ausmachen liessen; wobey ihnen auch zu verstatten wär, alle und jede Unordnung und Verbrechen, welche nicht in die peinliche Rechte liefen, mit gewissen Geld-Bussen und willkührlichen Straffen zu ahnden.

Auf diese Weise würden die Richter nicht über alle und jede Kleinigkeiten, so oft und viel angelauffen werden, und die meiste Sachen, welche bey den Ober-Dicasterien, wegen der Menge der Klagenden und der weitläufftigen Proceß-Ordnung öffters gar liegen bleiben, könten zum Besten der streitenden Partheyen weit kürtzer und mit weniger Müh ausgemacht wer den.

Quelle:
Johann Michael von Loën: Der redliche Mann am Hofe. Frankfurt am Main 1742., S. 539-545.
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