VI. Die Entführung der Amymone.

[328] Triton, Neptunus und Amymone.


TRITON. Gnädiger Herr Neptun, es geht alle Tage ein wunderschönes Jüngferchen mit einem Wasserkrug auf dem Kopfe nach Lerna; ich wüßte nicht, daß ich je ein schöneres Mädchen gesehen hätte.[328]

NEPTUN. Ist sie frei geboren oder eine zum Wassertragen angestellte Sklavin?

TRITON. Nichts weniger als das; sie ist eine von den funfzig Töchtern des Danaus, den du kennst, und nennt sich Amymone; denn ich habe mich nach ihrem Namen und Geschlecht erkundiget. Dieser Danaus hält seine Töchter überaus hart; sie müssen alle Hausarbeiten mit eigenen Händen verrichten, und er schickt sie sogar mit dem Wasserkrug aus; kurz, er zieht sie so, daß sie zu jeder Arbeit unverdrossen sein müssen.

NEPTUN. Und macht das Mädchen den ganzen langen Weg von Argos bis Lerna allein?

TRITON. Ganz allein; zu Argos fehlt es sehr an Wasser, wie du weißt; sie müssen es weit herholen.

NEPTUN. Du hast mich durch das, was du mir von diesem Mädchen sagtest, ganz aus meiner Fassung gebracht; wir müssen ihr nachgehen.

TRITON. Ich bin dabei. Es ist just ihre Zeit; sie wird schon ungefähr auf halbem Wege nach Lerna sein.

NEPTUN. Spanne mir meinen Wagen an – doch es hielte uns zu lange auf, bis der Wagen zurechte gemacht und die Pferde angeschirrt wären – Hole mir lieber einen der behendesten Delphinen; auf dem denke ich am bäldesten an Ort und Stelle zu kommen.

TRITON zurückkommend. Hier ist der schnelleste aller Delphinen zu deinen Diensten.

NEPTUN. Gut! ich reite davon, und du, Triton, schwimmst neben her. – Nun, da wir zu Lerna angelangt sind, will ich mich hier irgendwo verstecken, und du gib acht, und wenn du sie kommen siehst –

TRITON. Da ist sie schon ganz nahe!

NEPTUN. Ein hübsches Mädchen, Triton, ein reizendes Mädchen! Wir müssen uns ihrer bemächtigen! Neptun greift zu.

AMYMONE. Kerl, was zerrst du mich so? Wo willst du hin mit mir? Du bist ein Menschendieb, du siehst mir gerade so aus, als ob du mir von meinem Oheim Ägyptus übern Hals geschickt seist. Ich werde meinem Vater rufen. Sie ruft.[329]

TRITON. Stille, Amymone! es ist Neptun!

AMYMONE. Das mag mir ein feiner Neptun sein! – Wie? Du brauchst Gewalt, Mann? Du ziehst mich ins Meer hinab? Ich Unglückliche! Ich werd im Wasser ersticken!

NEPTUN. Sei ruhig, es soll dir kein Leid geschehen! Ich will mit meinem Dreizack eine Quelle deines Namens aus dem Felsen hier hervorspringen machen, und du sollst glücklich und die einzige unter deinen Schwestern sein, die nicht nach ihrem Tode noch Wasser schöpfen muß.

Quelle:
Lukian: Werke in drei Bänden. Berlin, Weimar 21981, Band 1, S. 328-330.
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