IX. Helle.

[332] Neptunus, Amphitrite und andre Nereiden.


NEPTUN. Die Meerenge, in welche das Mädchen gefallen ist, soll künftig nach ihrem Namen das Meer der Helle (Hellespontus) genannt werden. Ihren Leichnam aber tragt ihr Nereiden an die Küste von Troas, damit er von den Anwohnern begraben werde.

AMPHITRITE. Nicht so, Neptun! Wir selbst wollen sie in ebendiesem Meere, das ihren Namen führt, begraben. Das arme[332] Mädchen hat von ihrer Stiefmutter so viel gelitten, daß wir sie recht herzlich bedauern.

NEPTUN. Dein Vorschlag geht nicht an, Amphitrite, und es würde auch nicht anständig sein, wenn sie hier irgendwo unterm Sande läge: sie soll, wie gesagt, auf dem dies- oder jenseitigen Ufer ordentlich zur Erde bestattet werden! Übrigens wird es ihr zu nicht geringem Troste gereichen, daß Ino in kurzem das nämliche Schicksal haben und, von dem rasenden Athamas verfolgt, genötiget sein wird, sich von der äußersten Spitze des Cithärons ins Meer zu stürzen.

AMPHITRITE. Aber diese Ino werden wir schon dem Bacchus zu Ehren retten müssen, da sie seine Amme gewesen ist?

NEPTUN. Sie hätte es freilich ihres bösen Gemütes wegen nicht verdient: aber, wie du sagst, es wäre unschicklich, dem Bacchus hierin nicht gefällig zu sein.

EINE NEREIDE. Aber wie kam es denn, daß die arme Helle von ihrem Widder herabfiel, ihr Bruder Phryxus hingegen sicher und wohlbehalten auf ihm davonreitet?

NEPTUN. Das geht sehr natürlich zu: Phryxus ist ein Jüngling, der Mut und Kräfte hat, eine solche Fahrt auszuhalten: das Mädchen hingegen, der eine so seltsame und grausenhafte Luftreise an sich schon bange machen und die pfeilschnelle Geschwindigkeit des Flugs den Schwindel verursachen mußte, brauchte nur einen Blick in die entsetzliche Tiefe unter ihr zu tun, um vollends so betäubt zu werden, daß sie die Hörner des Widders, woran sie sich bisher festgehalten hatte, einen Augenblick aus den Händen ließ und also ins Meer herabfallen mußte.

DIE NEREIDE. Aber hätte ihr denn ihre Mutter Nephele nicht zu Hülfe kommen sollen, wie sie das Mädchen fallen sah?

NEPTUN. Freilich hätte sie sollen; aber was vermag Nephele gegen die überlegene Macht des Schicksals?[333]

Quelle:
Lukian: Werke in drei Bänden. Berlin, Weimar 21981, Band 1, S. 332-334.
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