Elftes Capitel.

Im Kerker.

[626] »Gefangen,« welch schreckliches Wort, welche vernichtende Gedanken reihen sich an diesen einzigen Begriff.

Gefangen, auf Lebenszeit der Freiheit beraubt, wie entsetzlich, ein solches Urtheil zu vernehmen.

Nur verstohlen lugt das Tageslicht durch das kleine vergitterte Fenster herein, und dumpf schlägt das summende Geräusch des lebhaften Verkehrs in den Straßen an das ängstlich lauschende Ohr.

Wie die Minuten so langsam verrinnen, wie die Stunden so endlos erscheinen!

Wie viel Minuten hat die Stunde? Nie viel Stunden der Tag, wie viel Tage das Jahr und wie viel Jahre zählt das Leben? Ist es denn möglich, solche Marter zu ertragen? Es kann nicht sein!

Nackte Wände umgeben mich; hier steht mein hartes Lager, dort der steinerne Wasserkrug; eiserne Stangen, kreuzweise miteinander verbunden, versperren die Fensteröffnung, und eiserne Schienen und schwere Riegel lassen kaum noch eine Probe von dem Holz der Thüre durchschimmern.

»Ach, welche Vorsichtsmaßregeln, um einen einzigen schwachen Sterblichen gefangen zu halten! Und dennoch, sie sind nicht zu stark; denn hinter den eisernen Stangen und hinter den schweren Schlössern liegt die Freiheit, die holde, süße Freiheit, und wer fühlte nicht Riesenkräfte in seinen Armen, wenn es gilt, die Freiheit zu erringen!

Solche Gedanken beschäftigten meinen Geist, als[626] ich den ersten Schlag meiner Verhaftung überwunden und eine ruhigere Ueberlegung an Stelle des wahnsinnigen Schmerzes getreten war.

Traurig und langsamen Schrittes durchmaß ich meine düstere Zelle, und vergeblich versuchte ich eine letzte Spur von dem jugendlichen Muth wachzurufen, der mich vor Kurzem noch in so hohem Grade beseelte.

Mein Fenster lag nach der Straße hinaus; aus Besorgniß, daß ich oder Andere, die mein Schicksal theilten, sich durch Zeichen mit den vorüberwandelnden Menschen verständigen könnten, hatte man vor den eisernen Gittern hölzerne, grün angestrichene Jalousien angebracht, deren Oeffnungen aber nach oben wiesen. Man gönnte uns nicht den Anblick lebender Wesen; einige schmale Streifen des Himmels waren Alles, was man uns ließ. Wie wenig, und roch schöpfte ich daraus so manchen Trost, so manche Hoffnung.

Stundenlang stand ich vor den knapp zugemessenen Oeffnungen, die Blicke emporgerichtet. Andächtig betrachtete ich den bald blauen, bald verschleierten Himmel. Die dahinziehenden Wolken schienen in meinen Augen Leben zu erhalten und ich beneidete sie um die weite Fernsicht, welche ihnen dort oben offen stand. Erblickte ich aber gar eine Schwalbe, die fröhlich und sorglos meinen so neidisch begrenzten Gesichtskreis durchsegelte, dann hatte ich weinen mögen vor bitterem Weh und Herzeleid.

Als die Schwalben zum letzten Mal beim Herannahen des Winters schieden, da zog in meine Brust der Frühling ein, und jetzt, da die Verkünderinnen des Frühlings wieder eingetroffen, durchbebte winterliche Kälte meine Seele. Ich war gealtert, mein Lebensmuth gebrochen, und an den schönsten Traum meines Lebens durfte ich nicht denken, wenn ich nicht dem Wahnsinn anheimfallen wollte.

Welchen Begriff hatte ich ehemals von der Freiheit, und welchen jetzt? Und wie erniedrigt erschien ich mir, der ich, einem leeren Phantom nachjagend, ein irdisches Paradies leichtsinnig von mir gestoßen hatte!

Ich wollte an Johanna schreiben, in einem Briefe an sie Trost suchen, ihr mein Verhalten, so gut es in meinen Kräften stand, erklären und ihre Verzeihung erflehen, allein ich wurde als Hochverräther behandelt, der sogar nicht einmal in brieflichen Verkehr mit der Außenwelt treten durfte. Ebenso wurden auch alle Briefe zurückgewiesen, welche an die Gefangenen einliefen. Es war ein grausames Verfahren, welches man gegen uns einschlug, ich ertrug es aber mit verhältnißmäßig ruhiger Ergebung, denn nachdem ich Alles, Alles verloren, gab es ja nichts mehr, das mich noch tiefer zu beugen vermocht hätte.

So verstrich die erste Zeit meiner Haft; mich kümmerten weder Verhöre noch Verurtheilung. Ich gab mir nicht einmal die Mühe, darauf hinzuweisen, daß ich eigentlich und ursprünglich wider meinen Willen in die demagogischen Umtriebe hineingerissen worden sei und mich erst später mit leicht entzündlichem, jugendlichem Enthusiasmus denselben rücksichtslos in die Arme geworfen habe. Ich war ja ein Mann, der wissen mußte, was er thun und lassen durfte und daher für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden konnte; und selbst um den Preis[627] meines Lebens oder, was mir gleichbedeutend war, der Freiheit, hätte ich Keinen meiner Mitschuldigen genannt, obwohl die Zweifel, welche über Bernhard's Redlichkeit in mir erwacht waren, sich allmälig immer mehr befestigten und klarere Formen erhielten.

Meine Verurtheilung zu lebenslänglicher Einschließung vernahm ich ohne zu beben; ich zuckte höhnisch die Achseln, in der Ueberzeugung, daß mein Leben unter der Last der an meiner Seele nagenden Selbstvorwürfe von keiner großen Dauer sein könne. Ich war auf das Urtheil gefaßt und suchte einen gewissen Stolz darin, auch nicht den leisesten Anflug von unmännlicher Schwäche zu verrathen.

In meinen Kerker zurückgekehrt, gab ich mich indessen wieder ganz meinem Brüten hin, welches so weit ging, daß ich endlich nur noch wie ein Schlaftrunkener dahinvegetirte und weder den Schließer, noch den Gefängnißwärter eines Wortes oder eines Blickes würdigte.

Ob der Schließer Mitleid mit meiner Jugend und mit meiner hoffnungslosen Lage empfand, oder ob er nach den Eingebungen Anderer handelte, gab ich mir nicht die Mühe zu ergründen; ich bin aber geneigt, Ersteres anzunehmen, denn vier Monate mochte ich in meiner Haft zugebracht haben, als er eines Morgens zur ungewöhnlichen Stunde bei mir eintrat und mir zwei Briefe überreichte.«

»Sie werden mich nicht verlachen,« sagte er in gleichgültigem Tone, »der eine Brief traf vierzehn Tage nach ihrer Verhaftung ein, der andere vor zwei Monaten. Ich unterschlug sie, anstatt sie zurückzusenden, und da nicht weiter nach dem Verbleib derselben geforscht wurde, stelle ich sie Ihnen jetzt zu.« Dankend nahm ich die Briefe entgegen, ich hatte die Handschrift meines Vormundes erkannt, und kaum noch fähig, meine tiefe Bewegung zu verbergen, leistete ich das feierliche Versprechen, nie ein Wort über den Empfang derselben verlauten zu lassen.

Sobald ich wieder allein war, setzte ich mich auf mein Lager nieder. Lange und aufmerksam betrachtete ich die Aufschrift; ich fürchtete mich, den Inhalt kennen zu lernen, denn was konnte mein Vormund mir anders mitzutheilen haben, als die Versicherungen seines Zornes und seiner Verachtung? Da trat Johanna's trauerndes Bild mir vor die Seele, und hoffend von ihr oder über sie etwas zu erfahren, riß ich den älteren Brief schnell auf.

Das Schreiben war nur eine halbe Seite lang und ebenfalls von der Hand des Oberstlieutenants. Etwas enttäuscht wendete ich mich dem durch die Fugen der Jalousien hereinfallenden Lichtstrahl zu und las:

»Der Würfel ist gefallen; Du bist abtrünnig geworden und ich kann, ohne meinem Könige die Treue zu brechen, keine Gemeinschaft mehr mit einem Hochverräther halten. Einen Mord hätte ich Dir verziehen, allein daß Du mit zu den Häuptern der Umsturzparthei gehörst, verzeihe ich Dir niemals. Hinter meinem Rücken, während ich Dir vielleicht mit väterlicher Zuneigung die Hand drückte, hast Du gegen unsere hohe Landesregierung conspirirt. Du erleidest jetzt die Strafe für Deinen Verrath, für welchen Dein Leichtsinn nicht einmal eine Entschuldigung ist. Meiner Vormundschaft über Dich, die[628] ohnehin nächstens abläuft, werde ich mich baldmöglichst entledigen und Dir den Rest Deines Vermögens zur Verfügung stellen. Es soll mich freuen, wenn die paar hundert Thaler dazu dienen, Dir die wohlverdiente Strafe zu erleichtern.

Werker, Oberstlieutenant und Oberförster.«


»Kein Wort über Johanna,« sagte ich erschüttert, indem ich den Brief, dessen Inhalt mich übrigens nicht im Mindesten überraschte, wieder zusammenfaltete. Da fiel ein schmaler Papierstreisen, der zwischen den beiden Blättern des Bogens verborgen gewesen, lustig um sich selbst herumwirbelnd, vor mir auf die Erde. Hastig griff ich nach demselben, und ich glaubte meinen Äugen nicht trauen zu dürfen, als ich Johanna's zierliche Schriftzüge erkannte. Offenbar hatte sie, da ihr das Schreiben untersagt worden war, den Papierstreifen heimlich in den schon versiegelten Brief hineingeschoben, um mir wenigstens ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Meine Hand bebte bei dieser Entdeckung, und längere Zeit dauerte es, bis ich die vor meinem umflorten Augen in einander verschwimmenden Buchstaben von einander zu trennen vermochte.

»Gustav, ewig und innig geliebter Gustav, habe Vertrauen zu Deiner Johanna! Sage mir, wie ich Dir helfen kann, und sollte es mich das Leben kosten, beglückt gebe ich es hin, wenn es zu Deiner Rettung dient. Ich fühle mich stark und gesund, ich weine nicht mehr, aber Tag und Nacht sinne ich auf Mittel, Dich wiederzusehen, an Deinem treuen Herzen zu ruhen. Gott segne und beschütze Dich! ewig, ewig unveränderlich Deine Johanna.«

»Nicht einmal den leisesten Vorwurf hast Du edles Mädchen für mich,« seufzte ich, und von wildem Schmerz überwältigt sank ich auf mein Lager hin. Thränen entstürzten meinen Augen; obwohl ein Mann, weinte ich, wie in meinen ersten Kinderjahren, ich weinte so lange, bis ich leine Thräne mehr hatte und die Erschöpfung meine Geisteskräfte förmlich lähmte.

»Keinen Vorwurf, keine Klage, sondern nur Liebe, reine, rücksichtslose, hingebende Liebe,« wiederholte ich unablässig. »O, es ist die härteste Strafe, die mich hätte treffen können,« fuhr ich in Gedanken fort, ›ich fühle mich stark und gesund, ich weine nicht mehr,‹ »ach, welche Welt voll Jammer und Schmerz liegt in diesen Worten! Und ich, ich allein habe Alles verschuldet, habe das arme vertrauensvolle Mädchen mit mir in das Verderben hinabgerissen!«

Dann gedachte ich der Unglück verheißenden Worte meines Vormundes: »Die Sünden der Eltern werden heimgesucht an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied,« dann wieder der Weissagung der Irrsinnigen, um den Eindruck des Vorhergegangenen abzuschwächen; aber es gelang mir nicht. Ich vergegenwärtigte mir die krankhafte Röche auf Johanna's Wangen, ihren zarten Körper, ihr leicht erregbares Gemüth, und immer schwärzere Ahnungen tauchten vor meiner Seele auf. Ich kannte sie ja hinlänglich, um zu befürchten, daß ein so schwerer Schlag ihre Gesundheit vollständig untergraben, sie an den Rand des Grabes bringen könne. Doch der Leidensbecher, der mir an diesem Tage dargereicht worden, war noch nicht bis auf die Hefe geleert. –

Lange dauerte es, bis ich es über mich gewann,[629] auch den zweiten Brief zu erbrechen. Derselbe war ebenfalls von meinem Vormunde aber zwei Monate später geschrieben. Vorsichtig faltete ich ihn auseinander, ihn erwartungsvoll von allen Seiten betrachtend; kein freundlich tröstender und doch auch wieder so viel Jammer erzeugender Papierstreifen fiel mir entgegen. Johanna hatte also keine Gelegenheit gefunden, mir ein Wort der Liebe zukommen zu lassen.

Mechanisch richtete ich meine Blicke auf die bekannten Schriftzüge, aber nach Lesung der ersten Worte fühlte ich bereits, daß ich erbleichte und mir das Blut in den Adern stockte.

»Unglücklicher,« begann der Brief, »nicht genug, daß Du schwarzen Verrath an König und Vaterland begingst und dadurch Deinen Vater im Grabe entehrtest, hast Du auch als Schurke an mir und meiner armen Johanna gehandelt! Im Vertrauen auf die Ehrenhaftigkeit Deines Charakters machte ich Dir über Johanna's Eltern die umfassendsten und genauesten Mittheilungen. Anstatt, Deinem gegebenen Worte getreu, das tiefste Stillschweigen über Alles, was Johanna's Vergangenheit betrifft, zu bewahren, hast Du Mittel und Wege gefunden, ihr nicht nur das traurige Ende ihres Vaters bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern, sondern sie auch über den Lebenswandel ihrer Mutter aufzuklären! Wahnsinniger, weißt Du, was Du gethan hast?! Du hast den ersten Nagel in den Sarg meiner armen Nichte geschlagen! Versuche es nicht, Dich zu entschuldigen; außer Dir und meiner Lisette wußte hier Niemand um die Geschichte. Du hast den Frevel vielleicht mit der guten Absicht begangen, ihren schnellen Tod herbeizuführen und dadurch ihren Jammer um Dich Elenden abzukürzen. Freue Dich, triumphire, Du hast Deinen Zweck erreicht! Niemand wird bei Johanna die Stelle des zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurtheilten Hochverräthers vertreten.«

Ich war wie erstarrt; ich las den Brief noch einmal langsam durch; meine Augen brannten in ihren Höhlen, wie glühende Kugeln, und keine mitleidige Thräne war da, den furchtbaren Brand zu kühlen, kein Seufzer stand mir zu Gebote, die auf meine Brust gewalzte Last zu erleichtern. In mich gekehrt und taumelnd, wie ein Berauschter, ging ich in meiner Zelle auf und ab. Die schweren Anklagen meines Vormundes kränkten mich nicht, ich fand sie gerechtfertigt und natürlich; denn er konnte nicht anders glauben, als daß ich das Verbrechen an Johanna begangen habe; aber daß dieses Unglück mit seinen unberechenbaren Folgen überhaupt hereingebrochen, das war es, was mir fast die Sinne raubte. Und dennoch dachte ich in jener entsetzlichen Stunde weniger an die muthmaßlichen Folgen, als an Denjenigen, der durch die schändlichste Verrätherei das Unheil heraufbeschworen haben konnte.

»Wer hat es gethan?« murmelte ich vor mich hin, indem ich ununterbrochen meinen Spaziergang in der engen Zelle von dem einen nach dem andern Ende fortsetzte. »Wer hat es gethan? Wer hat das furchtbare Verbrechen begangen,« fragte ich noch immer halblaut, als man mir mein kärgliches Mittagmahl brachte. »Wer hat es gethan? Der Schwarze; vielleicht Bernhard. Hüte Dich vor dem Schwarzen,« sprach ich, als der Gefängnißwärter die unangerührten[630] Speisen wieder hinaustrug. »Hüte Dich vor dem Schwarzen; Bernhard war mein Feind, mein böser Geist,« flüsterte ich mit trockenen Lippen, als die Sonne sich senkte. »Arme Johanna, hüte Dich vor dem Schwarzen,« keuchte ich noch mit letzter Kraft, als die Dämmerung die wenigen Gegenstände in meinem Gemach entstellte und unkenntlich zu machen begann; und dann warf ich mich auf die harten Planken des Fußbodens nieder, meine brennende Stirn gegen das dicke Eisenblech der Thür pressend.

Was in nächster Zeit mit mir vorging, weiß ich nicht; ich gelangte in den Lazarethräumen des Gefängnisses nach langer schwerer Krankheit zum Bewußtsein. Ein hitziges Nervenfieber hatte mich an die Pforten des Jenseits geführt, mein kräftiger Körper dagegen dem Tode fast noch im letzten Augenblick seine Beute streitig gemacht.

O, wäre ich damals gestorben, wie viel Kummer und Herzeleid wäre mir erspart geblieben! Aber es sollte nicht sein.

Langsam und allmälig erwachte ich wieder zum Leben, zu einem Dasein zwischen düstern Gefängnißmauern, und als einen gräßlichen Hohn betrachtete ich es, daß man mich so sorgfältig pflegte, sich so viel Mühe mit einem zu lebenslänglicher Haft Verdammten gab; doch ich mußte es geschehen lassen. –

In dem Maaße, wie meine Kräfte zunahmen, traten auch die Bilder der Vergangenheit wieder deutlicher hervor. Anfangs erschien mir Alles wie ein wüster Traum, in welchem zwei Briefe die Hauptrolle gespielt. Erst der Schließer klärte mich über meine Zweifel auf und erzählte mir, daß er mich bereits vor vier Wochen mit den zusammengeknitterten Briefen in den Händen bewußtlos auf der Erde liegend in meiner Zelle vorgefunden habe. Die Briefe hatte er so dann, bevor er Hülfe herbeiholte, an sich genommen, um einer etwanigen Entdeckung und demnächstiger Strafe für das Dienstvergehen vorzubeugen. Seine Besorgniß war indessen damit noch nicht beseitigt gewesen, denn in meinen Fieberphantasien hatte ich so viel von Briefen, von Johanna und dem Oberstlieutenant, von Fräulein Brüsselbach, dem Schwarzen und von Bernhard gesprochen, daß der Arzt sich mehrfach dadurch bewegen fand, nachzuforschen ob auch wohl äußere Einflüsse mit dazu beigetragen hätten, mich in meinen hoffnungslosen Zustand zu versetzen.

Als ich wieder ruhiger und zusammenhängender zu denken vermochte, überredete ich mich leicht, daß die Krankheit im Grunde eine Wohlthat für meinen Gemüthszustand gewesen. Den heftigsten Paroxismus des Schmerzes hatte ich gewissermaßen im bewußtlosen Zustande überwunden. Die vollständige Entkräftung hinderte mich demnächst, mich anhaltend mit der mir von meinem Vormunde entgegengeschleuderten Beschuldigung zu beschäftigen, und als meine Kräfte und die Thätigkeit meines Geistes endlich wieder zurückkehrten, da suchte ich, ohne Hast und Uebereilung, indem ich die Erlebnisse des letzten Jahres gleichsam noch einmal durchlebte und in die kleinsten Einzelheiten zerlegte, zu ergründen, von wem wohl ein so verderblicher Einfluß auf mein und Johanna's Lebensglück ausgeübt sein möge.

Mein Mißtrauen und Argwohn gegen Bernhard erhielten dadurch immer neue Nahrung, und zum[631] ersten Male fragte ich mich, ob die Nachschläge eines Mannes aufrichtig und redlich gemeint gewesen sein könnten, eines Mannes, der, wie Bernhard damals am Godesberger Mineralbrunnen, seine Blicke mit einem so sprechenden Ausdruck unversöhnlichen Hasses in meine Augen senkte.

Damals, als mich nur rosige Hoffnungen erfüllten, als ich alle Menschen wie Freunde hätte umarmen mögen und nur gute Seiten in ihnen zu entdecken suchte, hatte ich jenen Blick des Hasses schnell wieder vergessen oder legte ihm auch eine augenblickliche heftige Gemüthsbewegung als verzeihlichen Grund unter. Jetzt aber dachte ich anders darüber; es wollte mir scheinen, als ob Bernhard, dem er mit seiner ungewöhnlichen Ueberredungsgabe mich in die demagogischen Umtriebe verwickelte und schließlich dafür Sorge trug, daß ich mich öffentlich compromittirte, ein mit vieler Ueberlegung und schlau eingefädeltes Verfahren gegen mich, muthmaßlich auch noch gegen Andere, beobachtete, um einem, vielleicht aus Religionseifer entspringenden Gefühl der Rache und des Hasses zu fröhnen. Hatte er selbst sich doch stets den Rücken frei gehalten und nie eine Blöße gezeigt, die als Handhabe zur Anklage gegen ihn hätte dienen können.

War der Zweck, der ihn in seinem Verkehr mit mir leitete, solcher Art, so hatte er denselben doppelt und dreifach erreicht. Unerklärlich war es mir dagegen, daß er, indem er mich unglücklich machte, auch Johanna mit kaltem Blute mit in das Verderben hinabriß; Johanna, diese unschuldige, reine Seele, diese Heilige, die als halbe Landsmännin von ihm weit eher auf seine warme Theilnahme den gerechtesten Anspruch gehabt hätte.

»Johanna's Mutter stammte aus Italien, Bernhard ist ein Italiener,« grübelte ich, »sollte da nicht eine Verkettung mit frühern Zeiten und Umständen möglich sein?« Weiter drang ich mit meinen Muthmaßungen nicht durch; an diesem Punkte scheiterte mein Scharfsinn, und vergeblich trachtete ich, das hinter demselben in chaotischem Durcheinander Liegende zu enträthseln. Das Mißtrauen, welches in meiner Brust Wurzel geschlagen hatte, war indessen genug, meine Gedanken immer und immer wieder auf diese Frage zurückzulenken. –

So schlichen mir die Tage in dumpfem, unheimlichem Brüten dabin. Die Außenwelt gewann für mich in der Erinnerung eine trübere, nebelhaftere Färbung. Sogar die schmalen Streifen des Himmels, auf welche sich früher meine Augen so oft und so sehnsuchtsvoll richteten, verloren allmälig ihren Reiz für mich. Nur wenn sommerliche Gewitter sich über der Stadt entluden, krachendes Gewölk am Tage die Sonne verfinsterte, oder züngelnde Blitze die schwarze Nacht flüchtig erhellten und ihren bleichen Schein sogar bis in meine einsame Zelle hineinsandten, erwachte in mir auf Stunden das Gefühl, daß ich noch lebe, sogar noch mit instinctartiger Liebe am Leben hänge und mich sehne, den grausamen Verrucht, welchen mein Vormund gegen mich hegte, zu verscheuchen und, vor meinem Scheiden aus dieser Welt, nur noch ein einziges Mal in Johanna's liebe, blaue Augen zu schauen. Denn daß sie gestorben sein könne, ohne daß ich sie wieder gesehen und den süßen Klang ihrer trauten Stimme vernommen habe, das hielt ich für unmöglich.[632]

Nur einmal hatte ich es versucht, in brieflichen Verkehr mit dem Oberstlieutenant zu treten und ihn angefleht, mir Nachricht über Johanna zu geben. Als ich aber meinen Brief unerbrochen zurück erhielt, begriff ich, daß alle meine ferneren Versuche sich als ebenso nutzlos ausweisen würden.

Meinen Kummer mit einem Gemisch von Grimm und Ergebung in meine Brust verschließend, lebte ich von da ab, ohne die Zeit zu berechnen oder irgend eine schwache Hoffnung für die Zukunft zu nähren, ich lebte gewissermaßen wie ein vernunftloses Geschöpf in den Tag hinein. Dabei befremdete mich aber doch, daß mein Vormund noch immer zögerte, mir den Rest meines kleinen Kapitals zur freien Verfügung zu stellen, um mich wenigstens, wie er sich früher geäußert, mit einigen Bequemlichkeiten umgeben zu können. Da ich indessen leine Bequemlichkeiten, die mir nicht aus freien Stücken geboten wurden, vermißte und mit der vorgeschriebenen Gefangenkost zufrieden war, so dachte ich nicht weiter über diese scheinbare Vernachlässigung nach. –

Wiederum hatte der Herbst den sommerlichen Schmuck an Baum und Strauch gebleicht, und wiederum begann der Wind mit den fallenden Blättern zu spielen.

Sechs Monate meiner lebenslänglichen Haft waren bereits verstrichen; beim Rückblick eine kurze Zeit, nach meinem Gefühl viel kürzer, wie jeder einzelne Tag, den ich noch verleben sollte.

Es war in der Dämmerungsstunde; ich hatte mich auf mein Lager gesetzt und den Kopf schwer auf beide Hände stützend, versuchte ich, wie ich um diese Zeit häufig that, mich in einen Mittelzustand zwischen Wachen und Schlafen hineinzudenken. In meinen Betrachtungen störte mich das Geräusch, mit welchem man zuerst die Riegel von der Thür entfernte und demnächst der Schlüssel in dem Schloß umgedreht wurde. Vermuthend, daß der Störung zu so ungewöhnlicher Zeit irgend ein gleichgültiger Einfall des Schließers zu Grunde liege, beabsichtigte ich, ihn nicht weiter zu beachten und mich schlafend zu stellen.

Die Thür öffnete sich, ein heller Lichtstrahl drang zu mir herein und gleichzeitig vernahm ich des Schließers höfliches »dort sitzt er«.

Ich war im Begriff, zu dem fremden Besucher empor zu schauen, doch besann ich mich schnell eines Andern, und ohne meine Stellung zu verändern blieb ich ruhig sitzen.

Gleich darauf trat ein Mann mit festen Schritten zu mir heran und erfaßte mit prüfendem Griff meiner, rechten Arm oberhalb des Handgelenkes, während seine andere Hand sich in die meinige legte und dieselbe heftig und bezeichnend drückte.[695]

Ich wollte emporspringen, doch wurde ich niedergehalten, und als ich meine Bücke auf den seltsamen Ruhestörer richtete, sah ich in das mir vollständig unbekannte Gesicht eines ältlichen Herrn, der wieder mit dem Ausdruck wohlwollender Theilnahme zu mir niederschaute.

»Was verschafft mit die Ehre –?« fragte ich verwirrt.

»Nur ruhig, nur ganz ruhig,« unterbrach mich der Fremde in freundlichem Tone, und wiederum fühlte ich den heftigen Händedruck, »Sie dürfen sich unter keiner Bedingung aufregen, jede Aufregung kann Ihrer Krankheit eine tödtliche Wendung geben.«

»Aber ich bitte Sie,« entgegnete ich noch verwirrter, denn ich vermuthete eine Verwechselung, »es muß ein Irrthum obwalten –«

»Schließer, haben Sie die Güte und leuchten Sie hierher,« wendete er sich zu seinem an der Thür stehenden Begleiter, meine Worte offenbar absichtlich überhörend.

Der Schließer kam und leuchtete mir in's Gesicht, während der Arzt, denn ein solcher konnte es nur sein, noch immer meinen Puls prüfte und zum dritten Male meine Hand drückte.

»Aber ich begreife nicht,« stammelte ich, bald den Arzt, bald den Schließer fragend anblickend.

»Ruhig, ich bitte Sie dringend,« versetzte der Arzt, mir jetzt seine Hand auf die Schulter legend, »leider ein Rückfall,« wendete er sich dann mit unterdrückter Stimme an den Schließer, »sehen Sie diesen verstörten, leeren Blick, diese fieberhafte Röthe; ein wahres Glück, daß ich, indem ich unten vorbei ging, sein Toben vernahm. Blieb er diese Nacht hülflos hier liegen, so war er verloren. Fühlen Sie sich noch stark genug, ohne fremde Hülfe die kurze Strecke nach dem Lazareth zurückzulegen?« fragte er darauf, indem er sich zu mir niederneigte, »nein, gut, ich dachte mir es schon,« fuhr er fort, ohne meine Antwort abzuwarten; »Schließer, gehen Sie doch und holen Sie Hülfe, damit wir ihn sogleich fortbringen können, wir haben keine Minute zu verlieren.«

Der Angeredete stellte den Leuchter auf den alten Bretterstuhl und entfernte sich schleunigst; kaum aber war er aus der Thüre getreten, so neigte der Arzt sich wieder zu mir nieder.

»Herr Wandel,« flüsterte er geheimnißvoll und dringend, »es handelt sich um ihre Freiheit; Sie müssen mehrere Tage sehr krank sein; unbekannte Freunde wollen Ihnen zur Flucht verhelfen.«

»Wer?« fragte ich leise, und mein Puls schlug jetzt wirklich, wie im stärksten Fieberparoxismus.

»Fragen Hie nicht, um Gotteswillen! Wollen Sie uns Alle unglücklich machen? Ich werde Sie[696] an Stelle des auf kurze Zeit und auf Ihrer Freunde Veranlassung verreisten Gefängnißarztes behandeln. Wenn Ihnen um Ihre Freiheit zu thun ist, so sprechen Sie nichts Anderes, als was ich Ihnen in den Mund lege, und handeln Sie pünktlich so, wie ich es Ihnen in Form von ärztlichen Anordnungen vorschreiben werde. Rasen Sie, toben und Phantasiren oder schlafen Sie ununterbrochen; thun Sie, was Sie wollen, nur schwer krank müssen Sie sein und über die furchtbarsten Kopfschmerzen und unerträgliches Gliederreißen klagen – und nun versuchen Sie noch einmal aufzustehen,« fuhr er in plötzlich verändertem Tone fort, als der Schlicher sich mit zwei Männern und einer Tragbahre näherte; »so – so – es geht schon besser, nun stützen Sie sich fest auf meine Schulter, hier herum, Ihr Leute; aber recht vorsichtig, wenn ich bitten darf.«

Die Leute folgten dem an sie ergangenen Befehl, und ganz in die Zelle eintretend, stellten sie die mit einer Malratze bedeckte Bahre neben mich hin, worauf der Arzt mich, scheinbar mit großer Besorgniß, auf dieselbe niedergleiten ließ.

Nachdem er sodann meinen Kopf etwas höher gelegt und meine Fuße nach der Bahre hinaufgehoben hatte, fragte er, ob ich bequem liege.

»Vollständig bequem,« antwortete ich mit einer Stimme, die sich, in Folge der furchtbaren Aufregung, kaum von der eines mit dem Tode Ringenden unterschied.

»Wo haben Sie die größten Schmerzen?« fragte der Arzt weiter.

»Im Kopf und in den Gelenken,« versetzte ich flüsternd und zugleich vor Verwirrung und Angst die Augen schließend.

»Hm, hm, gerade wie ich vermuthete,« murmelte der Arzt, indem er den Kopf bedenklich schüttelte und wieder nach meinem Puls griff. »Ja ja, eine schwere Krisis ist im Anzuge, keine Minute dürfen wir verlieren,« und dann den Leuten ein Zeichen gebend, ihre Last aufzuheben und nach der bestimmten Räumlichkeit zu tragen, schritt er, meine Hand fortwährend in der seinigen haltend, neben der Bahre her.

Nachdem man mich in ein für erkrankte Gefangene eingerichtetes Zimmer gebracht und demnächst den in solchen Fällen üblichen Formen und Vorschriften genügt hatte, untersuchte der Arzt mich noch einmal sehr aufmerksam. Den beiden für mich bestimmten Wächtern schärfte er die größte Gewissenhaftigkeit bei der Verabreichung der von ihm selbst angefertigten Arznei ein, die, wie ich herauszuschmecken glaubte, aus dem vorzüglichsten und ganz unvermischten Madeira bestand. Auch befahl er ihnen, sobald ich in Raserei verfallen sollte, nach ihm zu schicken, und als er dann noch einmal sein Ohr an meine Lippen gelegt, wie um auf meinen Athem zu lauschen, in der Thal aber, um mir das Wort »Muth« zuzuflüstern, entfernte er sich mit dem Versprechen, mich am folgenden Morgen in aller Frühe besuchen zu wollen.

Während dieser ganzen Zeit hatte ich kaum die Augen zu öffnen gewagt, aus Furcht, daß man der Betrug aus denselben herauslesen würde; und so viel errieth ich wohl, daß vorläufig der Arzt die einzige Persönlichkeit in meiner Umgebung sei, welche um meine beabsichtigte Flucht wisse.[697]

Wie die Flucht aus so festen und wohlbewachten Räumen möglich gemacht werden könne, war mehr, als ich mir zu erklären vermochte; denn außerdem, daß die beiden handfesten Wärter zugleich das Amt von Wächtern bei mir vertraten, hatte man mir auch meine Kleider fortgenommen, und nicht nur auf den Hauptgängen des Gebäudes, sondern sogar auch vor meiner Thüre standen besondere Schildwachen, welche den ausdrücklichen Befehl hatten, keinen unbekannten Menschen vorbei zu lassen. Das sichere und entschiedene Wesen des Arztes flößte mir indessen Vertrauen ein und machte ganz den Eindruck, als ob er seiner Sache vollständig gewiß sei und nach einem bestimmt vorgeschriebenen Plane handle. –

Erst als ich mich mit meinen beiden Wächtern in dem Gemach, in welchem außer meinem Lager noch drei unbesetzte Betten standen, allein befand, gelang es mir, meine Gedanken wieder nothdürftig zu sammeln. Die Verwirrung, in welcher ich so lange geschwebt hatte, war mir insoweit zu statten gekommen, daß ich mich anfangs nur mechanisch und wie ein Trunkener bewegte. Die darauf folgende Ruhe und der Umstand, daß ich wie betäubt, mit geschlossenen Augen dalag, dienten nicht minder dazu, meine Wärter in ihrem Glauben an meinen bedenklichen Zustand zu bestärken. Doch fühlte ich, daß, um den Absichten meiner unbekannten, wohlwollenden Freunde entgegenzukommen und meine Aufnahme in den Lazarethräumen zu rechtfertigen, ich mich ganz anders geberden müsse.

Mit der Aussicht, noch einmal meine volle Freiheit zu genießen, trat auch die Sehnsucht nach derselben wieder in ihrem ganzen Umfange in den Vordergrund. Von ihr hoffte ich Alles, was mein Herz am meisten bewegte, und in dem Grade, in welchem wein Geist zu arbeiten begann, schien auch mein Scharfsinn zu wachsen, die physische Kraft sich aber gewissermaßen zu dem mir noch unbekannten Unternehmen vorzubereiten.

Wohl eine Stunde mochte ich zwischen meinen beiden Wärtern mit geschlossenen Augen dagelegen haben, aufmerksam lauschend ihrer Unterhaltung, die sie sehr frei führten, weil sie mich für vollständig unzurechnungsfähig hielten. Aus ihrem Gespräch ging hervor, daß sie nicht zu den Vertrauten des Arztes gehörten, ein doppelter Grund für mich, sie in ihrer Täuschung zu bestärken. Ich ermannte mich daher, und mich in meinem Bett aufrichtend und zuerst den einen und dann den andern verwunderungsvoll anschauend, fragte ich im heimlichen Flüsterton, ob noch keine Depeschen für mich eingelaufen seien.

Die Wärter nickten sich gegenseitig mit dem Ausdruck des Verständnisses zu, als ob sie hätten sagen wollen, wie zutreffend der Ausspruch des Arztes gewesen, worauf sie mich mit sehr wenig Förmlichkeit in mein Bett niederdrückten.

»Wer wagt es, mich anzurühren?« redete ich sie scharf an, »wer wagt es, mich anzurühren, mich, einen freien Mann? Hütet Euch! hütet Euch vor dem Schwarzen!«

Die Wärter, offenbar an dergleichen Scenen gewöhnt, betrachteten mich ruhig, ohne wir eine Antwort zu ertheilen. Sie gingen ohne Zweifel mit sich zu Rathe, wann wohl die richtige Zeit sei, den Doctor herbeizurufen. Diesen wünschte ich indessen nicht zu[698] belästigen, weßhalb ich mit meinem erheuchelten Delirium eben nur so weit ging, wie nöthig war, um die Wärter in gehöriger Spannung zu erhalten. Dies gelang mir denn auch so gut, daß beide, als ich mich gegen Mitternacht beruhigte, sich mit einem »Gott sei Dank« auf ihren Stühlen ausreckten und ebenfalls ein Stündchen zu schlafen suchten.

Mich selbst ließ die Aufregung nicht zum Schlafe kommen; ich verhielt mich indessen still bis zum Morgen, und eine unbeschreibliche Beruhigung gewährte es mir, als endlich der Arzt eintrat und sich bei den Wärtern in geschäftsmäßiger Weise erkundigte, wie ich die Nacht verbracht habe.

Die Antwort schien ihn zufrieden zu stellen, und mit einem wohlwollenden Lächeln meinen Puls prüfend, setzte er sich neben mein Lager hin. Theilnehmend fragte er nach Diesem und Jenem, mehrfach zustimmend nickend, und dann wieder bedenklich die Achseln zuckend.

»Ich finde Sie besser,« sagte er dann so laut, daß die Wärter seine Worte verstanden, viel besser, als ich Sie zu finden erwartete. »In den nächsten vier Tagen werden Sie aber das Bett unbedingt nicht verlassen dürfen; denn fühlen Sie den Tag über Ihren Kopf auch freier, so bezweifle ich doch kaum, daß gegen Abend das Fieber sich wieder einstellt. Am Tage wird daher nur ein Aufwärter bei Ihnen genügen; sprechen Sie aber so wenig wie möglich, am besten ist es, Sie sprechen gar nicht, und bemühen Sie sich, alle aufregenden Gedanken von sich fern zu halten. Suchen Sie die Vergangenheit zu vergessen; geschehene Dinge lassen sich nicht ungeschehen machen, und was die Zukunft anbetrifft, da rathe ich Ihnen, nicht so schwarz zu sehen; es kommt ja doch Alles so, wie ein weiser Wille es vorherbestimmt hat.«

Bei diesen Worten drückte er mir bezeichnend die Hand, ich dankte mit leiser Stimme für seine Güte und Theilnahme und dann empfahl er sich mit einem freundlichen Kopfnicken.

Mein am Tage und in der kommenden Nacht zu beobachtendes Benehmen hatte der Arzt mir also vorgeschrieben und zum Ueberfluß noch eine Erneuerung der schon erwähnten Arznei hinzugefügt.

Selbstverständlich leistete ich pünktlich Folge. Ich schlief, ich fieberte, ich phantasirte und schlief wieder, und als es dann auf's Neue Tag wurde, erhielt ich abermals meine Verhaltungsiegeln für die nächsten vierundzwanzig Stunden.

Und so ging es fort, ein Tag verrann nach dem andern, die eine Verordnung lautete wie die andere, und meine Krankheit blieb dieselbe, nur daß die strenge Diät und das ununterbrochene Liegen mich wirklich schwächten, die entsetzliche Spannung, in der ich beständig lebte, mich in der That fast krank machte.

Am neunten Tage endlich erhielt ich die Andeutung, daß die Stunde der Entscheidung nahe und ich mich bereit zu halten habe.

Nachdem nämlich der Arzt in der Frühe sich von den Wärtern den gewöhnlichen Bericht hatte erstatten lassen und sich sehr zufrieden über den Verlauf der Krankheit ausgesprochen, wendete er sich mir zu.

»Ich gratulire zur baldigen Genesung,« sagte er, bei welchen Worten ich fühlte, wie mir das Blut bis in die Schläfen hinaufstieg.[699]

Die stumme Aeußerung meiner Freude mußte ihm aber gefährlich scheinen, denn er mahnte mich durch einen Blick zur Vorsicht, und mir mit dem Ausdruck des Bedauerns die Hand auf die Brust legend, rief er mitleidig aus: »Armer junger Mann, ich gratulire, und wozu? Ach, leider nur zum Uebersiedeln aus der Krankenstube in's Gefängniß. Doch wir müssen daß Unsrige jederzeit auf Pflicht und Gewissen leisten und uns nie unmännlich weich finden lassen. Ja, Sie sind jetzt außer Gefahr; nur behutsam und vorsichtig müssen Sie sein. Ein Rückfall, und Sie sind, nach menschlicher Berechnung, verloren. Ich werde Ihnen noch eine leichte Medicin verordnen, nehmen Sie dieselbe nach Vorschrift. Das Fieber wird heute Abend ganz fortbleiben, Sie aber dafür in einen festen und ruhigen Schlaf verfallen, der voraussichtlich bis gegen ein Uhr dauern wird. Sollten Sie wirklich während des Restes der Nacht einige Unruhe empfinden, so suchen Sie dieselbe niederzukämpfen und seien Sie überzeugt, daß Sie sich morgen sehr gekräftigt von Ihrem Lager erheben.«

Ich dankte dem wohlwollenden Freunde durch einen Blick, er drückte mir noch einmal herzlich die Hand, worauf er mit seinem eigenthümlichen herablassenden Kopfnicken gegen die beiden Wärter schied.

Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 626-633,695-700.
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