Sechstes Capitel.

Der arme Anton.

[571] Die Woche verging mir langsamer als gewöhnlich, trotzdem ich die Collegien regelmäßig besuchte und mich sogar in den müßigen Stunden ernstlich mit meinen Studien beschäftigte.

Ich sehnte den Sonntag herbei, welchen ich, wie verabredet, auf der Oberförsterei zubringen sollte; nebenbei erwartete ich ungeduldig neue Nachrichten über die geheime Verbindung und deren Zwecke, doch wurde die Zeit dadurch nicht beflügelt; im Gegentheil, sie schien immer träger zu entrinnen.

Mehrfach begegnete ich Bernhard; sein Antlitz war stets ernst und undurchdringlich; er grüßte höflich, aber förmlich und keine Muskel seines Gesichts verrieth, daß er sich unseres Uebereinkommens erinnere.

Anders war es mit mir; ich fühlte, daß bei seinem Anblick das Herz mir schneller schlug und der Wunsch rege wurde, entweder gar nicht an die Pforten des gefährlichen Geheimnisses geführt, oder vollständig in dasselbe eingeweiht zu sein. Mein Geist befand sich in einer ununterbrochenen Spannung und wahrhaft feenhafte Bilder umgaukelten mich, wenn ich, berauscht durch die Aussicht auf das sich mir darbietende Feld für eine ruhmvolle politische Thätigkeit, mir in Gedanken meine unzweifelhafte Vereinigung mit Johanna ausmalte. –

Der Sonntag war endlich angebrochen. In unbeschreiblicher Pracht entstieg die Sonne dem Siebengebirge; ihre Strahlen bildeten blendende Reflexe auf den kreisenden und wirbelnden Fluthen des Rheinströmen,[571] auf den Dächern der Häuser, auf den Kirchthurmspitzen und auf den Lichtseiten der Bäume, wie um alle in ihrem Bereich befindlichen Gegenstände zur Feier des Tages nach ihren besten Kräften festlich zu schmücken. Es war eben ein Morgen, welchen man, auch ohne den Kalender zu Hülfe zu nehmen, als einen Sonntagmorgen hätte erkennen müssen.

Schon vor Tagesanbruch hatte ich mich auf den Weg begeben. Der Wunsch, so bald als möglich in Johanna's liebe blaue Augen zu schauen, beflügelte meine Schritte, und so fröhlich und leichten Herzens wanderte ich auf dem Ufer des Rheines dahin, als wären Kummer und Sorgen für mich auf ewig aus der Welt verbannt gewesen.

Als ich die Stadt verließ, herrschte noch überall die tiefste Stille; nur hin und wieder stimmte ein befiederter Säuger sein Morgenlieb an, oder es begegneten mir auch vereinzelte Fischer, welche die Erfolge ihrer nächtlichen nassen Arbeit mühsam heimwärts schleppten. Je weiter ich aber wanderte, um so lebhafter wurde es ringsum. Die Menschen erwachten mit der Natur, und das Nachdenken, welchem ich mich anfänglich hingegeben hatte, verwandelte sich allmälig in jene heitere Sorglosigkeit, in welcher man so gern geneigt ist, Alles in rosenfarbigem Lichte zu betrachten, mit versöhnlichen Gefühlen über die Mängel und Gebrechen der menschlichen Gesellschaft hinwegzusehen und nur das für möglich und wahrscheinlich zu halten, was man am meisten wünscht.

Wäre auf diesem Spaziergang Bernhard mit seinen Vorschlägen vor mich hingetreten, dann würde ich schwerlich ohne Widerrede auf dieselben eingegangen sein. Ich befand mich eben in einer Stimmung, in welcher mir der Friede als der höchste Segen erschien und ich es für ein Verbrechen hielt, denselben leichtsinnig zu unterbrechen.

Um daher meine Heiterkeit nicht zu trüben, vermied ich es, über das nachzudenken, was mir von Bernhard anvertraut worden war. Ungestört und unbeeinträchtigt durch ernste Bilder wollte ich den herrlichen Morgen genießen, und nach allen Richtungen hin schweiften meine Blicke unablässig, um immer neue Eindrücke in mich aufzunehmen, immer neue Gegenstände zu entdecken, an welchen sich mein von jugendlichem Frohsinn überfließendes Herz erfreuen konnte. Ich ergötzte mich innig an dem munteren Treiben der kleinen Thierwelt, welche nach einer lustig durchschwärmten oder auch behaglich verträumten Nacht das Ufer des Stromes so anmuthig belebte, hier um sich, nach einem letzten Scheideblick auf das lachende Strahlenantlitz der Sonne, in einem geeigneten Winkelchen in trägen Schlummer zu versenken, dort durch einen herzhaften Trunk aus den kühlen Fluthen sich zu den Tages Mühen und Freuden zu stärken und zu rüsten.

Ich ergötzte mich an den Hasen, die eh' sie ihr Versteck aufsuchten, noch einmal auf der staubigen Straße mit dem Ausdruck der Müdigkeit rasteten und dann bei meiner Annäherung mit scheinbar schwer, fälligen Bewegungen seitwärts im dichten Kraut verschwanden; ich ergötzte mich an den mancherlei Vögeln, die familienweise bald zu dem Strom hinabflogen, bald schwirrend sich erhoben und laut jubelnd nach allen Richtungen hin über das Land vertheilten;[572] an den Schmetterlingen und den Libellen, die, an Halmen und Blumen hängend, ihre ausgespannten Schwingen den warmen Sonnenstrahlen darboten, um den sie in ihren Bewegungen hindernden Thau von denselben forttrinken zu lassen.

Dazu schallte von beiden Seiten des Rheins aus Dörfern nah und fern, das Geläute, welches zu den Frühmetten rief, gar feierlich zu mir herüber; und wo mein Weg an Gehöften vorüberführte, da gewahrte ich, daß sonntäglich geputzte Kirchgänger dem Ruf des bekannten Glöckleins Folge leisteten, oder die Pferde nach der Schwemme geritten wurden. Ferner bemerkte ich kleine Bauerjungen, die kaum wagten, sich zu rühren, aus Furcht, daß die neue Jacke mit dem hohen Kragen oder die Schleife des rothgeblümten Halstuches, mittels dessen ihr Genick steif gebunden worden war, Schaden leiden könnten, während die kleinen Mädchen coquet ihre gefältelten Schürzchen glatt strichen, die kattunenen Aermel in Puffen emporzupften und dabei vielleicht der Zeit gedachten, in welcher sie, wie jetzt die erwachsenen Dorfschönen, von den mit bunten seidenen Bändern im Knopfloch geschmückten Burschen zum Tanz geführt werden würden.

Die mir begegnenden Bauerburschen, zwischen den Lippen eine recht grellfarbige Blume oder auch eine mit prächtigen Quasten behangene kurze Pfeife haltend, boten mir stets einen »schönen guten Morgen« und fragten mich auch Wohl, als Antwort auf eine scherzhafte Anrede, was ein Pfund Kienruß koste, womit sie die um meine Schultern wallenden dunkeln Locken meinten, wogegen die sie begleitenden Mädchen ihre Blicke mit dem Ausdruck des Wohlgefallens etwas länger auf mir haften ließen und zweifelsohne dabei dachten, wie viel schöner ihr Herzallerliebster sich mit langen Haaren, einem verwegenen Zwickelbart und einem Sammetröckchen ausnehmen würde.

Ja, so schweben mir jener Morgen und meine Fußreise in der Erinnerung noch immer lebhaft vor. Sonntäglich lachte die Sonne, sonntäglich prangten die Menschen, und sonntäglich waren auch die Gedanken, welche sie erfüllten. Ich aber fühlte meinen Frohsinn durch solche Eindrücke immer mehr gehoben; im Fluge enteilte mir die Zeit, im Fluge schien die Straße unter mir fortzugleiten, und als ich endlich vor Plittersdorf zu der Ueberfahrtsstelle hinabschritt, war mir, wie wenn erst Minuten seit meinem Aufbruch von Bonn verstrichen wären.

Auf meinen Ruf kam der Fährmann mit den Rudern herbei. Ich stieg in das Boot, setzte mich nieder und tauchte, um mich zu erfrischen, meine Hände in die gegen das Fahrzeug tändelnden Wellen, als meine Aufmerksamkeit plötzlich auf den Schifter hingelenkt wurde, der, während er die Kette löste, Jemand mit barschen Worten zurückwies.

»Zweimal habe ich Dich schon mitgenommen, ohne einen Pfennig dafür erhalten zu haben,« rief er aus, »jetzt magst Du zusehen, wie Du hinübergelangst. Wenn Du kein Fährgeld hast, dann bleibe ein ander Mal zu Hause.«

»Meinen letzten Groschen gab ich für Brod hin,« lautete die mit heiserer, unmelodisch klingender Stimme ertheilte Antwort, »nehmt mich doch mit hinüber, ich bitte Euch darum. Gestern mußte ich den ganzen Tag[573] an der Straße liegen bleiben, ich war krank, könnte den Reisenden nicht folgen, um sie um eine Gabe anzusprechen, und die paar Pfennige, welche mir mitleidige Menschen zuwarfen, verwendete ich dazu, meinen Hunger zu stillen.«

Ich blickte zu dem Bittenden hinüber; schon früher hatte ich denselben gesehen, ihm auch wohl ein Almosen gereicht, mich indessen nie weiter um ihn gekümmert. Indem ich ihn jetzt aber näher betrachtete und seine traurige Lage mit meiner eigenen glücklichen Lebensstellung verglich, wurde ich vom tiefsten Mitleid ergriffen. Und Mitleid verdiente er in der That, wenn überhaupt ein verkrüppeltes Menschenbild ein fühlendes Herz zu rühren im Stande ist; denn nicht nur, daß schielende Augen dem durch eine krampfhafte Verzerrung entstellten Antlitz einen trüben Ausdruck verliehen, war seine rechte Hand, und offenbar auch der rechte Fuß, dergestalt im Gelenk verwachsen und gelähmt, daß beide Theile dadurch vollständig unbrauchbar für ihn wurden.

Sein Alter zu errathen hielt, bei der schrecklichen Entstellung seines Aeußeren, schwer, doch konnte er das zwanzigste Jahr kaum erreicht haben. Seine Kleidung war sehr ärmlich, ohne indessen unsauber und zerlumpt zu sein; kurz geschorene, hellblonde Haare bedeckten, außer einer alten Soldatenmütze, sein unförmliches Haupt, während seine Füße in sehr abgetragenen und durch den unbeholfenen Gang schief getretenen Schuhen steckten.

In der gesunden Hand führte er einen sehr starken, mit einer Krücke versehenen Kreuzdornstock, dessen er sich, indem er die Hüfte auf denselben stützte, zum Fortbewegen bediente, worin er im Lauf der Zeit eine große Gewandtheit erlangt zu haben schien.

So stand der Unglückliche da, seine trüben, schielenden Augen stehend auf den hartherzigen Schiffer gerichtet und besorgnißvoll dessen endgültigem Bescheid entgegen sehend.

»So bleibe noch einen Tag länger auf dieser Seite,« antwortete der Fährmann unfreundlich, »es ist heute Sonntag, die Fremden strömen nach Godesberg und es kann nicht fehlen, daß Du gute Geschäfte machst; morgen wirst Du auch noch zur rechten Zeit nach Hause kommen und ebenem das Fährgeld erlegen können.«

»Aber ich muß nach Hause,« flehte der Unglückliche.

»Dann kann ich Dir nicht helfen,« erwiderte der Schiffer, die Kette in's Boot werfend und dieses vom Ufer aus abschiebend.

»Halt!« rief ich aus, »nehmt den armen Menschen mit hinüber, ich werde für ihn bezahlen!«

Ein dankbarer Blick aus den Augen des Krüppels traf mich, der Schiffer zog sein Fahrzeug wieder heran, und da ich ihn unterstützte, gelangte der unglückliche Wanderer mit verhältnißmäßig geringer Mühe in das Boot.

»Der Herr scheint viel Geld zu haben,« bemerkte der Schiffer nach längerem Schweigen, während er das Fahrzeug dicht am Ufer stromaufwärts stieß, um später, beim Uebersetzen, von der starken Strömung nicht zu weit hinabgeführt zu werden.

»Wenn auch nicht zu viel, so besitze ich doch hinlänglich, um einem hilfsbedürftigen Mitmenschen einen[574] kleinen Liebesdienst zu erweisen;« entgegnete ich in vorwurfsvollem Tone.

Der Schiffer hustete, um seinen Verdruß zu verbergen, der Krüppel dagegen räusperte sich und wendete sich von nur ab.

Die ganze Scene, überhaupt schon der bloße Anblick des so schrecklich entstellten Menschen, war nicht ohne Einfluß auf meine frohe Laune geblieben, und da ich während der Ueberfahrt nicht, wie ich sonst wohl zu thun pflegte, mit dem mir bereits seit Jahren bekannten Fährmann eine Unterhaltung eröffnete, so schwieg auch er selbstverständlich.

Wie ich dem Krüppel in das Boot hineingeholfen hatte, half ich ihm auch wieder hinaus. Ich bezahlte sodann den Schiffer, und nach kurzem Abschied begab ich mich nach der nach Königswinter führen den Straße hinauf, wo der mir vorausgeeilte unglückliche Reisegefährte, wie es schien, meiner harrte.

»Ich wollte dem Herrn für seine Güte danken,« begann er, als ich mich ihm gegenüber befand, indem er mit seiner verstümmelten Hand die Mütze von seinem Haupte entfernte, »der Schiffer glaubte, ich habe Geld und wolle es nur nicht herausgeben; ich versichere dem Herrn aber, daß ich nichts, als dieses Stück Brod besitze, und warten konnte ich nicht länger, ich muß nach Hause, um nach meinem Jakob zu sehen. Jakob wird Hunger haben, und die Hälfte dieses Brodes ist für ihn bestimmt.«

»So ist Jakob wohl Dein Bruder?« fragte ich, mich langsam in Bewegung setzend.

»Ach, wenn Jakob mein Bruder wäre!« rief der Unglückliche mit vor Lachen röchelnder Stimme aus, »nein, mein Bruder ist nicht so gut, mein Bruder schlüge am liebsten zuerst mich und dann Jakob todt. Ich habe es ihm aber versprochen, thut er meinem Jakob etwas zu Leide, so lege ich Feuer an unser Haus; mich mag er schlagen, so viel er will. Aber gehen der Herr nur schneller, sein Weg ist der meinige, und wenn es dem Herrn nicht zu gering ist und er es mir erlauben wollte, an seiner Seite zu gehen –?«

»Keineswegs ist es mir zu gering,« antwortete ich, meine Schritte beschleunigend, »ich liebe Gesellschaft, und wenn ich Dir armen Burschen eine Freude damit bereite, will ich meine Eile ganz nach Deiner Kraft bemessen.«

»Wie gut der Herr ist, und wie ich ihm für feine Güte danke,« erwiderte der Krüppel, sich jetzt so schnell vorwärts bewegend, daß ich Mühe hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten, »ich höre nicht oft solch freundliche Worte, wenn ich sie aber einmal gehört habe, dann vergesse ich sie nie wieder. Ich heiße Anton.«

»Anton? ei, das ist ein hübscher Name.«

»Viel zu hübsch für ein Geschöpf, welches dazu geschaffen ist, andern Menschen Abscheu einzuflößen,« lautete die mit Bitterkeit gegebene Antwort.

»Nicht doch, Anton, Du mußt nicht ungerecht sein, Mitleid solltest Du sagen, Mitleid und Bedauern.«

»Ja, ich will es sagen, dem lieben freundlichen Herrn zu Gefallen, aber ich weiß doch, warum die Leute mir aus dem Wege gehen und die Blicke abwenden, wenn ich sie um ein Almosen bitte. O, wenn[575] ich nur arbeiten könnte! Wie herrlich muß es sein, die Axt schwingen, den Spaten handhaben und die Pferde vor dem Pflug antreiben zu können. Doch der Anton ist dumm, und wer dumm ist, der ist auch schlecht, und wer schlecht ist, den treten die Menschen mit Füßen.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, wer Dein Jakob ist, jedenfalls ein braver Bursche, der Dir immer freundlich begegnet,« bemerkte ich, um des armen Menschen Gedanken von seiner eigenen bedauernswerthen Lage abzulenken.

»Ein braver Bursche,« versetzte Anton und ein Ausdruck der Heiterkeit flog über sein Gesicht, »und wenn mein Jakob stirbt, will ich mit ihm sterben.«

»Aber so sage doch, wer ist denn eigentlich der Jakob?«

»Jakob ist mein Kind, Jakob ist mein Freund und Spielgefährte, Jakob ist ein Rabe, so schön groß und schwarz, wie kein zweiter in der ganzen Welt zu finden ist. Und sprechen kann er, ich selbst habe es ihn gelehrt; er spricht wie ein Buch, er lacht und schimpft die Menschen, die den dummen Anton nicht leiden mögen. Auch meinen Bruder schimpft er, und der verdient es, denn er schlägt mich und stiehlt Holz und stiehlt mir die Pfennige, welche mir die Leute geben; und meine Mutter sieht zu und sagt: Anton verdient, mit einem Stein am Halse in den Rhein geworfen zu weiden.«

»Du mußt das nicht so wörtlich nehmen, Anton, die Leute sprechen manchmal etwas im Zorn und meinen es dabei gar nicht so böse. Wo wohnt Deine Mutter?«

»Meine Mutter und mein Bruder wohnen in einer Seitenschlucht auf dem Wege nach der Löwenburg. Sie haben ein kleines Häuschen, einen Galten und zwei Ziegen.«

»Das kann ja nicht weit von der Oberförstern sein?«

»Auf der Landstraße gebraucht man von uns bis zur Oberförsterei eine gute halbe Stunde, auf dem Waldpfade dagegen nur die Hälfte dieser Zeit. Mein Bruder haßt den Oberförster, weil er ihn nicht will Holz stehlen lassen. Ich aber nicht, ich hole mir dort manches Mittagbrod, habe den jungen Herrn auch schon mehrfach daselbst gesehen.«

»Ich Dich aber noch nie.«

»Weil ich immer heimlich komme und nicht will, daß mein Bruder es erfährt; er denkt, ich will ihn verrathen und anzeigen.«

»Bist Du in dieser Woche auf der Oberförstern gewesen?«

»In dieser Woche noch nicht, aber morgen gehe ich wieder hin; es ist jetzt so schön dort, daß ich immer da bleiben möchte.«

»War es denn sonst nicht ebenso schön auf der Oberförsterei?«

»Es war immer schön dort, denn der Herr Oberstlieutenant schenkte mir oft einen Groschen und die Frau Oberförsterin gab mir ein Butterbrod; jetzt aber ist Jemand bei ihnen eingezogen, so gut und so schön, schöner noch als die Muttergottesbilder in der Kirche zu Königswinter.«

»Ei, ei, mein lieber Anton, wer mag es denn wohl sein, der Dir so außerordentlich wohlgefällt?«[576]

fragte ich, obwohl ich wußte, daß er Niemand anders als Johanna meinen könne.

»Eine junge, sehr vornehme Dame und Johanna heißt sie. O, sie ist so freundlich und gut gegen den armen Anton; sie leibet nicht, daß Jemand über den häßlichen Anton lacht, und wenn sie mich sieht, dann sagt sie jedes Mal: ›Armer Anton, wie geht es Dir? bist Du auch hungrig?‹ und schnell eilt sie in's Haus zurück, um mir ein Butterbrod zu schneiden, so dick wie meine Faust.«

»Das muß ja ein wahrer Engel sein,« bemerkte ich, innerlich ergötzt über die Art, in welcher er den Werth des jungen Mädchens veranschaulichte, »gewiß liebst Du die freundliche Dame sehr?«

»Die Leute lieben mich nicht, weil ich ein unglücklicher Krüppel bin, ich liebe daher auch die Menschen nicht. Warum sollte ich auch? Ich habe mein Unglück ja nicht verschuldet. Aber das Fräulein liebe ich mehr, als mich selbst, mehr noch, als meinen Jakob, und ihr zu Gefallen möchte ich mich alle Tage von meinem Bruder blutig schlagen lassen. Jakob kennt das Fräulein auch schon; ich habe ihm ihren Namen so oft vorgesagt, bis er ihn endlich gelernt hat. ›Tag Johanna, koch Kaffee, Johanna!‹ ruft er Hundertmal hintereinander, der gute Jakob.«

Während dieser Unterhaltung waren wir wacker vorwärts geschritten. Die schnelle Bewegung schien Anton gar keine Beschwerden zu verursachen, obgleich es sich ausnahm, als wenn er bei jedem Schritt über den als Stütze dienenden Krückstock zusammenbrechen müsse. Theilnahmvoll betrachtete ich ihn von der Seite; die Art, in welcher er sich über Johanna aussprach, hatte meinem Herzen wohlgethan, und wenn er auch hin und wieder eine bittere Bemerkung über seine traurige Lage mit einflocht, so mußte ich mir doch gestehen, daß gar manche gute Regungen in seiner Brust lebten. Dieselben äußerten sich nur leider in einer kindischen und manche, ja die meisten Menschen unangenehm berührenden Weise, und reizten hier zum Spott, während sie dort wieder eine gewisse Furcht vor dem ungestaltenen Geschöpf hervorriefen. Für mich dagegen verlor der arme Bursche, je länger ich mit ihm sprach, immer mehr von seiner Häßlichkeit, und der dankbare Ausdruck, mit welchem er zeitweise seine trüben Augen auf mich richtete, rührte mich dergestalt, daß ich fast unwillkürlich das Gefühl der Dankbarkeit in noch höherem Grade in ihm wachzurufen mich bestrebte. Und für ihn, der von seiner Geburt an dazu bestimmt gewesen, wie ein unnützes Stück, wie ein widerwärtiges Hinderniß herumgestoßen und mißhandelt zu weiden, genügten ja wenige wohlmeinende Worte, um ihm den ganzen Tag in ein heiteres, unvergeßliches Fest zu verwandeln.

Wir erreichten bald ein ländliches Gasthaus, vor welchem der Weg sich theilte, indem die eine Straße geradeaus nach dem nahe gelegenen Königswinter führte, die andere dagegen um den Fuß des Petersberges herum in das Siebengebirge hineinbog. Letztere war unser Weg, und wohl noch anderthalb Stunden hatte ich bis zur Oberförsterei zu wandern.

»Komm, Anton,« sagte ich zu meinem Reisegefährten, indem ich auf den mit Tischen und Bänken besetzten Platz vor der Schänke zuschritt, »komm, ich[577] habe Hunger und Durst, ein Schoppen Drachenfelser wird mir dienlich sein.«

Anton folgte mir bis an den Gartenzaun, dort aber zog er sein schwarzes Brod aus der Tasche, und nachdem er derb in dasselbe hineingebissen, traf er Anstalt sich niederzulegen, um meine Rückkehr abzuwarten.

»Nein, Anton, so war es nicht gemeint,« wendete ich mich zu dem überraschten Burschen, »spare das Schwarzbrote für Deinen Jakob. Bin ich auch kein reicher Mann, wie der Schiffer meinte, so kann ich doch noch etwas weißes Brod, ein Stück Schinken und einen Schoppen Wein für Dich bezahlen.«

Erstaunt blickte Anton zu mir empor. »Wein will der liebe junge Herr mir geben?« fragte er mit vor innerer Bewegung heiserer Stimme.

»Ja, Anton, und so guten Drachenfelser, wie der Wirth ihn nur im Keller hat.«

»Ich danke dem lieben jungen Herrn viel tausendmal; werden der junge Herr mir den Wein und das schöne Weißbrod hierherschicken?«

»Bewahre, Anton, ich will in Deiner Gesellschaft essen.«

»Aber der Wirth, er erlaubt es nicht; ich verjage ihm die Gäste, und dann möchte es auch dem Herrn selber nicht in meiner Gesellschaft schmecken.«

»Ach was, Anton, mir verdirbst Du den Appetit weniger, als mancher schlank gewachsene, vornehme Narr mit gesteiften Vatermördern und Lorgnette, dem vor lauter Hochmuth das Gehirn verkrüppelte; wer keinen Gefallen an Dir findet, braucht Dich ja nicht zu beachten. Du setzest Dich zu mir an den Tisch, und den möchte ich sehen, der es wagte, mich auch nur mit einer Miene zu tadeln oder Dich schief anzusehen. Mußt wissen, Anton, ein Student ist ein großes Thier, welches sich von Niemand etwas befehlen läßt.«

Anton's trübe Augen wurden noch trüber; seine breite Brust hob und senkte sich schwer. Hätte ich ihm einen blanken Thaler geschenkt, seine Freude und seine Dankbarkeit hätten nicht größer sein kennen. Geschah es doch vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, daß ein anderer Mensch ihm als einem gleich berechtigten Wesen begegnete und sich seiner nicht schämte.

Jetzt, wo jene Zeiten so weit hinter mir liegen und ich mit ruhiger Ueberlegung zurückdenke, gestehe ich gern ein, daß neben meiner angeborenen Weichherzigkeit mich auch die unwiderstehliche Lust an bizarren Einfällen und der geheime Wunsch, Anton möge, wie er zu mir von Johanna gesprochen, dieser auch von mir erzählen, in meinem Benehmen gegen ihn leiteten. Als ich aber des armen Schelms unbegrenzte Dankbarkeit gewahrte und sogar eine Thräne in seinen Augen entdeckte, da wichen die jugendlich leichtfertigen Gedanken von mir und ich schämte mich vor mir selbst, so wenig, und dazu noch aus so unedlen Beweggründen gethan zu haben, um eine solche Dankbarkeit zu verdienen.

»Ist ein Student ein noch größeres Thier, als ein Wallfisch?« fragte Anton, indem er höflich seine Mütze zog und bescheiden auf der äußersten Ecke einer Bank mir gegenüber Platz nahm.

»Viel, viel größer, mein lieber Anton, so groß,[578] in der That,« fügte ich mit erhobener Stimme hinzu, als ich bemerkte, daß ein hinzugetretener Aufwärter meinen Gast mit unfreundlichen Blicken betrachtete, »daß er mit Bequemlichkeit ein halbes Dutzend Kellner sammt ihrem Wirth zur Thür hinauswerfen würde, wenn Dir damit ein Gefallen geschähe.«

Der unverschämte Aufwärter entfernte sich mit einem sehr langen Gesicht, ein anderer stellte die geforderten Speisen und den Wein vor uns hin, und von Niemand weiter belästigt, begannen wir sogleich dem frugalen Mahle zuzusprechen.

Anton, obwohl er sich in meiner Gegenwart Zwang auferlegte, aß und trank, wie sich nicht anders erwarten ließ, mit wahrem Heißhunger; ich gönnte ihm den seltenen Genuß von ganzem Herzen, und nicht eher gab ich, das Zeichen zum Aufbruch, als bis er mit komischer Verlegenheit versicherte, daß er vollständig befriedigt sei.

Nach der kurzen Rast setzten wir, wo möglich noch mit beschleunigter Eile, unsere Reise in das Gebirge hinein fort. Anton war schweigsam geworden; ich glaube, er sann darüber nach, wie er mir auf seine Art eine Freude bereiten könne. Er fragte wenigstens mehrfach, ob ich Weidenflöten liebe oder schöne Steine und Blumen. Ich bejahte natürlich Alles, und nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es mir endlich, ihn wieder aus die Oberförsterei und namentlich auf Johanna zu sprechen zu bringen, und eine freundliche Unterhaltung gewährte es mir, zu hören, wie er in seiner kindischen und dabei doch so aufrichtigen Weise Johanna bis über die Wolken erhob und zuletzt sogar den Heiligen gleichstellte. So floh die Zeit mir schnell dahin und überrascht blickte ich empor, als Anton mir erklärte, daß wir nunmehr bei dem Nichtsteig angekommen seien, auf welchem ich in einer guten halben Stunde die Oberförsterei zu erreichen vermöge.

»Dann berühren wir wohl Deine heimathliche Hütte?« fragte ich, vergeblich nach einem Eingang in das dichte Buschwerk spähend.

»Nein, junger Herr,« lautete die mit triumphirendem Ausdruck gegebene Antwort, »um zu meiner Mutter Hütte zu gelangen, hätten wir schon früher abbiegen müssen. Diesen Pfad kennt, außer Anton, kein Mensch. Er ist auch schwer zu finden, denn schleiche ich in dieser Richtung durch den Wald, nehme ich mich stets in Acht, dieselbe Spur nicht zweimal zu betreten. O, es ist ein schöner Pfad, er führt über Felsen und durch Schluchten, aber der lahme Anton ist nicht so einfältig, ich kann klettern und kriechen und komme hin, wohin andere Leute nicht gern gehen.«

So sprechend bog er auf der rechten Seite des Weges die Haselbüsche auseinander, und gleich darauf schlossen sich dieselben wieder hinter uns. »So, lieber Herr, jetzt befinden wir uns auf dem Pfade,« sagte er nach einer Weile, als das Buschwerk sich etwas lichtete und zerstreut stehende verkrüppelte Eichen das Vordringen weniger erschwerten.

»Ich erkenne keinen Pfad, Anton, es sieht hier so aus, wie dort, ich meine, als wenn noch nie ein Mensch in dieser Richtung gewandert wäre.«

»Es sollen auch keine Menschen hier wandern, es ist Anton's eigner Weg und dann –«[579]

»Und dann?«

Anton blieb stehen und wendete sich nach mir um, mich halb mißtrauisch, halb freundlich betrachtend.

»Der liebe junge Herr hat dem verachteten häßlichen Anton eine große Wohlthat erwiesen; er hat den schlechten Krüppel bei sich am Tisch sitzen lassen, mit mir gegessen und getrunken. Andere Leute schlagen und stoßen mich, daß ich davonlaufe und mich im Walde verberge, wo mich Niemand finden kann. Selbst Jakob kennt mein Versteck nicht; Jakob ist dumm, er würde mich verrathen und die Menschen zu mir führen. Der junge Herr dagegen ist ein gelernter Student und wird des armen Anton's heimliche Zufluchtsstätte nicht meinem Bruder zeigen.«

»Gewiß nicht, Anton, Dein Geheimniß soll bei mir gut aufbewahrt sein.«

»Nun ja, junger Herr, dieser Weg führt an meinem Schloß vorbei, ein stilles, schönes Schloß, und Ihnen will ich es zeigen, nur Ihnen allein, denn Sie haben den armen Krüppel bei sich am Tisch sitzen lassen und sich seiner nicht geschämt.«

Bei diesen Worten kehrte er sich kurz um, und wie um das Versäumniß einzuholen, hinkte er mit verdoppelter Eile immer tiefer in den Wald hinein.

Der Weg, oder vielmehr der pfadlose Boden wurde jetzt so hindernißreich und unwegsam, daß die Unterhaltung sich schon von selbst verbot, und nur nothdürftig prägte sich die von uns inne gehaltene Richtung meinem Gedächtniß ein. So gelangten wir allmälig in eine bewaldete Schlucht, die nicht nur stellenweise durch niedergebrochene Felstrümmer und schweres Gerölle fast unzugänglich erschien, sondern deren Einfassung auch auf kurze Strecken, bald auf der einen, bald auf der andern Seite, sich als schroffe Uferwände erhob und daher nur für Kräuter- und Beerensammler Anziehungskraft haben konnte.

Anton kannte indessen seinen Weg ganz genau, denn kein einziges Mal schaute er rückwärts oder äußerte er Zweifel über die eingeschlagene Richtung. Hier folgten wir dem Lauf einer spärlich durch das Moos hinsickernden Quelle, dort glitten und kletterten wir behutsam von Stein zu Stein, und machte sich auch in den oberen Luftschichten die Wirkung der höher steigenden Sonne fühlbar, so wurden wir bei unserer mühevollen Wanderung doch nicht durch die Hitze belästigt; denn die Schatten und die von dem Gestein ausströmende nächtliche Kühle vereinigten sich, unsern Weg in einen überaus angenehmen zu verwandeln.

Und angenehm war er unstreitig, denn die feierliche Stille, welche in der Schlucht herrschte, stand im vollsten Einklänge mit der wilden, malerischen Umgebung, und wenn hier, durch unsere Annäherung aufgescheucht, ein schlankes Wieset zwischen dem Gerölle hervorschlüpfte, dort ein Eichhörnchen munter von Zweig zu Zweig sprang, oder ein schillernd beschwingter Häher uns mit mißtönendem Schrei begrüßte, so trug das nur dazu bei, den Reiz der einsamen Wanderung noch zu erhöhen.

Etwa eine Viertelstunde hatten wir uns in der Schlucht fortbewegt, da blieb Anton plötzlich stehen, und nachdem er eine Weile in die Ferne gelauscht, flüsterte er mit geheimnißvollem Wesen: »Hier liegt das Schloß des verachteten Krüppels, es liegt sicher[580] und schön, sogar die Hunde der Jäger sind schon vielfach dicht an meiner Thür vorübergegangen, ohne den armen Anton in seinem Vorsteck auszuwittern.«

»Ja, Anton, Dein Versteck, muß sehr sicher liegen, da ich es, trotz Deiner Andeutungen, nicht zu entdecken vermag,« entgegnete ich ihm zu Liebe ebenfalls in flüsterndem Tone.

Anton lachte, und mit seiner verstümmelten Hand auf eine steil aufstrebende Felswand weisend, sagte er kaum verständlich: »dort ist es; aber folgen mir nur der junge Herr,« fuhr er fort, sich der bezeichneten Felsenmauer nähernd, »der liebe Herr müssen hinein, um es zu glauben.«

Er hatte Recht, denn selbst als wir am Fuß der Wand angekommen waren, sah ich nichts, als eine Anhäufung von Felstrümmern, welche vom obersten Rande des Plateaus niedergestürzt waren und nunmehr bis zu einer Höhe von ungefähr zwanzig Fuß an der Wand hinaufreichten.

Vorsichtig folgte ich Anton nach, als er die wallartige Geröllanhäufung erkletterte und sich oben auf derselben rastend niederließ.

»Hier ist des armen Anton's Schloß,« sagte er, auf einen mäßig großen Felsblock deutend, dessen eine Hälfte von einer umfangreichen Stechpalme und verworrenen Brombeerranken vollständig verdeckt wurde; »die Hunde kommen hier nicht herauf, und kamen sie herauf, um mich zu beißen, so würden sie sich stechen und an den Dornen ihre Haut zerreißen.«

»Aber von dort unten kann Dich Jeder sehen, guter Anton,« versetzte ich, über die Einfalt des unglücklichen Menschen lächelnd.

»Ja, wenn ich hier sitze, aber nicht wenn ich mich verborgen habe,« und indem er noch sprach, glitt er nach der freien Seite des Felsblockes herum, wo er sich sogleich niederlegte.

Ich folgte ihm nach, und mit Verwunderung gewahrte ich, daß er zwischen dem Felsblock und der Wand, nachdem er einige die Oeffnung verdeckende Ranken zurückgebogen, in letztere hineinkroch.

Meine Neugier wurde rege, und von jeher dazu geneigt, jeden ungewöhnlichen, wenn auch sonst geringfügigen Umstand, mit jugendlich kühner Phantasie zu den wunderbarsten Gebilden umzuwandeln, glaubte ich auch hier die halb verschüttete Pforte eines aus dem Mittelalter herrührenden und nach einer der benachbarten Burgen hinaufführenden heimlichen Kellerganges vor mir zu sehen.

Obgleich ein Blick auf die Felsformation mich von der Unmöglichkeit eines solchen unterirdischen Baues hätte überzeugen müssen, stand ich doch nicht an, mich meinem Führer anzuschließen.

Nicht ohne Mühe und von den Dornen verletzt, gelangte ich in den Felsen hinein. Der Durchgang erweiterte sich nämlich schon nach einer kurzen, kaum zwei Fuß langen Strecke, und als sich meine Augen einigermaßen an die in dem abgeschlossenen Raum herrschende tiefe Dämmerung gewöhnt hatten, überzeugte ich mich leicht, daß der Eingang zu dem vermeintlichen schauerlichen Burgverließ eben nur eine, theils durch vulkanische Erschütterungen, theils durch atmosphärische Einflüsse entstandene Aushöhlung sei, welche durch die von dem Plateau niedergebrochenen Gesteinstrümmer von der freien Luft abgeschlossen wurde.[581]

Wie nun die Trümmer niederwärts gerollt waren, senkte sich auch der Weg nach innen, jedoch nur wenige Fuß, indem der Boden der Aushöhlung, wahrscheinlich erst von Anton, durch das Nebeneinanderschichten der einzelnen Blöcke und Steine geebnet worden war.

Der Raum mochte, einige Unregelmäßigkeiten abgerechnet, ungefähr sechs Fuß nach allen Richtungen im Durchmesser halten, was Anton allerdings für mehr als genügend erachtete, um die enge Höhle, in welcher er zeitweise als alleiniger Selbstherrscher residirte, mit dem prahlenden Namen: »Schloß« zu belegen. Wie lieb ihm aber dies Plätzchen geworden, ging daraus hervor, daß er die Hälfte der Bodenfläche mit einer tiefen Lage Haidekraut bedeckt hatte, außerdem in dem einen Winkel ein großer steinerner Wassertrug stand, und in einer andern Ecke ein beträchtlicher Vorrath von Haselnüssen lag. Sonst bemerkte ich nichts, was noch einer eingehenderen Prüfung werth gewesen wäre; wo hätte der arme, oftmals gewiß darbende Bursche auch etwas hernehmen sollen, um seine verborgene Häuslichkeit mit größeren Bequemlichkeiten auszustatten? Ich bereitete ihm indessen die große Freude, mich lobend über seine Einrichtungen auszusprechen, woran ich meinen Dank für das unbedingte Vertrauen schloß, welches er mir durch Eröffnung seines heiligsten Geheimnisses erwiesen habe.

Nach kurzem Aufenthalt krochen wir wieder in's Freie hinaus; Anton reinigte meinen Sammetrock von den Spuren, die, wie er sich ausdrückte, das Geheimniß seines Schlosses verrathen konnten, und rüstig verfolgten wir dann wieder unsern hindernißreichen Weg.

Nach einer weiteren Viertelstunde öffnete sich die Schlucht, hin und wieder schimmerte eine Lichtung zwischen den Eichen- und Haselnußdickichten hindurch und bald darauf bogen wir in einen schmalen, mehr betretenen Pfad ein.

»Dort liegt die Hütte meiner Mutter,« sagte Anton, auf dem Pfade rückwärts deutend, »und dort die Oberförsterei,« fügte er hinzu, in entgegengesetzte Richtung weisend.

»Dann gehe nur nach Hause, guter Anton,« versetzte ich, ihm ein Silberstück als Belohnung für seine Dienste darreichend, »geht nur heim; dieser Pfad muß in die Landstraße münden, und bin ich erst dort, so befinde ich mich auf bekanntem Boden; übrigens glaube ich, diesen Pfad bei meinem frühem Umherstreifen schon betreten zu haben.«

»Jakob wartet noch etwas, und die Schläge von meinem Bruder werde ich noch früh genug erhalten,« erwiderte Anton bitter, indem er schnell vor mir her hinkte, »ich begleite den lieben, jungen Herrn bis an die Straße – o, lieber, junger Herr, hörten Sie nichts?« unterbrach er sich plötzlich, mit dem Ausdruck des Entsetzens stehen bleibend und zu mir zurückschauend.

»Ja, Anton, ich höre das Bellen eines Hundes.«

»Noch mehr, lieber, junger Herr, noch viel, viel mehr, o, der Hund, der Hund!«

»Es wird ein Hund des Herrn Oberförsters sein, der thut Dir nichts, ich stehe dafür ein.«

»Aber Jakob, ich höre Jakob! Sie thun meinem Jakob ein Leid an! Jakob! Jakob!« und so[582] ausrufend stürmte er mit aller ihm nur möglichen Eile vorwärts.

Besorgt, daß die einzige Freude des armen verlassenen Menschen wirklich durch irgend einen Unglücklichen Zufall unwiederbringlich verloren gehen könne, eilte ich nunmehr ebenfalls vollen Laufs nach der Richtung hin, aus welcher daß zornige Bellen eines Hundes zu uns herüberschallte, und sich zwischendurch daß mißtönende Krächzen eines offenbar geängstigten Raben, welches Anton, begabt mit einem außerordentlich scharfen Gehör, bereits längst unterschieben hatte, deutlicher vernehmen ließ.

Schnell überholte ich den jammernden und keuchenden Krüppel, und von dem Pfade in den Wald einbiegend, gewahrte ich nach Zurücklegung von einigen Hundert Schritten den weiß- und braungefleckten Lieblingshund meines Vormundes, wie derselbe grimmig bellend einen vor ihm im hohen Grase einherschlüpfenden schwarzen Gegenstand bald eifrig verfolgte, bald, wenn derselbe sich in einen Strauch festgesetzt hatte, diesen mit allen Anzeichen der feindseligsten Absichten eilfertig umkreiste.

»Diana! hier heran! Diana! Diana!« rief ich fast athemlos. Der Hund erkannte meine Stimme, blickte zu mir herüber, aber meine Eile für eine ihm geltende Aufmunterung haltend, sprang er mit verdoppelter Wuth auf den Raben ein, und im nächsten Augenblick sah ich eine kleine Wolke schwarzer Federn emporwirbeln.

Der geängstigte Vogel mußte sich indessen nachdrücklich zur Wehre gesetzt haben, denn ebenso schnell sprang der Hund wieder zurück, einen kurzen, durchdringenden Schmerzensschrei ausstoßend.

Ehe dieser dann seinen Angriff erneuern konnte, war ich heran, ein leichter Hieb mit meinem Ziegenhainer trieb den bellenden und geifernden Hund zurück, und schnell näherte ich mich dem Raben, um mich zu überzeugen, in wie weit derselbe Schaden genommen und Verletzungen davongetragen habe. Anfangs glaubte ich, es sei um ihn geschehen; denn er saß in einem Grasbusch da, als ob beide nach oben gerichteten Flügel gelähmt gewesen wären, und erst als ich mich zu ihm niederneigte und er Miene machte, mich die Wucht seines mächtigen Schnabels fühlen zu lassen, schwand meine Besorgniß wieder.

In dem Aeußern des ergrimmten Vogels lag übrigens etwas merkwürdig Dämonisches; den Hals hatte er in die gesträubten Federn zurückgezogen, den Schnabel zur Hälfte geöffnet, und indem er den Kopf bald mir, bald dem abwärts stehenden Hunde zuwendete, blitzten seine runden schwarzen Augen so feindselig, als hätte er uns Beide mit seinen Blicken durchbohren mögen.

In der nächsten Minute kam Anton herbeigehinkt. »Jakob, Jakob!« rief er laut klagend aus, während Thränen über seine Wettergebräunten Wangen rollten; »Jakob, ich komme, Jakob! Jakob!«

»Johanna, koch' Kaffee!« antwortete Jakob mit einer Stimme, die sich kaum von der Anton's unterschied, und dann seine Federn glättend und den Hals ausreckend hüpfte er furchtlos an mir und dem Hunde vorüber auf seinen jammernden Gebieter zu.

»Jakob, was haben sie Dir gethan!« schrie Anton, als der Vogel, anstatt, wie gewöhnlich, auf[583] seine Schulter zu stiegen, sich mit empor gehaltenen Schwingen vor ihm niederkauerte.

»Spitzbube! Spitzbube!« sprach der Rabe, seine klugen Augen auf Anton richtend.

Anton hatte unterdessen seine Furcht: das Schlimmste zu entdecken, überwunden, und bitterlich schluchzend kniete er neben seinen einzigen Freund nieder, ihn mit rührender Sorgfalt von allen Seiten betastend.

»O, sie haben ihm die Flügel gebunden!« rief er gleich darauf schmerzlich aus, »die Flügel gebunden, damit die Hunde ihn zerreißen sollen! Das hat mein Bruder gethan und meine Mutter hat zugesehen! Aber unser Haus verbrenne ich, wenn Jakob stirbt. Armer Jakob, sei nur ruhig, ich habe Dir Brod mitgebracht, auch ein Stückchen Fleisch; der junge Herr gab es mir, und ich habe bei ihm am Tische gesessen, ich, der arme, verachtete Krüppel!«

Der Rabe, als hätte er seines Herrn Trostesworte verstanden, warf mir einen flüchtigen Blick zu, worauf er ein häßliches Lachen ausstieß, welches dem Anton's so ähnlich war, daß ich, wäre meine Aufmerksamkeit ihm nicht gerade zugewendet gewesen, dadurch hätte getäuscht werden können und ich unwillkürlich mitlachen mußte.

Endlich war es Anton gelungen, die fesselnde Schnur von seines Lieblings Flügeln zu entfernen, und athemlos vor Furcht und Spannung richtete er sich auf, um zu sehen, wie der Rabe sich nunmehr geberden würde. Dieser, sobald er sich befreit fühlte, reckte zuerst den einen und dann den andern Flügel prüfend aus, schlug seinen Schnabel mehrere Male mit lautem Geräusch zusammen, ging einige Schritte zurück, wie um einen Anlauf zu nehmen, und im nächsten Augen blick saß er zu Anton's unaussprechlicher Freude auf dessen Schulter, seinen Kopf schmeichelnd an dessen rauher Wange reibend.

»Er ist noch gesund, er lebt noch und der liebe, junge Herr hat ihn gerettet,« sagte der arme Bursche, mit Thränen der Dankbarkeit in seinen Augen.

»Mich freut nur, daß wir zur rechten Zeit gekommen sind,« entgegnete ich, den Raben streichelnd, was dieser mit einem heisern Lachen geschehen ließ, mir sogar seinen Scheitel hinhaltend, als die Stelle, auf welcher ihm Liebkosungen am angenehmsten seien. »Der liebe, junge Herr weiß nicht, welche Wohlthat er mir erwiesen hat – «

»Laß nur Anton, ich habe Dir den kleinen Dienst mehr als gern erwiesen; geh nur nach Hause, auch ich muß mich jetzt beeilen, man wird mich auf der Oberförsterei bereits erwarten.«

»Wenn ich nicht ein so unglücklicher Krüppel wäre, fände ich vielleicht Gelegenheit, dem Herrn Studenten wieder zu dienen.«

»Danke, danke, mein lieber Anton, ich bin schon vollständig mit Deinem guten Willen zufrieden, laß Dich nur öfter einmal auf der Oberförsterei sehen, Fräulein Johanna – «

»Johanna, koch' Kaffee!« unterbrach mich der Rabe krächzend.

»Gewiß Jakob, sie wird Euch einen guten Kaffee kochen,« fuhr ich fort, und dann Anton zum Abschied die Hand reichend und den Hund an mich lockend.[584] schritt ich quer durch das Gebüsch der nahen Landstraße zu.

Einmal noch schaute ich zurück; Anton hatte sich auf den Rasen niedergelassen; auf seinen Knieen saß der Rabe, mit dem Wesen eines Feinschmeckers die Brocken verzehrend, welche sein Gebieter und Freund ihm darreichte.

»Wenn Anton einen Kalender hätte und schreiben und lesen könnte, würde er den heutigen Tag gewiß dreimal unterstreichen,« dachte ich, indem ich frohen Herzens meinen Weg verfolgte; »armer Kerl, ich möchte Deinen Bruder wirklich einmal überraschen, wenn er seine Fäuste an Dir versucht. Beim Vater Homer und allen schönen Göttinnen des Olymps! wie würde ich ihm das Leder gerben!«


»Im Wald und auf der Haide

Da such' ich meine Freude – «


begann ich zu singen, während ich den Hund beobachtete, wie derselbe kunstgerecht vor mir her suchte.

Ein Pfiff ertönte aus nicht allzu großer Ferne zu mir herüber. Der Hund hob den Kopf und lauschte.

»Diana! Diana! Wo steckt der Satan!? Hier herum!« erschallte gleich darauf meines Vormundes Kommandostimme.

Diana stob spornstreichs davon, ich setzte über den Graben aus dem Walde auf die Straße, und als ich mich dann der Oberförsterei zuwendete, erblickte ich einen Herrn und eine Dame, die mir langsamen und gemächlichen Schrittes entgegen kamen.

Hätte ich sie wirklich nicht sogleich erkannt, Diana, die mit stürmischer Zärtlichkeit abwechselnd an beiden Spaziergängern emporsprang, würde mich bald genug über sie aufgeklärt haben.

Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 571-585.
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