[27] Es war Nachmittag. Die Stadt zeigte bereits das Gepränge des technisch bewaffneten Verkehrs, gehoben durch die wirkungsvollen Stauungen eines untätigen Luxus. Die Zeit schien zu rasen, denn die Weile kam ihr auf halbem Wege direkt entgegen, wie zwei aneinander vorbeizuckende Züge zerrissen sie den Augenblick. Es war die Verbrüderung der Geschäftigkeit ohne Inhalt. Eine Vorbereitung war es, eine Vereinbarung zwischen den Eingeweihten eines öffenlich geheimen Spieles. Jeden Moment konnte es losgehen, dann geschah das erwartete Unerwartete. Ein letztes Lächeln, ein letztes Einverständnis nahm die gegenseitige Parole von den Gesichtern. Wer hier nicht mittat, wer nicht darum wußte, der war ein Ausgestoßener. Hier wurde im Ernstfalle nur der Mitspieler als Zuschauer zugelassen. Und jeder sah, daß etwas in der Luft lag, obwohl keiner der Eingeweihte war. Jeder vermutete es vom Andern. Jedem schienen die übrigen im Einverständnisse.[27] Nirgends fühlte sich der Einzelne so einsam wie unter den Vielen, denn man sah es ihnen an, daß sie unter einer Decke steckten. Die Stirnen waren verklärt oder verkniffen oder irgendwie, darauf kam es gar nicht an, bloß daß sie überhaupt irgendwie waren, schienen sie geladen von einem verschmitzten Wissen. Zweifellos, es mußte sofort etwas geschehen. Die Blicke sprangen aus den Köpfen heraus, sie suchten, schauten hin und her wie gescheuchte Fledermäuse, streiften mit krankhafter Empfindlichkeit über das ganze Bild, sie tasteten nach einer Pointe darin. Es war noch nicht da – aber jetzt mußte es kommen. Halt – war es das –
Vor der beängstigend hohen Glasscheibe eines Auslageraumes, die nahezu ein Stockwerk ausfüllte und bis einen Fuß über den Boden ging, standen zwei Menschen. Sie hatten etwas vor, man sah es ihnen an. Sofort blieben einige der Passanten stehen. Es trat eine Stockung ein, es wurden ihrer immer mehr, schließlich stand da ein Block von Menschen. Einzelne bröckelten wieder ab, sie mußten vom Bürgersteig herab in die Gosse treten, um sich vorbeizudrücken. Die Hinterstehenden reckten die Hälse, obwohl nichts Sehenswertes da vorne zu bemerken war. Das junge Mädchen drehte einfach den Schlüssel um, dann öffnete sie vorsichtig den riesenhaften Fensterrahmen, gerade weit genug, um den fahlblonden Kopf mit der schwarzen Samtschleife und den einen Arm zusamt dem Flederwisch in den entstandenen Winkel zu stecken. Zwanzig Paar Augen waren auf sie gerichtet. Ihr Nagetiergesichtchen mit dem blutarmen Teint lief in ein langes spitzes Kinn aus und versüßte[28] sich in einem zu kleinen Munde mit hängenden Ecken wie eine Apfelsinenschnitte. Die Menge stand da und gaffte. Das Mädchen stützte eine Zeitlang die unbeholfene Glasscheibe, die in ihrem oberen freien Zipfel übermäßig elastisch wippte. Ein junger Herr von etwas schäbiger Eleganz – es war nämlich ein kleiner Knirps mit langen schnabeligen Schuhen – stürzte eilfertig heraus und bediente die ungnädige Fensterscheibe mit einer dreibeinigen Stelzvorrichtung. Mittels eines armdicken Zapfens wurde ihr ein flacher Holzteller untergeschraubt und sie beruhigte sich. Der Jüngling hatte seltsamerweise keine Schultern, oder sie waren ihm bei Gelegenheit etwas heruntergefallen, dorthin, wo bereits die Büste hingehört hätte. Es war das einzig merkwürdige an der Zeremonie, abgerechnet die andächtigen Koketterien des Flederwisches, der über Spazierstöcke, Bijouterien und pathetische Figürchen hintänzelte. Hinter dem Vorhange, der gegen das Innere abschloß, erschien ein runder, geschmeichelt grinsender Schädel und beäugte den vielversprechenden Menschenandrang vor dem Geschäfte. Das war also das Ganze. Die Menge stand noch eine Weile und unterzog das Schauspiel einer über sich selbst erstaunten Würdigung. Mancher hatte genug und ging weg. Da, plötzlich, als wäre es abgemacht, kam der ganze Knoten ins Rollen, er fiel auseinander und pflanzte sich nach den entgegengesetzten Richtungen hin fort. Das Gesicht hinter dem Vorhange sah auf einen leeren, vollständig nackten Platz. Die aufschwärmenden Bogenlampen beleuchteten für ein paar Atemzüge lang die quadratischen Fugen des vereinsamten Pflasters, auf dem nach und[29] nach wieder ein Paar auf- und niedertretender Beine erschienen. Die beiden Arbeitenden im Auslageraum krochen heraus und zogen sich in das Geschäft zurück. Das Gesicht hinter dem Vorhange verschwand und nahm eine dunkle Genugtuung seiner einschüchternden Wirkung mit sich.
Indessen wanderte der Knoten, und, merkwürdigerweise, er behielt den kompakten Zusammenhang bei. Was er bei seinem fluktuierenden Fortschreiten an den Verlockungen der Schaufenster abschliff, das setzte er andererseits wieder an. Es war wie eine ideale Wellenbewegung. Der Verkehrsstrom war nirgends von einer unvorbereiteten Dichte. Irgendwo im Wellengange war ein toter Punkt. Es erschien ein Fußgänger, dann zwei, dann mehrere, schließlich folgte eine Maximalverdichtung, die sich allmählich mit mehr oder weniger Präzision wieder verdünnte. Hier war ein eingeborener Rythmus am Werke, den das Bewußtsein nicht auffing, eine Kraft, die steigend und fallend kumulierte. Als Zufall wälzte sich die rythmische Vorsehung dahin. Dieser Menschenknoten repräsentierte ein Suggestionszentrum. Die Atem waren nicht mehr unverfälscht, die Ausscheidungen der Blute und Lungen steckten einander an. Die gedrängten Körper berührten sich an Ellenbogen, Hüften, Schenkeln, die empfindlichen Nerven nahmen voneinander Notiz. Die scheinbare Solidarität der Masse bestärkte im Einzelnen die Erwartung. Die Argusaugen der Sensation spürten in alle Ritzen des Verkehres, während die beiden Menschenraupen mit ihren Dichtigkeitsringen sich auf den Trottoiren vorwärtsschoben.[30]
Da – wieder – plötzlich ging eine Veränderung im Straßenbilde vor sich. Innerhalb des Mangels an Beharren selber, innerhalb der Übergänge fand die Änderung statt. War da ein Schrei erklungen? Waren da mehrere alterierte Stimmen durcheinander gefahren? Hatte da das Signal einer Automobilhupe gewarnt, ängstlicher und äußerster als gewöhnlich – gleichmäßig ergoß sich der brausende Wasserfall von Lauten weiter, eine unmerkliche Anschwellung, wie wenn irgendwo eine Mühle zum Stillstand kommt, eine Schleuse sich öffnet, verlor sich in die Breite. Ein Hall pflanzte sich fort von Nerv zu Nerv. Die Leute hemmten den Schritt, wie sie da gingen, blieben sie stehen, beinahe noch mit dem Beine in der Luft, so blitzartig reagierte ihre Wahrnehmung.
Irgendwo mußte etwas geschehen sein. Ein Unglück mußte sich ereignet haben. Obwohl nichts Besonderes zu bemerken war, richteten sich die Blicke alle auf einen gewissen Punkt, gerieten unwillkürlich in die Stromtendenz eines magnetischen Feldes. Die Hälse drehten sich, während die Körper noch im Schusse der Bewegung blieben, mit einer kleinen Schwenkung der einen Schulter zum Fahrdamm hin, indem die Beine beherrscht stolpernd übereinander traten. Eine Säule menschlicher Stirnen blockierte einen bestimmten Fleck der Straße gleichsam mit qualvoll nacherlebtem Entsetzen, bannte eine Gefahr zur Stelle die schon längst vorüber war. Was war geschehen? War die Katastrophe eingetreten? Fand das Rätsel der Stadt und ihres geheimnisvollen Lebens seine Lösung? Jetzt, hier, in einer Minute, ging[31] etwas zu Ende, das man solange in sich herumgetragen hatte?
Nicht mehr ganz in der Mitte der Straße, an der Ecke, wo eine andere Gasse einmündete, stand ein kleines Mädchen. Es rührte sich nicht, es war gelähmt vor Schrecken. Alles war so schnell vor sich gegangen, das Bild von vorhin hing noch in den Blicken. Das Auto brach um die Ecke, zitternd, blasend, fauchend, mit Blendlaternen als Augen und einem vergitterten Rachen – der Chauffeur saß steif vor Aufmerksamkeit, er entdeckte eine mögliche Gefahr, bückte sich, aufscheuchend, beeilend mahnte die Hupe – da blieb das Mädchen plötzlich ohne Grund mitten in der Straße stehen, die Augen waren unsäglich rund und groß, es erstarrte vor Angst, es stand da und sah dem Ungetüm entgegen und tat keinen einzigen Schritt mehr – die zwei Damen im Coupé erhoben sich halb und schrien auf, der Chauffeur arbeitete fluchend mit Händen und Füßen, die Hebel flogen, das Auto schluckte, kratzte am Boden und stand fest – eine Handbreit vor dem kleinen Menschen.
Die Stimmen schwirrten erklärend durcheinander. Die Kutscher der nachdrängenden Wagen reckten sich ungeduldig hoch, was es gäbe. Im nächsten Augenblicke regulierte sich die Passage, suchte einen Abfluß wie ein übertretender Strom, indem sie ausbog. Eine Insel blieb zurück. Der große Schutzmann neigte die eine Schulter, hielt sein Ohr hin, um im Gelärm die Angaben zu verstehen. Er schrieb umständlich, denn seine Hände, die in den engen cremefarbenen Handschuhen anschwollen, waren behindert. Der Chauffeur wollte aufgeregt etwas[32] beweisen, er stieß seine Hand immer in der Richtung nach dem Mädchen hin. Dieses zeigte ein bleiches Gesicht vor einem breitrandigen schwarzen Hute, halb damenhaft, halb kindlich, die blinddunklerr Augen rundeten sich in einem wesenlosen Verlassenheitsgefühle. Da bewegte sie sich plötzlich hilfesuchend zur Seite, sie wollte einen kleinen Schritt tun – und nun gab es eine zweite Aufregung. Eine ungeheuerliche Gestalt – eine Mannsperson von auffallendem Gliederbau – schritt mitten durch den Verkehr hindurch – sie kam nämlich von drüben herüber – mitten hindurch, sie brach sich geradezu Bahn, an den Deichseln vorbei, die sie zur Seite riß, daß die Gäule die Köpfe hochwarfen. Eine Droschke, die ihr im Wege stand, drückte sie an den Hinterrädern einfach zur Seite, stieß sie auf ein anderds Gefährt hinauf. Ein knatterndes Motorrad rannte an, es bremste zu spät, flog zurück und entsattelte seinen Reiter, der sich mithinkend auf ein Bein rettete. Da tauchte die Gestalt in der Insel auf, der Schutzmann kam unvermutet ein gutes Stück seitwärts zu stehen. Es geschah alles ohne weitere Umstande. Das Mädchen sah zu dem Riesen auf, es sagte nichts, aber plötzlich verzogen sich die Mundwinkel und die Augen standen, voll Tränen, voll dicker glitzender Brillanten in den Wimpern. Das Ungeheuer nahm es mit der Faust beim Oberarm und zog es weg. Die zwei verschwanden in der Menschenmenge am Bürgersteig, die plötzlich kehrt machte, sich zusammenballte und weiterrollte – ein dichter verwegener Knoten von Nervensystemen. Zwei Sekunden später erinnerte nichts mehr an einen Aufenthalt. Die Insel löste sich im Verkehre auf.[33]
Die Struktur dieses Verkehres mußte dem einzelnen unübersichtlich bleiben. Die Stadt wahrte ihr Geheimnis. Sie war ein eigener Organismus, mit selbständigen Mächten und selbständigem Leben. Der Gehorsam gegenüber ihrer Gesetzmäßigkeit rechtfertigte sich vor dem Individuum in der posthumen Logik persönlicher Motive. In der Schwingungskurve des Verkehres war das Leben der Einzelerscheinung bloßer Grad. Es war das Geheimnis der Stadt so grau, hart und unerbittlich, wie die scharfgeschliffenen Linien ihres Baues. Es wurde unheimlich und lauernd, sobald es irgendwo den Fremdling witterte. Es umschlich ihn auf seinem Gange, es zeichnete ihn mit dem Stempel der Auffälligkeit. Es machte ihn zum Mittelpunkte eines Ringes erregter Nerven. Es isolierte unter der Menge und kündigte sich in einer unbestimmten Erwartung an.
Die Köpfe pendelten auf und nieder, hüpften über das Niveau vor. Über alle hinweg ragte ein blondes Haupt. Unausweichlich wie das Schicksal heftete sich die Neugierde der Menschen an dieses blonde Haupt.
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