|
[113] Nach jenem Aufruhr am Sankt Martinstage und dem darauf folgenden schien der Ueberfluß wie durch ein Wunder in Mailand zurückgekehrt zu sein. Bei allen Bäckern war Brod die Menge, der Preis wie in den fruchtbarsten Jahren; auch die Mehlpreise standen im Verhältniß dazu. Diejenigen, welche an jenen beiden Tagen tüchtig gebrüllt oder auch noch etwas mehr gethan hatten, durften – außer einigen Wenigen, die eingefangen worden – sich jetzt freuen und man glaube nicht, daß sie es unterließen, sobald nur der erste Schrecken der Verhaftungen vorüber war. Auf den Plätzen, an den Straßenecken, in den Schenken war ein lautes Jubeln; man wünschte sich im Stillen Glück und rühmte sich, wohlfeiles Brod erwirkt zu haben. Inmitten des Uebermuths jedoch und der Freude – und wie hätte sie nicht sein sollen? – gab sich eine Unruhe, ein Vorgefühl zu erkennen, daß die Sache nicht von Dauer sein werde. Man belagerte die Bäcker und Mehlhändler, wie man es schon bei jenem scheinbaren, vorübergehenden Ueberflusse gethan, den der erste Tarif Antonio Ferrers hervorgerufen hatte; wer etwas Geld liegen hatte, setzte es in Brod und Mehl um; in Kisten, Fässern und Kesseln wurden Vorräthe aufgehäuft. Während man so wetteiferte, den gegen wärtigen Vortheil zu benutzen, machte man, ich sage nicht eine lange Dauer desselben unmöglich, was schon ohne dies war, sondern man erschwerte auch den augenblicklichen Fortbestand. Denn siehe da! am fünfzehnten November erließ Antonio Ferrer De órden de Su Excelencia eine Verordnung, die Jedem, der Getreide oder Mehl im Hause hatte, verbot noch mehr davon zu kaufen, wenn auch noch so wenig; auch sollte Niemand bei »Geld- und Leibesstrafe nach dem Ermessen Seiner Excellenz« für mehr als zwei[113] Tage Brod kaufen; er forderte einen Jeden auf, die Uebertreter anzuzeigen und befahl den Richtern, in den Häusern, die man ihnen angeben würde, Nachforschungen anzustellen; zugleich erging aber auch aufs neue an die Bäcker der Befehl, die Läden hinreichend mit Brod zu versehen »bei fünfjähriger Galeerenstrafe im Uebertretungsfalle, und bei noch härterer Strafe nach dem Ermessen Seiner Excellenz«. Wer sich nun denken kann, daß man eine solche Verordnung befolgte, der muß eine große Einbildungskraft haben, denn so viel ist sicher, wenn alle die zu jener Zeit erscheinenden befolgt worden wären, so mußte das Erzherzogthum Mailand wenigstens ebenso viele Leute zur See haben, als Großbritannien jetzt haben kann.
Sei es wie es wolle; wenn man den Bäckern hinreichend Brod zu backen befahl, mußte man dafür sorgen, daß es ihnen an Mitteln dazu nicht fehlte. Man war darauf gefallen – wie in Zeiten der Theuerung immer ein gewisses Bestreben entsteht, Nahrungsstoffe, die man sonst in anderer Gestalt zu verbrauchen pflegt, in Brod zu verwandeln – man war, sage ich, darauf gefallen, Reis unter den Brodteig zu nehmen. Am dreiundzwanzigsten November befahl eine Verordnung, die Hälfte des Reises, den ein Jeder besaß, in die öffentlichen Speicher niederzulegen, und drohte Jedem, der ohne Erlaubniß der Speicherverwaltung darüber verfügte, mit Verlust der Waare und einer Geldbuße von drei Scudi für den Scheffel. Dies ist, wie Jedermann einsieht, nicht mehr wie billig.
Für diesen Reis aber mußte man einen Preis zahlen, der zu dem Brodpreise in gar keinem Verhältniß stand. Die Last, dieses ungeheure Mißverhältniß auszugleichen, war der Stadt aufgebürdet worden; der Rath der Decurionen aber, der sie übernommen hatte, beschloß noch an demselben Tage, am dreiundzwanzigsten November, dem Statthalter die Unmöglichkeit vorzustellen, es noch länger durchzuführen, und dieser setzte in einer Verordnung vom siebenten November den Preis des Reises auf zwölf Lire den Scheffel fest; wer mehr dafür forderte, oder sich weigerte dafür zu verkaufen, dem drohte er mit Verlust der Waare und mit einer Geldbuße so viel als der Reis betrug »und mit noch[114] größerer Geld- und sogar Leibes- bis zur Galeeren-Strafe nach dem Ermessen Seiner Excellenz«, nach Beschaffenheit der Umstände und der Personen.
Der Preis des gereinigten Reises war schon vor dem Aufstande bestimmt worden, wie höchst wahrscheinlich auch der Tarif, oder um die in den neuern Jahrbüchern sehr berühmte Benennung zu gebrauchen, das Maximum des Waizens und der andern gewöhnlichsten Getreidearten wird durch andere Verordnungen festgestellt gewesen sein, die uns zufällig nicht zu Gesichte gekommen sind.
Da auf diese Weise ein wohlfeiler Preis für das Brod und Mehl in Mailand aufrecht erhalten wurde, so war die Folge davon, daß von außerhalb die Leute in Schaaren herbeiströmten, um sich damit zu versorgen. Um diesem Uebelstande, wie er sagte, abzuhelfen, verbot Don Gonzalo in einer andern Verordnung vom fünfzehnten Dezember, für mehr als zwanzig Soldi Brod aus der Stadt mit hinauszunehmen, bei Verlust des Brodes selbst und einer Strafe von fünfundzwanzig Scudi »und im Falle der Zahlungsunfähigkeit zweimal öffentlich gewippt zu werden, und bei noch härterer Strafe« wie gewöhnlich »nach dem Ermessen Seiner Excellenz«. Am zweiundzwanzigsten desselben Monats – man begreift nicht, warum so spät – veröffentlichte er einen ähnlichen Befehl für das Mehl und Getreide.
Die Menge hatte den Ueberfluß durch Plünderung und Brand erzwingen wollen; die Regierung wollte ihn mit Galeere und Folterstrick aufrecht erhalten. Die Mittel waren einander angemessen; was sie aber mit dem Zweck zu thun hatten, sieht der Leser ein, und ob sie diesen wirklich erreichten, wird er sogleich erfahren. Es ist leicht zu sehen und nicht nutzlos zu beobachten, wie zwischen diesen seltsamen Vorkehrungen ein nothwendiger Zusammenhang war; eine jede war die unausbleibliche Folge der vorhergehenden und alle der ersten, welche einen Preis für das Brod bestimmte, weit entfernt von dem wirklichen Preise, der sich aus dem Verhältniß von Bedarf und Vorrath würde ergeben haben. Der Menge hat es immer geschienen und scheinen müssen, daß eine solche Vorkehrung um so einfacher und leichter ausführbar[115] ist, je mehr sie der Billigkeit entspricht; es ist daher etwas Natürliches, daß sie in den Drangsalen und Leiden der Theuerung dieselbe wünscht, erfleht und wenn sie kann, gebietet. Je mehr sich aber die Folgen bemerkbar machen, um so gewisser müssen die Vorgesetzten ihre früheren Gebote widerrufen. Es sei uns erlaubt, im Vorbeigehen auf eine seltsame Uebereinstimmung hinzudeuten. Es ist nicht lange her, daß in einem Lande, während der kläglichsten und denkwürdigsten Epoche der neueren Geschichte, unter ähnlichen Umständen, ähnliche Vorkehrungen getroffen wurden – man könnte fast sagen, im Wesentlichen dieselben und ziemlich auch in derselben Reihenfolge, nur in den Verhältnissen unterschieden –; sie wurden getroffen trotz der so veränderten Zeiten und der so vielen Kenntnisse, die sich während dessen in Europa und in jenem Lande vielleicht mehr als anderswo ausgebildet haben. Dies hatte seinen Grund ganz besonders darin, weil die große Volksmasse, bis zu welcher jene Kenntnisse noch nicht gedrungen waren, ihr Urtheil auf lange geltend machen und, wie man sich dort ausdrückt, den Gesetzgebern die Hand führen konnte.
Um wieder auf uns zu kommen, so hatte der Aufstand schließlich zweifelhafte Früchte getragen: Verwüstung und Verlust an Lebensmitteln, während des Aufstandes selbst; wirklichen unmäßigen, übermüthigen Verbrauch, so lange der Tarif bestand, auf Kosten des wenigen Getreides, welches doch bis zur neuen Ernte ausreichen sollte. Zu diesen allgemeinen Wirkungen füge man die vier Unglücklichen, die als Häupter des Tumultes aufgehängt wurden, zwei vor dem Krückenofen, die beiden andern am Eingange der Straße, wo das Haus des Proviantverwalters stand.
Uebrigens sind die geschichtlichen Berichte jener Zeit so zufällig abgegeben, daß sich nicht einmal die Nachricht darin befindet, wie und wann der gewaltsame Tarif aufgehört habe. Wenn es, in Ermangelung bestimmter Nachrichten, erlaubt ist, Vermuthungen zu äußern, so möchten wir glauben, daß er etwas vor und nach dem vierundzwanzigsten Dezember, welcher der Tag jener Hinrichtung war, aufgehoben worden ist. Und was die Verordnungen betrifft, so finden wir nach der letzten, die wir vom zweiundzwanzigsten desselben Monats angeführt haben, in Bezug der Lebensmittel[116] keine weiter vor; mögen sie nun verloren oder unsern Forschungen entgangen sein, oder sei es endlich, daß die Regierung entmuthigt, wenn nicht belehrt über die Unwirksamkeit ihrer Mittel und von den Ereignissen überwältigt, diese ihren Lauf habe nehmen lassen. Wir finden jedoch in den Berichten verschiedener Geschichtschreiber, die aber mehr die großen Begebenheiten schildern, als daß sie die Ursachen und den Verlauf angeben, ein Gemälde des Landes und hauptsächlich der Stadt am Ende des Winters und im Frühlinge, als die Ursache des Uebels: das Mißverhältniß zwischen den Vorräthen und dem Bedarf war keineswegs gehoben, sondern durch die Hülfsmittel, welche die Wirkungen eine Weile verzögerten, nur gestiegen; selbst eine hinlängliche Einfuhr von ausländischem Getreide half nichts, denn die Unzulänglichkeit der öffentlichen und Privatmittel, der Mangel in den angrenzenden Ländern, das Stocken des Handels und die Gesetze selbst, die einen wohlfeilen Preis hervorbringen und aufrecht erhalten sollten, standen ihr entgegen. Die Theuerung wirkte ohne Widerstand in ihrer ganzen Gewalt. Hier ist die Kopie jenes trübseligen Gemäldes.
Bei jedem Schritte geschlossene Läden, die Werkstätten zum großen Theile leer, die Straßen, ein unbeschreiblicher Anblick, waren ein fortwährender Schauplatz des Elends, ein beständiger Aufenthalt der Leiden. Die eigentlichen Bettler, jetzt die geringere Zahl, verloren sich in einer neuen Menge und waren gezwungen, um das Almosen mit denen zu streiten, von denen sie es sonst empfangen hatten; Burschen und Ladendiener, von den Krämern und Kaufleuten fortgeschickt, die, nachdem ihr täglicher Verdienst nachgelassen oder gänzlich aufgehört hatte, kümmerlich von ihren Ersparnissen lebten; Krämer und Kaufleute, durch das Stocken der Geschäfte bankrott geworden und zu Grunde gerichtet; Künstler und Handwerker jeder Art Arbeit, der gewöhnlichsten wie der kunstvollsten, der nothwendigsten wie der überflüssigsten, von Thüre zu Thüre, von Straße zu Straße schleichend, an die Ecken gelehnt, oder längs den Häusern und Kirchen auf die Quadersteine hingestreckt. Alle flehten kläglich um ein Almosen, oder zwischen dem Bedürfniß und einer noch nicht überwundenen Scham schwankend[117] lagen sie erschöpft und entkräftet da, schaudernd vor Kälte und Hunger, in zerrissenen Kleidern, die bei Vielen noch die Zeichen des früheren Wohlstandes verriethen; selbst in dem Müßiggange und der Muthlosigkeit gab sich noch so manches Zeichen geschäftiger und thätiger Gewohnheit zu erkennen. Zum größten Theile bestand der bejammernswerthe Schwarm aus entlassenen Dienern, deren Herren jetzt aus Wohlhabenheit in Armuth gesunken, oder trotz ihres Vermögens in einem solchen Jahre nicht mehr im Stande waren, den gewohnten Aufwand ihres Gefolges zu unterhalten. Zu allen diesen verschiedenen Nothleidenden gesellte sich eine Anzahl anderer, die zum Theil von ihrem Verdienste zu leben gewohnt waren; Kinder, Weiber, Greise, um ihre früheren Ernährer geschaart, oder anderwärts zum Betteln zerstreut.
Es waren jedoch auch Viele unter ihnen, die sich durch die zerzausten Haarbüschel, durch die Fetzen prächtiger Kleider unterschieden, oder durch ein gewisses Etwas in Haltung und Geberde, durch den Stempel, den die Gewohnheiten, je seltsamer sie sind, um so tiefer und schärfer den Gesichtszügen aufdrücken. Diese gehörten zu der bösen Brut der Bravi, die gleichfalls durch das allgemeine Schicksal ihr ruchloses Brod eingebüßt hatten und es jetzt von der Barmherzigkeit zu erflehen suchten. Vom Hunger niedergebeugt, nur im flehentlichen Bitten mit den Uebrigen wetteifernd, schleppten sie sich scheu und zusammengeduckt durch die Straßen, die sie so lange mit stolzem Haupte, mit wilden, argwöhnischen Blicken, in prächtiger, abenteuerlicher Livree, mit reichen Waffen ausgerüstet, mit hohen Federn geschmückt, geputzt, von Wohlgerüchen duftend, durchschritten hatten; sie streckten demüthig die Hand aus, die sie so oft zu frechen Drohungen erhoben hatten, oder zum verrätherischen Morde.
Der widerwärtigste und zugleich der erbarmungswürdigste Anblick aber waren vielleicht die Landleute, die einzeln, paarweise, in ganzen Familien erschienen; Ehemänner und Frauen, kleine Kinder auf dem Arm tragend, Knaben an der Hand führend; Greise, die ihnen folgten. Einige, deren Häuser einquartierte oder durchziehende Soldaten verwüstet und geplündert hatten, waren verzweiflungsvoll daraus geflüchtet; und unter diesen gab es[118] welche, die, um das Mitleid mehr zu erregen, als einen Vorzug ihres Elends, die Beulen und Wunden zeigten, die sie bei der Vertheidigung ihrer letzten geringen Habe oder auf der Flucht von roher Zügellosigkeit erhalten hatten. Andere, die von dieser besondern Plage verschont geblieben, aber von jenen beiden Plagen verjagt waren, von denen kein Winkel frei war, der Unfruchtbarkeit und den Steuern, die übermäßiger als je auferlegt waren, um die sogenannten Bedürfnisse des Krieges damit zu bestreiten, kamen nach der Stadt, wie zu der alten und letzten Freistätte des Reichthums und der frommen Mildthätigkeit. Man konnte die neuen Ankömmlinge noch mehr, als an dem unsichern Schritt und fremdartigen Ansehen, an der Miene unwilligen Erstaunens unterscheiden, eine solche Menge, eine solche Nebenbuhlerschaft des Elends an dem Ziele zu finden, wo sie als außerordentliche Gegenstände des Mitleids zu erscheinen und die Blicke der Hülfreichen auf sich zu ziehen geglaubt hatten. Die Andern, die seit längerer oder kürzerer Zeit schon in den Straßen der Stadt herumliefen und da wohnten, indem sie das Leben mit Nahrungsmitteln fristeten, die ihnen wie durch ein Glücksloos, bei einem solchen Mißverhältniß zwischen Vorrath und Bedarf, zugefallen waren, drückten in ihren Mienen und Geberden eine noch trübere, tiefere Niedergeschlagenheit aus. Welche Verschiedenheit in den Kleidern selbst bei denen, die sich kaum damit bedeckt nennen konnten! Wie verschieden von Ansehen! bleiche Gesichter aus der Ebene, gebräunte aus dem höhern Landstriche und den Hügelgegenden, vollblütige aus dem Gebirge, alle mager und abgezehrt, mit hohlen Augen, mit starren, halb sinnlosen, halb grimmigen Blicken, mit verwirrten Haaren und langen borstigen Bärten; ihre Körper bei schwerer Arbeit aufgewachsen und abgehärtet, jetzt vom Ungemach erschöpft, voll Runzeln die Haut auf den sonnverbrannten Armen, Beinen und auf der magern Brust, die halb aus den verschobenen Lumpen hervorsah. Und wie verschieden von diesem Anblick gebrochener Kraft, doch nicht weniger schmerzlich, der Anblick einer schneller unterliegenden Natur, des Verschmachtens und des hülflosen Hinschwindens in dem schwächeren Geschlechte und Alter.
Hier und da lag auf den Straßen, dicht an den Mauern der[119] Häuser, ein Häuflein von zertretenem Stroh mit schmutzigen Lumpen. Ein solcher Unrath war noch ein Geschenk der eifrigen Mildthätigkeit, war das irgend einem von diesen Unglücklichen bereitete Lager, um die Nacht das Haupt darauf zu legen. Hin und wieder sah man auch am Tage einen oder den andern darauf niedersinken oder sich hinstrecken, dem Ermüdung oder Hunger die Kräfte erschöpft und die Beine gelähmt hatte; zuweilen lag auf diesem traurigen Bette ein Leichnam; oftmals stürzte ein bis auf den Tod Erschöpfter plötzlich nieder und blieb als Leiche auf dem Straßenpflaster liegen.
Neben manchem dieser Hingestreckten erblickte man auch wohl irgend einen Vorübergehenden oder Nahestehenden, der plötzlich von Mitleid ergriffen sich zu ihm niederbeugte. Hier und dort erschien eine geordnete Hülfe mit weiter reichender Vorsorge, von einer Hand dargeboten, die reich an Mitteln und geübt war, in großartiger Weise wohlzuthun; es war die Hand des guten Federigo. Er hatte sechs Priester erwählt, deren eifrige und ausdauernde Menschenliebe von einem kräftigen Körper unterstützt wurde; er hatte sie paarweise abgetheilt und einem jeden Paare ein Drittheil der Stadt angewiesen zu durchwandern, mit Lastträgern hinterdrein, die mit verschiedenen Speisen, mit andern feineren und wirksameren Stärkungsmitteln und Kleidungsstücken beladen waren. Jeden Morgen setzten sich die drei Paare nach verschiedenen Seiten hin in Bewegung, näherten sich denen, die sie hülflos auf der Erde liegen sahen, und leisteten einem Jeden den nöthigen Beistand. Mancher, der schon mit dem Tode kämpfte, und Nahrungsmittel nicht mehr zu nehmen vermochte, erhielt den letzten Beistand und die Tröstungen der Religion. Wem Speisen noch wieder aufhelfen konnten, dem reichten sie Suppe, Eier, Brod und Wein; wer von längerem Hunger fast verschmachtet dalag, den stärkten sie mit Kraftsuppen und edlerem Wein, nachdem sie ihn erst mit Essenzen wieder zu sich gebracht hatten. Zugleich vertheilten sie Kleider an diejenigen, die am schmählichsten und empfindlichsten entblößt waren.
Aber hierbei blieb ihre Hülfe nicht stehen. Der gute Seelenhirt hatte gewünscht, daß wenigstens da, wo es noch angebracht[120] sei, eine kräftigere, nicht blos augenblickliche Hülfe geleistet würde. Die Armen, welche durch jene erste Erquickung so weit ihre Kräfte wieder erlangt hatten, daß sie sich aufrichten und laufen konnten, wurden mit etwas Geld unterstützt, damit das wieder entstehende Bedürfniß und der Mangel an weiterer Hülfe sie nicht sogleich in den vorigen Zustand wieder zurückbrächte; für Andere suchten sie Schutz und Pflege in irgend einem der zunächst gelegenen Häuser; wurden diese von Wohlhabenden bewohnt, so ward die gastfreundliche Aufnahme meistentheils aus Erbarmen und auf die Verwendung des Kardinals gewährt; in andern, wo dem guten Willen die Mittel fehlten, baten die Priester den Armen in Kost zu nehmen, setzten den Preis fest und bezahlten gleich auf Abschlag einen Theil voraus.
Von diesen untergebrachten Armen gaben sie alsdann den Pfarrern Nachricht, damit diese sie besuchten, was sie auch selbst nicht unterließen.
Es braucht kaum gesagt zu werden, daß Federigo mit seinen Hülfeleistungen nicht abgewartet hatte, bis die Noth am größten war, um sich zu rühren. Diese empfängliche, glühende Menschenliebe mußte alles mitempfinden, für alles sich bemühen, zu Hülfe eilen, wo sie nicht hatte zuvorkommen können, mußte so zu sagen alle die Gestalten annehmen, in denen die Hülflosigkeit so vielfach sich zeigte. Und in der That, indem er alle seine Mittel vereinigte, sich noch mehr einschränkte, Ersparnisse angriff, die er für andere Wohlthaten bestimmt, die jetzt zurücktreten mußten, hatte er auf jede Weise Geld aufzubringen gesucht, um Alles zur Abhülfe der Noth zu verwenden. Er hatte große Getreideeinkäufe gemacht und einen großen Theil davon an die Orte seines Kirchsprengels geschickt, welche am meisten Noth litten, und da diese Hülfe für die Noth nicht ausreichte, so sandte er auch Ladungen Salz dahin, »um damit«, wie Ripamonti erzählt, »das Gras der Wiesen und die Rinde der Bäume in Nahrungsmittel für Menschen zu verwandeln«. Getreide und Geld hatte er auch an die Pfarrer der Stadt vertheilt; er selbst durchlief sie Viertel für Viertel und spendete Almosen und unterstützte heimlich viele bedürftige Familien;[121] in dem erzbischöflichen Palaste wurden, wie ein gleichzeitiger Schriftsteller, der Arzt Alessandro Tadino in einer seiner Berichterstattungen bezeugt, die wir später noch öfter Gelegenheit haben werden, anzuführen, jeden Morgen zweitausend Näpfe Reissuppe vertheilt.
Diese Werke der Barmherzigkeit, die wir gewiß großartig nennen können, wenn wir bedenken, daß sie von einem einzigen Mann nur aus seinen eigenen Mitteln bestritten wurden – denn Federigo schlug es aus Grundsatz ab, der Vertheiler der großmüthigen Gaben anderer zu sein – diese sowohl, als alle andern Gaben aus mildthätigen Händen, die, wenn auch nicht groß, doch zahlreich waren, nebst den Beisteuern, die der Rath der Decurionen ausgesetzt und deren Vertheilung er der Proviantbehörde aufgetragen hatte, waren im Verhältniß zur Noth nur eine schwache Hülfe. Während einige Gebirgsbewohner durch die Barmherzigkeit des Kardinals dem Hungertode entrissen wurden, geriethen andere in das äußerste Elend; die Ersten fielen wieder darin zurück, nachdem die zugemessene Hülfe zu Ende war; an andern Orten, die man nicht vergessen, aber, da man eine Wahl treffen mußte, als minder bedrängte zurückgesetzt hatte, ward die Noth tödlich; überall wüthete das Verderben, von allen Seiten strömte man nach der Stadt. Nehmen wir an, daß hier zweitausend Nothleidende, die kräftiger und geschickter waren, ihren Mitbewerbern zuvorzukommen und sich Platz zu machen, eine Suppe erlangt hatten, um wenigstens an demselben Tage nicht noch umzukommen, so blieben noch viele andere Tausend hinter ihnen zurück, die, wir müssen es sagen, jene Glücklicheren beneideten, unter denen oft ihre Weiber, ihre Kinder, ihre Väter waren. Und während in andern Theilen der Stadt einige dieser Verlassenen und Sterbenden wieder zum Leben zurückgerufen, für einige Zeit untergebracht und versorgt wurden, sanken an hundert andern Theilen Unzählige nieder, siechten hin oder gaben ihren Geist auf ohne Hülfe, ohne Erquickung. Den ganzen Tag hörte man in den Straßen ein verworrenes Gesumme von kläglichen Stimmen, die bettelten; die Nacht hindurch ein Seufzen und Stöhnen, dann und wann durch laute Klagen, durch plötzlich ausgestoßenes Schmerzensgeheul,[122] durch dumpfe Töne der Verzweiflung unterbrochen, die in einem lauten Aufschrei endigten.
Es ist merkwürdig, daß in einer so grenzenlosen Noth, unter so vielfältigen Klagen, niemals ein Versuch, niemals ein Ruf zur Empörung vorkam und sich hören ließ; wenigstens findet man darüber nicht die geringste Andeutung. Und doch war unter denen, die auf diese Weise lebten und starben, eine gute Anzahl Menschen, die zu ganz etwas Anderem als zum Erdulden erzogen waren; es waren Hunderte von denen darunter, die am Sankt Martinstage sich so laut hatten vernehmen lassen. Man kann nicht annehmen, daß es das Beispiel der vier Gehängten war, die für alle gebüßt hatten, was sie jetzt im Zaume hielt, denn welche Gewalt konnte die Erinnerung an die Todesstrafe auf die Gemüther einer unstät umherirrenden Menge haben, die sich durch die Gegenwart gleichsam zu einem langsamen Tode verdammt sah, welchen sie schon erlitt? Aber so sind wir Menschen im allgemeinen beschaffen; wir lehnen uns entrüstet und wüthend gegen die kleinen Uebel auf und unterwerfen uns schweigend den größten; wir ertragen, nicht ergeben, aber gleichgültig den höchsten Grad dessen, was wir anfangs unerträglich genannt haben.
Die Lücke, welche der Tod tagtäglich in diese beklagenswerthe Menge riß, wurde täglich wieder mehr als ausgefüllt; das Herbeiströmen nahm kein Ende, zuerst von den umliegenden Dörfern, dann aus der ganzen Gegend, dann aus den Städten des Herzogthums und endlich auch aus andern. Inzwischen eilten täglich alte Bewohner aus Mailand hinweg; einige um dem Anblick so vielen Elends zu entfliehen, andere, weil sie sich, so zu sagen, von den neuen Mitbewerbern um Almosen aus dem Felde geschlagen sahen; sie zogen zu einem letzten verzweifelten Versuche hinaus, um anderwärts, wo es auch wäre, Beistand zu erflehen, wo wenigstens die Menge und die Mitbewerbung nicht so groß und so ungestüm. Es begegneten sich auf dieser Wanderung kommende und gehende Pilger, die einen für die andern ein entsetzlicher Anblick, eine traurige Gewißheit des Elends, welchem beide entgegen gingen. Aber alle setzten ihren Weg fort, wenn auch nicht mehr in der Hoffnung ihr Schicksal zu ändern, doch wenigstens um[123] unter einen verhaßt gewordenen Himmel nicht wieder zurückzukehren, um die Orte nicht wieder zu sehen, wo sie verzweifelt hatten. Mancher jedoch stürzte vor Schwäche auf die Landstraße hin und blieb entseelt liegen, ein düstrer Anblick für seine Leidensgefährten, ein Gegenstand des Schauders, vielleicht auch des Vorwurfs für die Vorübergehenden. »Ich sah«, schreibt Ripamonti, »auf der Straße an der Mauer den Leichnam einer Frau liegen ... Aus dem Munde hing ihr halb zernagtes Kraut und die Lippen versuchten noch mit krampfhafter Anstrengung sich zu bewegen ... Sie hatte auf dem Rücken ein Bündel, an der Brust in einem Tuche ein kleines Kind, das schreiend Nahrung verlangte. Es waren mitleidige Menschen dazu gekommen, welche das arme Würmchen von der Erde aufnahmen und an eine Brust legten, indem sie so die erste Mutterpflicht an ihm erfüllten.«
Der Gegensatz von Staatskleidern und Lumpen, von Ueberfluß und Elend, der gewöhnliche Anblick gewöhnlicher Zeiten, hatte jetzt gänzlich aufgehört. Lumpen und Elend waren beinahe überall, und was sich davon unterschied, hatte kaum den Anschein eines sparsamen Mittelstandes. Man sah die Edelleute in einfacher, schlichter Kleidung einhergehen und auch diese oft abgetragen und zerrissen; einige, weil die allgemeinen Ursachen des Elends auch ihre Glücksumstände so sehr verändert oder einem schon zerrütteten Vermögen den letzten Stoß gegeben hatten; andere, weil sie fürchteten, durch Pracht die öffentliche allgemeine Verzweiflung zu reizen, oder sich schämten das öffentliche Unglück zu verhöhnen. Jene verhaßten und gefürchteten Gewaltthätigen, die sonst mit einem großen Gefolge von Bravi einherschritten, gingen jetzt fast ganz allein, gesenkten Hauptes, mit einer Miene, die Frieden zu bieten und zu fordern schien; andere, die auch in glücklicheren Zeiten menschlicher gesinnt gewesen waren und sich gelassener betragen hatten, standen auch verwirrt und bestürzt da, wie übermannt von dem fortwährenden Anblick eines Elends, das nicht blos die Möglichkeit des Beistandes, sondern auch beinahe die Kräfte des Mitleids überstieg. Wer die Mittel besaß, irgend ein Almosen zu spenden, der mußte zwischen Hunger und Hunger, zwischen Noth und Noth auch noch eine traurige Wahl treffen.[124] Kaum sah man eine mildthätige Hand sich der Hand eines Unglücklichen nähern, so entstand rings umher ein Wettstreit anderer Unglücklicher; die noch die meiste Kraft hatten, drängten sich vor und bettelten noch ungestümer; die Erschöpften, die Greise, die Kinder streckten die abgemagerten Hände entgegen; die Mütter zeigten von ferne ihre emporgehobenen kleinen Kinder, die nur nothdürftig in zerrissene Windeln gewickelt waren und vor Mattigkeit in ihren Händen zusammen sanken.
So ging der Winter und der Frühling vorüber, und schon seit einiger Zeit machte die Gesundheitsbehörde die Proviantverwaltung auf die Gefahr der ansteckenden Seuche aufmerksam, die der Stadt bei so vielem in ihr zusammengedrängten Elend drohte, und schlug vor, es sollten die herumziehenden Bettler in verschiedene Pflegehäuser aufgenommen werden. Während man diesen Vorschlag hin und her überlegt, prüft, die Mittel, Wege und Orte bespricht, um ihn zur Ausführung zu bringen, häufen sich die Leichname in den Straßen Tag für Tag mehr; in demselben Maße steigt die Noth und die Gefahr. Bei der Proviantverwaltung wird ein anderer Ausweg als leichter und fördernder vorgeschlagen; man sollte alle Bettler, gesunde und kranke, nach einem einzigen Gebäude, dem Krankenhause, bringen und sie dort auf öffentliche Kosten verpflegen und heilen; der Vorschlag ging durch, trotzdem die Gesundheitsbehörde bewies, wie durch eine solche Vereinigung die Gefahr, der man abhelfen wollte, zunehmen würde.
Das Krankenhaus in Mailand – für den Fall, daß diese Geschichte Jemand in die Hände käme, der es weder aus eigener Anschauung, noch durch Beschreibung kennt – ist ein fast viereckiges Gebäude, außerhalb der Stadt, links von dem genannten Thore Orientale, von den Mauern durch die Breite des Grabens geschieden, durch einen Weg, der an dem Wall herumläuft, und durch einen kleinen Graben, der das Haus selbst umschließt; die beiden Hauptseiten ziehen sich ungefähr fünfhundert Schritte weit hin, die andern beiden vielleicht fünfzehn weniger; alle sind nach der Außenseite zu in kleine Kammern eines einzigen Stockwerks abgetheilt, im Innern sind sie zu dreien durch eine gewölbte, von kleinen schwachen Säulen getragene Halle verbunden.[125]
Der Kammern waren zweihundert acht und achtzig, oder auch einige weniger, denn in unsern Tagen hat eine große in der Mitte angebrachte Oeffnung und eine kleine in einer Ecke der Seite, die längs der Hauptstraße hingeht, eine gewisse Anzahl weggenommen. Zur Zeit unserer Geschichte waren nur zwei Eingänge; der eine in der Mitte der Seite, die nach der Stadtmauer liegt, der andere gerade gegenüber auf der entgegengesetzten Seite. Im Mittelpunkte des inneren Raumes stand und steht noch jetzt eine kleine achteckige Kirche.
Die erste Bestimmung des ganzen Baues, der im Jahre 1489 mit den Geldern eines Privatvermächtnisses angefangen und dann mit Staats- und den Geldern anderer Vermächtnisse und Schenkungen fortgesetzt wurde, war, wie es der Name selbst andeutet, die an der Pest Erkrankten im vorkommenden Falle aufzunehmen. Diese Seuche pflegte schon lange vor dieser Epoche und auch noch lange Zeit nachher zwei, vier, sechs, acht Male in einem Jahrhundert zu erscheinen, indem sie bald dieses, bald jenes Land in Europa heimsuchte. In dem Momente, von dem wir sprechen, diente das Krankenhaus nur zur Niederlage von Waaren, die der Ansteckung verdächtig waren.
Um es jetzt für die neue Bestimmung einzurichten, überschritt man die gewohnten Vorschriften; die Reinigungen und vorgeschriebenen Anstalten wurden Hals über Kopf betrieben und sämmtliche Waaren mit einem Male herausgeschafft. In allen Kammern ward Stroh gelegt, Lebensmittel aller Art wurden herbeigeschafft und durch einen öffentlichen Aufruf alle Bettler aufgefordert, sich einzufinden.
Viele strömten eilig herbei; alle, die auf den Straßen und Plätzen krank lagen, wurden hingetragen; in wenigen Tagen waren von allen mehr als drei Tausend beisammen. Weit zahlreicher aber waren die Zurückgebliebenen. Sei es nun, daß Mancher von ihnen erst den Abgang der Uebrigen erwartete, um, in geringerer Anzahl, von den Almosen der Stadt zu leben, oder war es die natürliche Abneigung gegen die Einsperrung, oder das Mißtrauen, das die Armen gegen jedes Anerbieten der Reichen und Mächtigen hegen – ein Mißtrauen, welches mit der Unwissenheit,[126] mit der Zahl der Armen und mit der Verdrehung der Gesetze im Verhältniß steht – oder war es die richtige Einsicht, wie es in Wirklichkeit mit der angebotenen Wohlthat sich verhielte, oder alles dies zusammen, oder irgend etwas Anderes, Thatsache bleibt es, daß der größte Theil sich um die Aufforderung nicht kümmerte und fortfuhr, sich elend in der Stadt umher zu schleppen. Man fand es daher für gut von der Aufforderung zur Gewalt zu schreiten. Man schickte Häscher aus, die Bettler ins Krankenhaus zu treiben und die Widerspänstigen gebunden hinzuführen; für einen jeden ward ihnen eine Belohnung von zehn Soldi festgesetzt; so werden selbst in der größten Noth die öffentlichen Gelder zu verkehrten Zwecken verwendet! Und obgleich, wie es die Proviantverwaltung vermuthet, sogar ausdrucklich beabsichtigt hatte, eine gewisse Anzahl Bettler sich aus der Stadt fortmachten, um anderswo wenigstens in Freiheit zu leben oder zu sterben, so war doch die Jagd der Art, daß in kurzer Zeit die Zahl der Untergebrachten, Freiwillige wie Eingefangene, beinahe auf zehn Tausend stieg.
Frauen und Kinder werden wahrscheinlich in abgesonderten Quartieren untergebracht worden sein, obgleich die Nachrichten aus jener Zeit nichts darüber mittheilen. Auch wird es gewiß nicht an Vorschriften und zweckmäßigen Vorkehrungen gefehlt haben. Aber Jeder kann sich vorstellen, welche Ordnung, besonders in solchen Zeiten und unter solchen Umständen, bei einer so großen und verschiedenartigen Menschenmenge eingeführt und aufrecht erhalten werden konnte, wo sich Freiwillige und Gezwungene beisammen befanden. Unter denen, für welche der Bettelstand nur eine Nothwendigkeit, ein Herzeleid, eine Schande war, befanden sich diejenigen, die ein Gewerbe, eine Gewohnheit daraus machten; unter vielen, die in rechtschaffener Thätigkeit als Landmann oder Handwerker aufgewachsen, lagen viele andere, die auf den Straßen, in den Schenken, in den Palästen zum Müßiggange, zur Gaunerei, zur Gewaltthätigkeit erzogen worden.
Von welcher Art ihre Wohnung und Beköstigung gewesen, könnte man auch ohne bestimmte Nachrichten, traurig genug vermuthen; aber wir haben deren. Sie schliefen zu zwanzig und[127] dreißig in den engen Zellen zusammengedrängt, oder zusammengekrochen unter den Hallen auf verfaultem Stroh oder auf der nackten Erde; obgleich es befohlen, das Stroh sollte immer frisch und hinreichend sein und oft erneuert werden, so war es in der That schlecht, spärlich und ward nicht gewechselt. Gleichfalls war befohlen, das Brod sollte von guter Beschaffenheit sein, denn welche Verwaltungsbehörde sagt wohl jemals, daß sie schlechte Lebensmittel bereite und vertheile? Was man aber unter gewöhnlichen Umständen nicht hätte durchsetzen können, wie sollte man das in einem solchen Falle, in einer solchen Verwirrung ermöglichen? Man sagte damals, wie wir in den Berichten finden, das Brod des Krankenhauses sei durch schwere, nahrungslose Stoffe verfälscht worden, und es ist leider nur allzu glaubwürdig, daß diese Klage nicht aus der Luft gegriffen war. Auch an gesundem Wasser war Mangel; die gemeinschaftliche Trinkquelle mußte der Graben sein, der um die Mauern des Bezirkes fließt, und dieser an sich schon seicht, trübe und schlammig und hatte durch den Verbrauch und die Nähe einer so großen Menschenmenge noch mehr gelitten.
Zu allen diesen Ursachen der Sterblichkeit, die um so schneller wirkten, da sie kranke oder sieche Körper ergriffen, gesellten sich verderbliche Einflüsse der Jahreszeit; anhaltender Regen, auf den eine noch anhaltendere Trockenheit folgte und zugleich eine zu frühzeitige übermäßige Hitze. Zu diesen Leiden denke man sich die Leiden der Seele, den Grimm über die Gefangenschaft, den Schmerz über verlorene Lieben, die Unruhe bei der Erinnerung an die Abwesenden, den gegenseitigen Abscheu, die mannigfachen andern mithineingebrachten oder erst im Hause entstandenen Affecte der Niedergeschlagenheit oder der Wuth, die fortwährende Furcht vor dem Tode und der fortwährende Anblick desselben, so wird es nicht in Erstaunen setzen, wenn die Sterblichkeit in diesem Bezirk bis zu einem Grade anwuchs und herrschte, daß er dem Anscheine nach bei Vielen für die Pest galt. Sei es nun, daß die Vereinigung und Steigerung aller dieser Ursachen nur die Wirkung rein epidemischer Einflüsse erhöhte, sei es – wie es auch in minder schweren und minder anhaltenden Theuerungen als diese vorkommt – daß ein gewisses Contagium vorhanden war,[128] das in den vom Mangel und von der schlechten Beschaffenheit der Nahrungsmittel, von schädlicher Witterung, von Unreinigkeit, von Trübsalen und Muthlosigkeit krankhaft gestimmten und vorbereiteten Körpern Nahrung und Wachsthum fand; sei es, daß die Seuche zuerst im Krankenhause selbst ausgebrochen, wie einem unklaren und ungenauen Berichte nach die Aerzte geglaubt zu haben scheinen; sei es, daß sie schon früher da war, verborgen umherschlich – was vielleicht noch wahrscheinlicher ist, wenn man bedenkt, daß das Ungemach schon alt und allgemein und die Sterblichkeit häufig war – und in jene Menge miteingeschleppt, sich mit furchtbarer Schnelligkeit fortpflanzte: welche von diesen Vermuthungen auch die richtige sei, die Zahl der täglich im Krankenhause Gestorbenen stieg in kurzer Zeit über hundert.
Während hier nichts als Siechthum, Angst, Schrecken, Klagen und Stöhnen war, herrschte in der Proviantverwaltung Scham, Bestürzung und Ungewißheit. Man berieth sich und hörte das Gutachten der Gesundheitsbehörde an; es gab kein anderes Mittel, als Alles, was mit so großen Anstalten, mit so vielen Kosten, mit so vielen Drangsalen ins Werk gesetzt war, wieder zu vernichten. Man öffnete das Krankenhaus und gestattete allen gesunden Armen zu bleiben oder zu gehen. Mit wüthender Freude stürzten sie davon. In der Stadt ertönten abermals die alten Klagen, aber schwächer und unterbrochener; sie sah diesen elenden Schwarm wieder, sagt Ripamonti, der noch mehr Mitleid erregte, wenn man daran dachte, auf welche Weise er so zusammengeschmolzen war. Die Kranken wurden nach Santa Maria della Stella, dem damaligen Armenhospitale, gebracht, wo die meisten umkamen.
Inzwischen fingen die gesegneten Felder an gelb zu werden. Die vom Lande hereingekommenen Bettler zogen wieder ab, der so ersehnten Ernte entgegen eilend. Der gute Federigo gab ihnen noch die letzten Spenden seiner angestrengten Mildthätigkeit mit auf den Weg; jedem Bauer, der sich vor dem erzbischöflichen Palaste zeigte, ließ er einen Giulio und eine Sense zur Ernte reichen.
Mit der Ernte hörte endlich die Theuerung auf; die epidemische oder contagiöse Sterblichkeit nahm von Tag zu Tag ab,[129] zog sich aber dennoch bis in den Herbst hinein. Sie war kaum zu Ende, als auch schon eine neue Plage sich zeigte.
Viele wichtige Ereignisse, die man insbesondere geschichtliche nennt, waren in der Zwischenzeit vorgefallen. Nachdem der Kardinal Richelieu, wie schon gesagt, La Rochelle eingenommen und mit dem König von England, so gut es ging, Frieden gemacht, hatte er es durch sein mächtiges Wort in dem Staatsrathe von Frankreich durchgesetzt, daß dem Herzog von Nevers Hülfe geleistet würde; zugleich hatte er den König dazu bestimmt, den Feldzug selbst persönlich zu leiten. Während man die Zurüstungen traf, kündigte der Graf von Nassau, als Bevollmächtigter des Kaisers, dem neuen Herzoge in Mantua an, daß er die Staaten Ferdinands Händen zu übergeben habe, oder daß dieser sie sonst durch ein Heer besetzen würde. Der Herzog, welcher in noch verzweifelteren Umständen sich gewehrt hatte, auf eine so harte Bedingung einzugehen, sträubte sich jetzt um so mehr, da ihn die nahe Hülfe Frankreichs ermuthigte; seine Weigerung hüllte er jedoch, so viel er konnte, in zweideutige Ausdrücke, und seine Gegenvorschläge klangen nach Unterwürfigkeit. Der Bevollmächtigte hatte sich entfernt, indem er ihn versicherte, man würde zur Gewalt schreiten. Im März aber rückte der Kardinal Richelieu wirklich mit dem König an der Spitze eines Heeres heran; er hatte von dem Herzog von Savoyen den Durchzug verlangt; man hatte unterhandelt, war aber nicht zum Schluß gekommen; nach einem Treffen zum Vortheil der Franzosen hatte man von Neuem unterhandelt und einen Vertrag abgeschlossen, in welchem der Herzog unter andern Dingen ausgemacht, Cordova solle die Belagerung von Casale aufheben; weigere sich dieser, so wolle er sich mit den Franzosen vereinigen, um in das Herzogthum Mailand einzufallen. Don Gonzalo, der noch meinte wohlfeilen Kaufs davon zu kommen, hatte die Belagerung von Casale aufgehoben, wo sogleich ein Corps Franzosen zur Verstärkung der Garnison eingerückt war.
Bei dieser Gelegenheit war es, daß Achillini an den König Ludwig sein berühmtes Sonett schrieb: »Ihr Feuer glühet, Erze einzuschmelzen«,[130] und ein anderes, in welchem er ihn ermahnte, sogleich zur Befreiung des heiligen Landes auszuziehen. Aber es ist ein Schicksal, daß auf die Rathschläge der Dichter nicht gehört wird, und wenn man in der Geschichte Thatsachen vorfindet, die irgend wie ihren Eingebungen entsprechen, so kann man nur getrost annehmen, daß es schon vorher abgemachte Dinge waren. Der Kardinal Richelieu hatte statt dessen beschlossen, wegen Angelegenheiten, die ihm dringender schienen, nach Frankreich zurückzukehren. Girolamo Soranzo, der Gesandte von Venedig, konnte so viele Gründe anführen wie er wollte, um diesen Entschluß zu bekämpfen, der König sowohl wie der Kardinal hörten auf seine Prosa so wenig wie auf die Verse des Achillini und kehrten mit dem Hauptheere um, indem sie nur sechstausend Mann zur Besetzung des Durchganges und zur Aufrechterhaltung des Vertrages in Susa ließen.
Während dieses Heer sich von der einen Seite entfernte, näherte sich das Ferdinands von der andern; es war in Graubünden und das Veltlin eingedrungen und machte sich bereit ins Mailändische herunterzuziehen. Außer all den Schrecken, welche man von einem solchen Durchzuge fürchten mußte, liefen ausdrückliche Nachrichten bei der Gesundheitsbehörde ein, daß in jenem Heere die Pest schleiche, mit welcher damals die deutschen Truppen immer etwas behaftet waren, wie Varchi bei Besprechung der Pest sagt, die ein Jahrhundert früher durch sie nach Florenz geschleppt worden war. Alessandro Tadino, einer der Consavatoren der Gesundheitsbehörde – es waren ihrer sechs außer dem Präsidenten, vier von der Obrigkeit und zwei Aerzte – ward von derselben beauftragt, wie er selbst in seinem schon angeführten Bericht erzählt, dem Statthalter die schreckliche Gefahr für das Land vorzustellen, wenn jenem Kriegsvolke der Durchzug nach Mantua gestattet würde, wie das Gerücht ginge. Nach Don Gonzalo's ganzer Haltung scheint es, daß er darauf brannte, sich einen Platz in der Geschichte zu erwerben, die in der That nicht umhin konnte, sich nicht mit ihm zu beschäftigen; aber – wie es ihr oft geht – sie kannte die Thatsache von ihm nicht, die des Andenkens am würdigsten war, oder bekümmerte sich nicht darum: die Antwort, die er dem Arzte Tadino bei dieser Gelegenheit[131] gegeben. Er antwortete, er wisse nicht, was zu thun sei; Vortheil und Ruhm hätten jenes Heer in Bewegung gesetzt, zwei Gründe, die schwerer als die vorgestellte Gefahr ins Gewicht fielen; übrigens würde man suchen aufs Beste entgegen zu wirken und müsse man auf die Vorsehung hoffen.
Um also aufs Beste entgegen zu wirken, machten zwei Aerzte der Gesundheitsbehörde – der schon genannte Tadino und der Rathsherr Settala, der Sohn des berühmten Lodovico – den Vorschlag, man solle bei den allerhärtesten Strafen verbieten, irgend etwas von den durchziehenden Soldaten zu kaufen; die Nothwendigkeit einer solchen Anordnung aber wollte der Präsident nicht einsehen, »ein herzensguter Mann«, sagt Tadino, »der nicht glauben wollte, wie aus dem Verkehr mit diesen Leuten und ihren Sachen so vielen Tausenden von Menschen Lebensgefahr erwachsen könnte«. Wir führen diesen Zug als eine Eigenthümlichkeit jener Zeit an; so lange es Gesundheitsbehörden giebt, ist es sicherlich noch keinem Präsidenten begegnet, eine ähnliche Folgerung zu machen, wenn man es eine Folgerung nennen kann.
Was Don Gonzalo betrifft, so verließ er Mailand bald nach dieser Antwort; denn die schlechten Erfolge des von ihm angestifteten und geführten Krieges verursachten, daß er von seinem Posten abberufen wurde.
An Don Gonzalo's Stelle trat der Marchese Ambrogio Spinola, dessen Name bereits in den Kriegen mit Flandern jene kriegerische Berühmtheit erlangt hatte, die sich noch heute an ihn knüpft.
Während dessen hatte das deutsche Heer unter dem Oberbefehl des Grafen Rambaldo di Collalto, eines italienischen Feldherrn von geringerem Ruhme, aber auch nicht ohne Bedeutung, den bestimmten Befehl erhalten, gegen Mantua aufzubrechen, und im Monat September rückte es in das Herzogthum Mailand ein.
Die Kriegsheere bestanden damals noch zum großen Theil aus Abenteurern, welche von Anführern im Auftrage dieses oder jenes Fürsten angeworben wurden; zuweilen auch für eigene Rechnung, um sich alsdann mit ihnen zusammen zu verkaufen. Mehr als von dem Solde wurden diese Menschen von der Hoffnung auf[132] Plünderung und von all den Reizen der Zügellosigkeit zu diesem Gewerbe verlockt. Feste und allgemeine Disciplin gab es in einem solchen Heere nicht; auch hätte sie sich nicht so leicht mit dem zum Theil unabhängigen Ansehen der verschiedenen Anführer vertragen. Diese waren denn auch nicht sehr darauf bedacht, eine Disciplin einzuführen, und hätten sie es auch gewollt, so sieht man nicht ein, wie sie eingeführt und aufrechterhalten werden konnte. Denn Soldaten dieses Schlages würden sich entweder gegen einen Anführer, der es sich in den Kopf gesetzt, das Plündern abzuschaffen, empört, oder wenigstens ihn bei der Fahne allein zurückgelassen haben. Indem die Fürsten solche Schaaren so zu sagen in Pacht nahmen und überdies mehr darauf sahen, eine Menge Leute zu haben, um ihre Unternehmungen sicher zu stellen, als die Soldatenmasse ihrer Zahlungsfähigkeit anzumessen, die gewöhnlich sehr knapp war, so ging der Sold meistens spät, oder mit Abzügen ein, und die Beute der bekriegten Länder wurde als ein Ersatz angesehen, über welchen man stillschweigend sich verständigt hatte. Beinahe ebenso berühmt wie der Name war jener Ausspruch Wallensteins, es ist leichter ein Heer von hunderttausend, als eins von zwölftausend Mann zu unterhalten. Das Heer, von welchem wir sprechen, bestand größtentheils aus Leuten, die unter seinem Befehle Deutschland in jenem Kriege verwüsteten, der sowohl an und für sich, als durch seine Folgen so berühmt geworden ist und der später nach seiner dreißigjährigen Dauer genannt wurde, damals aber erst in sein elftes Jahr ging. Es befand sich sogar sein eigenes, von einem seiner Lieutenants geführtes Regiment dabei; von den übrigen Anführern hatten die meisten unter ihm gedient, und es befand sich mehr als Einer unter ihnen, der vier Jahre später sein schlimmes Ende herbeiführen half, das Jeder kennt.
Es waren achtundzwanzigtausend Mann zu Fuß und siebentausend zu Pferde; indem sie aus dem Beltlin herunterkamen, mußten sie, um sich in das Mantuanische zu begeben, dem ganzen Laufe der Adda folgen, bis zu ihrer Mündung in den Po und hatten dann noch eine ganze Strecke diesen zu begleiten; im Ganzen acht Tagemärsche in dem Herzogthume Mailand.[133]
Ein großer Theil der Bewohner flüchtete sich in die Berge, nahm die beste Habe mit und trieb die Heerden vor sich her; andere blieben zurück, um irgend einen Kranken zu bewachen, um das Haus vor Feuer zu bewahren, oder vergrabene Kostbarkeiten nicht aus den Augen zu lassen; andere, weil sie nichts zu verlieren hatten, oder auch sich Rechnung auf Beute machten. Als das erste Geschwader an dem Rastorte ankam, verbreitete es sich darüber und über die angrenzenden Dörfer und machte sich sogleich daran zu plündern; was sich brauchen und fortschleppen ließ, verschwand; das Uebrige, die Häuser und die Ställe zerstörten sie, zerschlugen die Möbel, ohne der Schläge, Wunden, Schändungen zu gedenken. Alle Erfindungen, alle Vorkehrungen, um das Eigenthum zu retten, erwiesen sich meistens als unnütz und brachten oft noch größern Schaden. Die Soldaten, die sich auch in diesem Kriege auf die Kriegslisten verstanden, stöberten alle Löcher der Häuser durch, brachen Wände ab und rissen Mauern ein, entdeckten in den Gärten leicht die frisch umgegrabene Erde, stiegen bis auf die Gipfel der Berge, um das Vieh zu rauben und drangen von irgend einem Schurken des Ortes geführt in die Höhlen, um irgend einen Reichen, der sich darin verkrochen hatte, herauszuholen, schleppten ihn nach seinem Hause und zwangen ihn mit Drohungen und Schlägen, den verborgenen Schatz nachzuweisen.
Endlich zogen sie ab; man hörte in der Ferne den Klang der Trommeln verhallen; darauf folgten einige Stunden fürchterlicher Stille; dann kündigte ein abermaliger verwünschter Trommelwirbel und Trompetenschall eine neue Schaar an. Da diese nichts mehr zu erbeuten fand, so machte sie sich mit um so größerer Wuth über die Ueberbleibsel her, verbrannte die von der ersten ausgeleerten Fässer, die Stubenthüren, und wo sie gar nichts mehr fand, steckte sie auch die Häuser in Brand und mißhandelte mit noch tollerer Wuth die Menschen, und so trieb sie es zwanzig Tag hindurch, einen noch schlimmer wie den andern; denn in zwanzig Geschwader war das Heer getheilt.
Colico war das erste Gebiet des Herzogthums, über welches diese Teufel herfielen; dann warfen sie sich auf Bellano, ergossen[134] sich nachher über die Balsassina und brachen von da in das Gebiet von Lecco ein.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
|
Buchempfehlung
Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?
134 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro