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[164] Die Pest, welche die Gesundheitsbehörde mit dem Eintritt der deutschen Truppen ins Mailändische gefürchtet hatte, war wirklich, wie bekannt, daselbst eingedrungen; und es ist gleichfalls bekannt, daß sie sich nicht allein hier festsetzte, sondern einen großen Theil von Italien überzog und verheerte. Ohne den Faden unserer Geschichte zu verlieren, werden wir die vorzüglichsten Begebenheiten dieser Trübsale in dem Mailändischen erzählen, worunter man eigentlich nur Mailand versteht, denn fast ausschließlich von dieser Stadt handeln die Denkschriften jener Zeit, wie es fast immer und überall der Fall ist, aus guten und schlechten Beweggründen. Bei dieser Erzählung ist es, die Wahrheit zu sagen, nicht allein unser Zweck, nur den Zustand der Dinge darzustellen, der mit unsern Personen in Beziehung kommt, sondern wir wollen zugleich, so viel es in unsern Kräften steht, einen Abschnitt der vaterländischen Geschichte zur Kenntniß bringen, welcher mehr auf Gerüchten beruht als auf richtiger Erkenntniß.
Unter den vielen gleichzeitigen Berichten befindet sich nicht einer, der an sich ausreichte, einen nur einigermaßen bestimmten und richtigen Begriff davon zu geben, obgleich auch keiner darunter ist, der nicht dazu beitragen könnte, sich einen zu bilden. In[164] einem jeden dieser Berichte sind, ohne Ripamonti auszunehmen, der durch die Menge und die Auswahl der Thatsachen und noch mehr durch seine Art sie aufzufassen weit über allen steht, wesentliche Thatsachen ausgelassen, die in andern aufgenommen sind. Ein jeder enthält grobe Irrthümer, die sich mit Hülfe irgend eines andern oder der wenigen gedruckten und ungedruckten öffentlichen Urkunden, die noch vorhanden sind, erkennen und berichtigen lassen. Oft stößt man in dem einen auf Ursachen, von denen man in dem andern plötzlich die Wirkungen sieht. In allen herrscht endlich eine seltsame Verwirrung der Zeiten und Dinge; es ist ein fortwährendes Anfangen und Abspringen, wie aufs Gerathewohl ohne bestimmte Absicht, eine Schreibart, die übrigens in den Büchern jener Zeit die gewöhnlichste und hervorstechendste ist, vorzüglich in denen, die in Italien in der Muttersprache geschrieben sind; – ob dies auch für das übrige Europa gilt, das werden die Gelehrten wissen, wir befürchten es. – Kein einziger Schriftsteller einer spätern Epoche ist darauf eingegangen, jene Denkwürdigkeiten zu prüfen und zu vergleichen, um eine fortlaufende Reihe von Begebenheiten, eine Geschichte der Pest daraus zu schildern. Daher muß die Vorstellung, die man im Allgemeinen davon hat, natürlich eine sehr unklare und etwas verworrene sein, eine unbestimmte Vorstellung von großen Leiden und von großen Irrthümern – und in Wahrheit es waren von diesen wie von jenen mehr, als man sich denken kann – eine Vorstellung, die mehr auf Meinungen als auf Thatsachen beruhte; auf vereinzelten Thatsachen, die nicht selten sogar der eigenthümlichsten Umstände entbehren und bei denen kein Unterschied in der Zeit, das heißt kein Verständniß für Ursache und Wirkung, für Verlauf und Entwickelung vorhanden ist. Indem wir wenigstens mit vieler Sorgfalt alle gedruckten Berichte, mehr als einen ungedruckten, viele – in Betracht der wenigen, die noch übrig sind – sogenannte amtliche Urkunden geprüft und gegeneinander gehalten, haben wir gestrebt etwas zu vollbringen, wenn auch nicht das, was wir möchten, so doch etwas, was noch nicht gethan war. Wir beabsichtigen weder alle öffentlichen Akten, noch alle denkwürdigen Ereignisse in irgend einer Weise anzuführen; noch[165] weniger haben wir vor, denjenigen, der sich einen vollständigern Begriff von der Sache bilden möchte, des Lesens der Original-Berichte zu entheben; wir fühlen nur zu wohl, welche lebendige und so zu sagen unmittheilbare Kraft Werken dieser Gattung immer eigen ist, sie mögen verfaßt und ausgeführt sein, wie sie wollen. Wir haben nur versucht, die allgemeinsten und wichtigsten Thatsachen zu erkennen und festzustellen, sie in ihre wirkliche Reihenfolge zu bringen, so weit dies ihr Inhalt und ihre Natur zuläßt, ihre gegenseitige Wirksamkeit zu beobachten und so für jetzt und bis ein Anderer es besser machen wird, einen kurzgefaßten, aber getreuen und zusammenhängenden Bericht von dieser unglücklichen Zeit zu geben.
Auf dem ganzen Strich Landes also, welchen das Heer durchzogen, hatte man in den Häusern und auf den Straßen hin und wieder Leichname gefunden. Bald darauf fingen in diesem und jenem Orte Einzelne wie ganze Familien an, an heftigen, seltsamen Uebeln, deren Kennzeichen den meisten lebenden Menschen unbekannt waren, zu erkranken und zu sterben. Nur Einige waren, die das Uebel schon kannten; die Wenigen nämlich, die sich der Pest erinnern konnten, welche drei und fünfzig Jahre vorher auch einen großen Theil von Italien, vorzüglich das Mailändische verwüstet hatte, wo sie die Pest des heiligen Carlo genannt ward und noch jetzt so genannt wird. So stark ist die Menschenliebe! Sie kann aus so mannigfachen, feierlichen Erinnerungen eines allgemeinen Unglücks vorzugsweise derjenigen eines Mannes gedenken, weil sie diesem Manne Gefühle und Handlungen eingeflößt hat, die noch denkwürdiger als die Leiden selbst sind; sie stellt ihn unter allen jenen Ereignissen als einen Auserwählten hin, weil sie ihn bei allen zum Führer, zum Helfer, zum Vorbild, zum freiwilligen Opfer erkoren hat; sie läßt diesen Mann für das allgemeine Elend dulden und nennt es nach ihm, als wär' es eine Eroberung oder Entdeckung.
Der Oberarzt Lodovico Settala, der jene Pest nicht nur gesehen hatte, sondern dabei einer der thätigsten und unerschrockensten, und obgleich damals noch sehr jung, einer der berühmtesten Aerzte gewesen war, und der jetzt in großer Besorgniß vor dieser[166] Pest sehr eifrig nachforschte und Erkundigungen einzog, berichtete am 20. October der Gesundheitsbehörde, daß in dem Dorfe Chiusa – dem letzten in dem Gebiete von Lecco, an der bergamaskischen Grenze – unzweifelhaft die Seuche ausgebrochen sei. Es ward jedoch darauf kein Entschluß gefaßt, wie aus den Berichten des Tadino hervorgeht.
Darauf liefen ähnliche Nachrichten aus Lecco und Bellano ein. Die Gesundheitsbehörde begnügte sich damit, einen Commissar abzuschicken, der unterwegs zu Como einen Arzt nehmen und mit ihm die bezeichneten Ortschaften untersuchen sollte. Beide ließen sich, ob aus Unwissenheit oder sonst einem Grunde, von einem alten, einfältigen Barbier aus Bellano überreden, daß diese Art Uebel keine Pest wäre, sondern an einigen Orten die gewöhnliche Wirkung der herbstlichen Ausdünstungen der Sümpfe, an den übrigen eine Folge des Elends und der Mühseligkeiten, welche sie durch den Durchmarsch der Deutschen er litten hätten. Eine solche Versicherung ward der Gesundheitsbehörde überbracht, welche damit ihr Gewissen beruhigt zu haben schien.
Da aber unaufhörlich Todesnachrichten über Todesnachrichten von verschiedenen Seiten einliefen, so wurden zwei Abgeordnete, worunter der genannte Tadino, abgeschickt, um sich zu überzeugen und Vorkehrungen zu treffen. Als diese ankamen, hatte das Uebel schon dermaßen um sich gegriffen, daß die Beweise, ohne sie erst suchen zu müssen, sich von selbst darboten. Sie durcheilten das Gebiet von Lecco, die Valsassina, die Gestade des Comersee's, die sogenannten Bezirke von Monte di Brianza und Gera d'Adda und überall fanden sie die Orte beim Eintreten gesperrt oder fast ganz verlassen; die Einwohner waren geflüchtet oder lagen auf den Feldern; »sie sahen aus wie wilde Geschöpfe«, sagt Tadino, »von denen eines Münzkraut, eines Raute, eines Rosmarin, eines ein Fläschchen mit Essig in der Hand hatte«. Sie erkundigten sich nach der Zahl der Gestorbenen: diese war entsetzlich; sie besichtigten Kranke und Leichname und fanden überall die schmutzigen und schrecklichen Zeichen der Pest. Sie theilten sogleich schriftlich diese düstre Kunde der Gesundheitsbehörde mit; diese erhielt sie am 30. October und »schickte sich[167] sogleich an«, sagt Tadino, »Gesundheitspässe vorzuschreiben, um Personen, die aus Gegenden kämen, wo die Seuche schon ausgebrochen, von der Stadt abzuhalten;« und während man die Verordnung abfaßte, gab sie den Zollbeamten vorläufig einige Anweisungen.
Inzwischen trafen die Abgeordneten Hals über Kopf die Vorkehrungen, welche ihnen die besten schienen; mit der traurigen Ueberzeugung, wie unzulänglich diese zur Abhülfe und Aufhaltung eines so vorgerückten und verbreiteten Uebels wären, kehrten sie zurück.
Nachdem sie am 14. November angekommen waren und der Gesundheitsbehörde mündlich und schriftlich Bericht gegeben hatten, erhielten sie von dieser den Auftrag, sich dem Statthalter vorzustellen und ihm die Lage der Dinge zu schildern. Sie gingen hin und kehrten mit der Nachricht zurück, er habe über eine derartige Kunde einen großen Mißmuth empfunden und tiefes Mitgefühl dafür gezeigt; aber die Sorgen des Krieges seien doch drückender: sed belli graviores esse curas. Zwei oder drei Tage darauf, am 18. November, erließ der Statthalter eine Verordnung, worin er öffentliche Freudenbezeigungen wegen der Geburt des Prinzen Carlos, des erstgebornen Sohnes König Philipps IV., anbefahl, ohne die Gefahr eines großen Zusammenströmens unter solchen Umständen zu bedenken oder sich darum zu kümmern; alles ging den gewöhnlichen Gang, als ob man ihm von nichts gesprochen hätte.
Dieser Mann war, wie wir schon gesagt haben, der berühmte Ambrogio Spinola, der ausdrücklich gesandt war, um die Fehler Don Gonzalo's in der Führung des Krieges wieder gut zu machen und zugleich die Statthalterschaft zu führen. Wir können hier auch beiläufig mitanführen, daß er wenige Monate darauf in demselben Kriege, der ihm so sehr am Herzen lag, starb, und zwar nicht an Wunden auf dem Schlachtfelde, sondern im Bette vor Kummer und Gram über die Vorwürfe, Kränkungen und Unannehmlichkeiten jeder Art, die ihm von dem widerfuhren, dem er diente. Die Geschichte hat sein Schicksal beklagt und die Undankbarkeit des Andern hart getadelt; sie hat mit vielem Fleiße seine[168] kriegerischen und politischen Unternehmungen beschrieben, seine Vorsicht, seine Thätigkeit und seine Ausdauer gelobt; sie hätte auch untersuchen sollen, was er mit allen diesen Eigenschaften gethan hatte, als die Pest eine Bevölkerung bedrohte und überzog, die seiner Fürsorge oder vielmehr seiner Willkür übergeben war.
Was aber bei allem Tadel die Verwunderung über sein Betragen verringert, was eine andere und noch größere Verwunderung erregt, das ist das Benehmen der Bevölkerung selbst, ich meine derjenigen, die, noch nicht von der Seuche ergriffen, doch allen Grund hatte sie zu fürchten. Wer sollte nicht glauben, daß bei der Ankunft jener Nachrichten aus den so schrecklich damit behafteten Dorfschaften, die fast einen Halbkreis um die Stadt bilden und an einigen Punkten nicht mehr als achtzehn oder zwanzig Miglien von ihr entfernt liegen, eine allgemeine Aufregung hätte entstehen sollen, ein Verlangen nach irgend welchen Vorkehrungen, wenigstens eine unfruchtbare Unruhe? Und dennoch, wenn in irgend etwas die Denkschriften jener Zeit übereinstimmen, so ist es in dem Zeugniß, daß dem durchaus nicht so war. Die Hungersnoth des verflossenen Jahres, die Bedrückungen der Soldaten, die Niedergeschlagenheit der Gemüther schienen mehr als hinreichende Gründe, um die Sterblichkeit zu erklären; wer auf der Straße, in Läden, in den Häusern ein Wort über die Gefahr fallen ließ, wer die Pest erwähnte, wurde mit ungläubigem Spott, mit zürnender Verachtung überhäuft. Der nämliche Unglaube, oder besser zu sagen, die nämliche Verblendung und Halsstarrigkeit herrschte im Senate, im Rathe der Decurionen, bei jeder Behörde.
Ich finde, daß der Kardinal Federigo, sobald die ersten Fälle des ansteckenden Uebels verlauteten, in einem Hirtenbriefe unter andern den Pfarrern vorschrieb, sie möchten ihren Gemeinden die Nothwendigkeit und die Verpflichtung einschärfen, jeden Vorfall der Art anzuzeigen und die angesteckten oder verdächtigen Sachen abliefern. Auch dieser Brief kann mit unter seine lobenswerthen Eigenthümlichkeiten gezählt werden.
Die Gesundheitsbehörde bat dringend um Unterstützung, aber sie erlangte so gut wie nichts. In der Behörde selbst war der[169] Eifer weit entfernt der dringenden Noth zu entsprechen; es waren nur, wie Tadino mehrere Male versichert und wie es noch besser aus dem ganzen Inhalt seines Berichtes erhellt, die beiden Aerzte, die, von der schweren drohenden Gefahr überzeugt, jene Körperschaft antrieben, die dann die andern antreiben mußte.
Wir haben schon gesehen, mit welcher Gleichgültigkeit man bei den ersten Berichten von der Pest im Entgegenwirken, sogar in der Untersuchung zu Werke ging; hier einen andern, nicht weniger wunderbaren Beweis von Lässigkeit, wenn sie nicht etwa durch Hindernisse erzwungen war, die eine höhere Obrigkeit veranlaßt hatte. Jene Verordnung wegen der Gesundheitspässe, die man unterm 30. October beschlossen, wurde nicht eher als am 23. des folgenden Monats vollzogen und erst den 29. erlassen. Die Pest war schon in Mailand eingedrungen. Tadino und Ripamonti wollten den Namen dessen, der sie zuerst hereinschleppte, und die näheren Umstände über die Person und die Thatsache aufzeichnen; und in der That, wenn man den Ursprung einer so ungeheuren Sterblichkeit betrachtet, wo die Opfer der Zahl nach kaum durch Tausende bezeichnet werden können, so entsteht eine eigene Wißbegierde, jene ersten und wenigen Namen, die aufgezeichnet und erhalten sein konnten, kennen zu lernen; es ist, als ließe sich aus dieser genauen Kenntniß und aus den besondern Umständen in dieser ungeheuren Vertilgung irgend etwas Verhängnißvolles und Merkwürdiges erkennen.
Der eine wie der andere Geschichtschreiber behaupten, daß es ein italienischer Soldat in spanischen Diensten gewesen sei; im Namen wie in allem Uebrigen stimmen sie nicht recht überein. Nach Tadino war es ein gewisser Pietro Antonio Lovato, in dem Gebiete von Lecco einquartiert; nach Ripamonti hieß er Pier Paolo Locati von Chiavenna. Auch den Tag seiner Ankunft in Mailand geben sie verschieden an; der erste legt ihn auf den 22. October; der andere auf denselben Tag des folgenden Monats; und man kann weder die eine noch die andere Angabe als richtig annehmen. Beide stehen im Widerspruch mit andern weit genaueren. Und doch mußten Ripamonti, der auf Befehl der Rathsversammlung der Decurionen schrieb, viele Mittel zu Gebote[170] stehen, um die nothwendigen Erkundigungen einzuziehen; und Tadino könnte vermöge seines Berufes besser als jeder andere von einer Thatsache dieser Art unterrichtet sein. Uebrigens geht aus dem Vergleiche mit andern Angaben, die uns genauer zu sein scheinen, wie wir gesagt haben, hervor, daß es vor der Bekanntmachung der Verordnung der Gesundheitspässe geschah, und wenn es darauf ankäme, so könnte man auch beweisen, oder fast beweisen, daß es in den ersten Tagen jenes Monats geschehen sein mußte; aber der Leser wird uns gewiß diesen Beweis erlassen.
Wie dem nun auch sei, dieser unglückliche Soldat und Träger des Unglücks kam mit einem großen Bündel von Kleidungsstücken herein, die er deutschen Soldaten abgekauft oder gestohlen hatte, begab sich in das Haus eines seiner Verwandten in der Vorstadt des Thores Orientale dicht bei dem Kapuzinerkloster; kaum angelangt, erkrankte er; man brachte ihn nach dem Krankenhause; eine Beule, die sich unter der einen Achsel bei ihm zeigte, erregte in seinem Arzte den Verdacht dessen, was es wirklich war; am vierten Tage starb er.
Die Gesundheitsbehörde ließ seine Familie absondern und in der Wohnung abgesperrt halten; seine Kleider und das Bett, worin er im Krankenhause gelegen, wurden verbrannt. Zwei Krankenwärter, die ihn gepflegt hatten, und ein Mönch, der ihm beigestanden, erkrankten nach wenigen Tagen alle drei gleichfalls an der Pest. Den Verdacht, den man gleich anfangs über die Natur des Uebels in dem Krankenhause gefaßt hatte, und die getroffenen Vorsichtsmaßregeln verhinderten, daß dort das Contagium sich weiter verbreitete.
Aber der Soldat hatte außerhalb einen Keim hinterlassen, der nicht zögerte sich zu entwickeln; der Erste, bei dem er zur Erscheinung kam, war der Wirth des Hauses, bei dem jener gewohnt hatte, Carlo Colonna, ein Lautenschläger. Darauf wurden alle Miether aus jenem Hause auf Verordnung der Gesundheitsbehörde in das Lazareth geschafft, wo die meisten erkrankten; einige starben bald darauf an dem offenbaren Contagium.[171]
Das Contagium war durch diese Leute, durch ihre Kleider und Hausgeräthe, welche Verwandte, Miether oder Dienstboten vor der durch die Gesundheitsbehörde gebotenen Nachsuchung und dem Verbrennen verborgen hielten, schon in der Stadt verbreitet worden und griff durch die Mangelhaftigkeit der Verordnungen, durch die Nachlässigkeit in der Vollziehung und durch die Gewandtheit, mit der man sie zu umgehen wußte, immer mehr um sich und schlich während des ganzen übrigen Jahres und der ersten Monate des darauffolgenden 1630 versteckt umher. Von Zeit zu Zeit wurde bald in diesem, bald in jenem Stadtviertel irgend Einer davon ergriffen und starb; die Seltenheit dieser Fälle aber ließ noch immer die Wahrheit nicht aufkommen, bestärkte vielmehr die Einwohner in dem blödsinnigen und mörderischen Wahne, daß die Pest nicht da wäre, oder daß sie auch nur auf einen Augen blick da gewesen. Auch stimmten viele Aerzte noch in die Stimme des Volkes mit ein – war sie auch in diesem Falle Gottesstimme? – sie verspotteten die finstern Weissagungen, die drohenden Warnungen und hatten Namen von gewöhnlichen Krankheiten bereit, um einen jeden Pestanfall, zu dessen Heilung sie herbeigerufen wurden, damit zu bezeichnen; unter was für Symptomen oder Anzeichen er auch auftrat.
Wenn auch die Gesundheitsbehörde von diesen Fällen Kenntniß erhielt, so geschah es meistens spät und ungewiß. Der Schrecken vor der Contumaz und vor dem Lazareth erfand Mittel sie zu umgehen; man verheimlichte die Kranken, man bestach die Todtengräber und Aufseher; selbst von der Gesundheitsbehörde erlangte man von den Unterbeamten, die sie absandte, die Leichen zu besichtigen, für Geld falsche Zeugnisse.
Da jedoch nach jeder gemachten Entdeckung die Behörde den Befehl gab die Sachen zu verbrennen, die Häuser zu schließen und die Familien nach dem Krankenhause zu bringen, so ist daraus leicht abzunehmen, wie groß der Zorn und die Lästerungen aller gegen sie sein mußten; »der Adel, die Kaufleute, das niedere Volk, alle wollten sich überzeugt haben«, sagt Tadino, »daß es Plackereien ohne Grund und ohne Zweck wären«. Hauptsächlich fiel der Haß auf zwei Aerzte, den genannten Tadino und den Senator[172] Settala, den Sohn des Oberarztes; er ging so weit, daß sie durch keine Straße mehr gehen konnten, ohne mit Schimpfworten, wo nicht gar mit Steinen angegriffen zu werden. Und gewiß war es seltsam und verdient bemerkt zu werden, daß diese beiden Männer, die sich auf alle Weise anstrengten, eine entsetzliche Plage abzuwenden, die sie seit mehreren Monaten herannahen sahen, von allen Seiten nur auf Hindernisse stießen, zugleich die Zielscheibe der Schmähungen waren und Feinden des Vaterlandes gleichgestellt wurden: pro patriae hostibus, sagt Ripamonti.
Dieser Haß ging auch zum Theil auf die übrigen Aerzte über, die, gleich ihnen von dem Dasein des Contagium überzeugt, zu Vorkehrungen riethen und ihre schmerzliche Gewißheit andern mitzutheilen suchten. Von den Verständigeren wurden sie der Leichtgläubigkeit und des Eigensinns beschuldigt; für die Meisten war es ein offenbarer Betrug, eine angestiftete Kabale, um von dem allgemeinen Schrecken Nutzen zu ziehen.
Der beinahe achtzigjährige Oberarzt Lodovico Settala, welcher Professor der Heilkunde an der Universität zu Pavia gewesen war, dann der Moralphilosophie zu Mailand, der Verfasser vieler, damals hochgeschätzter Schriften, berühmt durch die Einladungen, die von der Universität Ingolstadt, Pisa, Bologna und Padua an ihn ergangen, die er alle zurückgewiesen hatte, war gewiß einer der angesehensten Männer seiner Zeit. Zu seinem wissenschaftlichen Ruhme gesellte sich der eines musterhaften Lebens und zu der Bewunderung das Wohlwollen wegen seiner großen Menschenliebe, mit der er die Armen heilte und ihnen wohlthat. Das Gefühl der Achtung aber, das seine Verdienste uns einflößt, wird dadurch gestört und getrübt, daß der arme Mann, der sich gerade in dieser Zeit hätte darüber erheben müssen, die gewöhnlichsten und verderblichsten Vorurtheile seiner Zeitgenossen theilte; er war ihnen voraus, aber ohne sich von dem großen Haufen zu entfernen, wodurch ein solcher Mann das Unglück herbeizieht, und oftmals des Ansehens, das er sich in anderer Art erworben, verlustig geht. So groß nun auch das Ansehen war, dessen er genoß, so reichte es doch nicht hin, um in diesem Falle die Meinung von dem zu besiegen, was die geistreichen Menschen gemeines Volk und die[173] Dummköpfe ein achtungswerthes Publikum nennen; es konnte ihn nicht einmal vor der Erbitterung und den Beleidigungen des Theiles derselben schützen, der am schnellsten dazu schreitet, sein Urtheil durch Thätlichkeiten zu beweisen.
Eines Tages, als er in einer Sänfte unterwegs war, um seine Kranken zu besuchen, begann Volk sich um ihn zu versammeln und schrie, er sei der Wortführer unter denjenigen, die mit Gewalt die Pest hier haben wollten; er versetze mit seiner finstern Miene und mit seinem garstigen Barte die Stadt in Angst und Schrecken, und alles nur, um die Aerzte zu beschäftigen. Das Gedränge und die Wuth nahmen zu; die Sänftenträger sahen die Gefahr vor Augen und brachten ihren Herrn in einem befreundeten Hause in Sicherheit, das zufällig in der Nähe war. So ging man mit ihm um, weil er mit klaren Augen gesehen, weil er seine Meinung ausgesprochen und viele tausend Menschen vor der Pest hatte erretten wollen; als er aber mit einem seiner zu beklagenden Gutachten dazu mitgewirkt hatte, daß eine arme Unglückliche gefoltert, mit Zangen gezwickt und verbrannt wurde, weil ihr Herr an seltsamen Magenschmerzen litt und ein anderer Herr früher heftig in sie verliebt gewesen war, da erntete er bei dem Publikum neues Lob über seine Weisheit ein, und was unerträglich zu denken ist, neue wohlverdiente Titel.
Gegen das Ende des März aber wurden zuerst in der Vorstadt des Thores Orientale, dann in allen Vierteln der Stadt die Krankheiten und Todesfälle immer häufiger, von seltsamen Erscheinungen, von Krämpfen, Herzklopfen, Schlafsucht, von Raserei begleitet, mit den schrecklichen Kennzeichen der schwarzblauen Flecken und der Pestbeulen; der Tod erfolgte meistens schnell und gewaltsam, nicht selten auch plötzlich, ohne irgend eine vorhergehende Anzeige von Krankheit. Die Aerzte, welche sich bisher gegen das Contagium erklärt, wollten jetzt nicht anerkennen, was sie früher verspottet hatten; da sie aber für das neue Uebel, das schon zu allgemein und zu offenbar geworden, um darüber hingehen zu können, einen bezeichnenden Namen finden mußten, so nannten sie es bösartiges, pestartiges Fieber; ein elender Vergleich, eine Wortspielerei, die nur zu viel Unheil hervorbrachte;[174] denn indem sie sich den Schein gab, die Wahrheit zu erkennen, bot sie alles auf, den Glauben daran nicht aufkommen zu lassen, daß das Uebel durch Ansteckung sich fortpflanze. Die Obrigkeit erwachte wie aus einem tiefen Schlafe und fing an, den Anzeigen und Vorschlägen der Gesundheitsbehörde ein wenig mehr Gehör zu geben, ihre Verordnungen zu befolgen, auf die Absperrung der Häuser und auf die Contumaz, die diese Behörde vorschrieb, zu halten. Sie verlangte auch fortwährend Geld, um die täglich anwachsenden Kosten des Lazarethes und so vieler anderer Dienstleistungen zu bestreiten, und forderte es von den Decurionen, bis daß es entschieden wäre – was, wie ich glaube, niemals anders als durch die That geschah – ob solcherlei Kosten der Stadt oder der königlichen Schatzkammer zur Last fallen müßten. Auch der Großkanzler machte auf Befehl des Statthalters, welcher die Belagerung des armen Casale von neuem unternommen hatte, den Decurionen Vorstellungen; der Senat drang darauf, die Stadt mit Lebensmitteln zu versehen, ehe sich das Contagium noch mehr darin ausbreite und ihr den Verkehr mit andern Ländern abschnitte; zugleich möchten sie auf Mittel denken, um einen großen Theil der Bevölkerung, dem es an Arbeit fehle, zu unterhalten. Die Decurionen suchten durch Anleihen und Auflagen Geld anzuschaffen, und von dem, was sie zusammenbrachten, gaben sie einen Theil der Gesundheitsbehörde, einen Theil den Armen; auch kauften sie Getreide ein und halfen zum Theil dem Mangel ab. Aber die größten Drangsale waren noch nicht gekommen.
Im Krankenhause, wo die Bevölkerung, obgleich sie jeden Tag weniger wurde, dennoch jeden Tag zunahm, entstand die Schwierigkeit, den Dienst und den Gehorsam zu sichern, die vorgeschriebenen Absonderungen zu überwachen, kurz die von der Behörde anbefohlene Ordnung aufrecht zu erhalten, oder vielmehr einzuführen; denn von den ersten Augenblicken an war durch die Zügellosigkeit vieler Eingeschlossenen, durch die Unachtsamkeit und Nachsicht der Beamten alles in Verwirrung gerathen. Die Gesundheitsbehörde und die Decurionen, die nicht wußten, wo ihnen der Kopf stand, wandten sich an die Kapuziner und baten den Pater Commissar der Provinz, der die Stelle des vor kurzem[175] verstorbenen Provinzial vertrat, er möchte ihnen einen tüchtigen Mann schicken, um dieses wüste Reich zu regieren. Der Commissar schlug ihnen einen Pater Felice Casali vor, einen bejahrten Mann, der im Rufe großer Menschenliebe, Thätigkeit, Sanftmuth und Seelenstärke stand, und der sich in der Folge auch bewährte; zu seinem Begleiter und gleichsam Diener einen Pater Michele Pozzobonelli, der zwar noch jung, aber im Aeußern wie in der Gesinnung ernst und streng war. Sie wurden mit großer Freude angenommen und traten am 30. März in das Krankenhaus ein. Der Präsident der Gesundheitsbehörde führte sie herum, gleichsam um sie in den Besitz desselben zu setzen; er rief die Wärter und alle übrigen Beamten zusammen und erklärte in ihrem Beisein den Pater Felice zum Vorsteher des Ortes mit unumschränkter Gewalt.
Je nachdem darauf die unglückliche Versammlung sich vergrößerte, kamen noch andere Kapuziner herbei und wurden Aufseher, Beichtiger, Verwalter, Krankenwärter, Köche, Kleiderbewahrer, Wäscher, alles was nöthig war. Der immer thätige und sorgsame Pater Felice war Tag und Nacht auf den Beinen und lief durch die Hallen, durch die Zimmer, durch die Hofräume, zuweilen eine Lanze tragend, zuweilen auch nur mit dem härenen Gewande bewaffnet; er ermuthigte und ordnete alles an, beschwichtigte den Lärm, ließ Klagen ihr Recht widerfahren, drohte, bestrafte, schalt, tröstete, trocknete und vergoß Thränen. Gleich im Anfange ergriff ihn die Pest; doch genas er und widmete sich mit frischer Kraft seinen früheren Sorgen. Die Meisten seiner Mitbrüder ließen das Leben daselbst, doch alle mit freudigem Opfermuth.
Eine solche Obergewalt war gewiß eine seltsame Aushülfe, seltsam wie das Unglück und wie die Zeit; und wenn wir auch sonst nichts davon wüßten, so würde es schon allein ein hinreichender Beweis sein, wie verwildert und ungeordnet die socialen Zustände waren, wenn man bedenkt, daß diejenigen, die einem so wichtigen Amt vorzustehen hatten, nichts Anderes zu thun wußten, als es niederzulegen; daß sie gezwungen waren, es Männern zu[176] übergeben, die dieser Anstalt am fernsten standen. Aber es ist zugleich kein schlechter Beweis der Kraft und der Ausdauer, den die christliche Liebe zu jeder Zeit und unter allen Verhältnissen geben kann, wenn man bedenkt, daß diese Männer ein solches Amt so wacker verwalteten. Auch war es schön, daß sie es angenommen hatten, als Niemand es antreten wollte, ohne einen andern Zweck als zu helfen, ohne eine andere Hoffnung auf dieser Welt als die eines mehr beneidenswerthen als beneideten Todes; es war gleichfalls schön, daß sie sich ihm opferten, gerade weil es schwer und gefahrvoll war, wenn man annimmt, daß sie die in jenen Augenblicken so nöthige und seltene Stärke und Besonnenheit dazu haben mußten. Und deshalb verdient der Muth und die Aufopferung jener Mönche mit der Achtung, der Rührung und mit der Dankbarkeit erwähnt zu werden, welche gleichsam eine Pflicht ist für die großen, den Menschen geleisteten Dienste, und um so mehr eine Pflicht gegen diejenigen, welche auf keine Wiedervergeltung rechneten. »Wenn diese Väter sich nicht dort eingefunden hätten«, sagt Tadino, »so wäre sicherlich die ganze Stadt zu Grunde gegangen; denn es war etwas Wunderbares, daß diese Väter in einer so kurzen Spanne Zeit so viel für das offentliche Wohl gethan, während ihnen von der Stadt so gut wie gar keine Hülfe geleistet wurde und sie nur durch ihre Thätigkeit und Weisheit so viele tausend Arme im Lazareth erhalten hatten.« In den sieben Monaten, wo Pater Felice die Aufsicht im Krankenhause hatte, wurden ungefähr funfzigtausend Personen aufgenommen, wie Ripamonti berichtet, der mit Recht sagt, daß man von einem solchen Mann gleichfalls hätte sprechen müssen, wenn man, anstatt das Elend einer Stadt zu beschreiben, auch die Dinge hätte erzählen sollen, die ihr Ehre machen können.
Auch im Publikum verschwand natürlich jener Eigensinn, die Pest zu leugnen, denn die Krankheit griff durch die Ansteckung und den Verkehr immer mehr um sich; nachdem sie eine Zeitlang nur unter den Armen geherrscht hatte, ergriff sie nun auch bekanntere Personen. Und unter diesen verdient auch jetzt der Oberarzt Settala als der damals namhafteste einer ausdrücklichen Erwähnung. Werden sie wenigstens erkannt haben, daß der[177] arme Greis Recht hatte? Wer weiß es? An der Pest erkrankte er, seine Frau, zwei Söhne und sieben Dienstboten. Er und einer seiner Söhne kamen glücklich davon; die Uebrigen starben. »Diese Fälle«, sagt Tadino, »die in den vornehmsten Häusern der Stadt vorkamen, machten endlich den Adel und das Volk nachdenklich; die ungläubigen Aerzte und der unwissende freche Pöbel fingen an sich auf die Lippen zu beißen, zu verstummen und die Augen niederzuschlagen.«
Aber die Auswege und Ausflüchte, so zu sagen die Rachsucht des überführten Eigensinns sind zuweilen der Art, daß man wünschen muß, sie wären bis zuletzt gegen Vernunft und Augenschein verschlossen und unbesiegt geblieben; und dies war wohl einer von diesen Fällen. Diejenigen, die so beharrlich und so lange gestritten hatten, daß bei ihnen, unter ihnen kein Krankheitskeim vorhanden wäre, der sich auf gewöhnlichem Wege fortpflanzen und verderblich werden könnte, waren jetzt, da sie die Fortpflanzung desselben nicht ableugnen konnten, und nicht natürlich erklären wollten – womit sie einen großen Irrthum und zugleich eine große Schuld eingestanden hätten –, um so geneigter, irgend eine andere Ursache dafür zu finden und die erste beste, die zum Vorschein käme, gut zu heißen. Zum Unglück lag eine solche schon in den Vorstellungen und in den Ueberlieferungen, die damals nicht nur hier, sondern überall in Europa spukten, bereit; Giftmischerkünste, teufelische Blendwerke, Verschwörungen, um die Pest durch fortwirkende Gifte und Hexerei zu verbreiten. Solche oder ähnliche Dinge waren schon in vielen andern Fällen von Pest vermuthet und geglaubt worden, und ganz besonders in der Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts. Dazu kam, daß im Jahre vorher eine von König Philipp IV. unterzeichnete Depesche an den Statthalter eingetroffen war, worin er benachrichtigt wurde, daß aus Madrid vier Franzosen entwischt, denen man nachstelle, weil sie giftige, pestilenzialische Salben zu verbreiten verdächtig wären; er möchte auf der Hut sein, falls sie sich jemals in Mailand sehen ließen. Der Statthalter hatte diese Depesche dem Senat und der Gesundheitsbehörde mitgetheilt; weiter scheint man sich aber damals nicht darum gekümmert zu haben.[178] Als jedoch die Pest ausgebrochen und erkannt war, konnte die Erinnerung an jene Anzeige dazu dienen, den unbestimmten Verdacht eines heimlichen Frevels zu bestätigen, oder auch die erste Veranlassung sein, ihn hervorzurufen.
Zwei Vorfälle aber, der eine aus blinder unbändiger Furcht, der andere, ich weiß nicht aus welchem Beweggrunde, verwandelten diesen unbestimmten Verdacht von einem möglichen Verbrechen in einen bestimmten, bei Vielen in die Gewißheit eines wirklichen Verbrechens. Einige, die am Abend des 17. Mai Personen im Dome gesehen zu haben glaubten, wie sie eine Bretterwand einsalbten, die dazu diente, die für beide Geschlechter bestimmten Plätze zu scheiden, ließen in der Nacht die Wand und eine gewisse Anzahl Bänke, die daran standen, aus der Kirche schaffen. Der Präsident der Gesundheitsbehörde, der mit vier Personen herbeigekommen war, untersuchte die Wand, die Bänke, das Weihwasserbecken und fand nichts, was den dummen Verdacht eines Giftmischeranschlages bestätigen konnte; um den Einbildungen anderer zu willfahren, vielmehr aus übermäßiger Vorsicht, als weil es nöthig wäre, that er den Ausspruch, daß es genüge, die Wand einmal abzuwaschen. Diese Masse von übereinander geworfenen Sachen brachte einen tiefen Eindruck des Schreckens auf die Menge hervor, für die ein jedes Ding so leicht zu einem Beweisgrund wird. Man sagte und glaubte allgemein, es seien im Dome alle Bänke, die Wände und selbst die Glockenstränge gesalbt worden. Man sagte es nicht nur damals; alle Denkschriften der Zeitgenossen, unter denen einige viele Jahre nachher geschrieben, sprechen von diesem Ereigniß mit gleicher Gewißheit; und den wahren Hergang desselben müßte man errathen, wenn er sich nicht in einem Briefe der Gesundheitsbehörde an den Statthalter vorfände, der in dem Archiv San Fedele aufbewahrt wird; diesem haben wir ihn entnommen, und ihm sind die Worte entlehnt, die wir oben in gesperrte Schrift gesetzt haben.
Am folgenden Morgen trat den Bewohnern ein anderes, noch seltsameres Schauspiel vor die Augen. In jedem Theile der Stadt sah man die Thüren der Häuser und die Mauern auf lange[179] Strecken hin mit einem blaßgelben, weißlichen Schmutze besudelt, der wie mit einem Schwamm angebracht war. Sei es nun ein dummer Spaß gewesen, den Schrecken lärmender und allgemeiner zu sehen, oder eine schlimmere Absicht, die öffentliche Verwirrung zu steigern, oder irgend etwas Anderes, die Sache ist dermaßen bekräftigt, daß es uns thöricht scheinen würde, sie für einen Traum vieler zu halten, als nicht vielmehr für eine ruchlose That, die übrigens weder die erste noch die letzte dieser Art gewesen wäre. Ripamonti, der, was die Salbereien betrifft, die Leichtgläubigkeit des Volkes oft verspottet und noch öfter beklagt, versichert jene Schmutzflecken gesehen zu haben und beschreibt sie. In dem oben angeführten Briefe erzählen die Herren von der Gesundheitsbehörde die Sache mit den nämlichen Worten; sie sprechen von Untersuchungen, von Versuchen, die man an Hunden angestellt habe, jedoch ohne eine üble Wirkung hervorzubringen, und sie fügen hinzu, es sei ihre Meinung, »daß dieser Frevel vielmehr aus Uebermuth als aus verbrecherischer Absicht hervorgegangen«, ein Gedanke, der bis zu jener Zeit die Seelenruhe anzeigt, mit der sie die Dinge ansahen. Die andern gleichzeitigen Schriftsteller deuten ebenfalls, indem sie die Sache erzählen, darauf hin, daß Viele gemeint hätten, es sei aus Spaß, aus Uebermuth geschehen; keiner spricht von Jemand, der das geleugnet habe; sie hätten sicherlich von ihm gesprochen, wenn auch nur um ihn einen Narren zu nennen. Ich habe es für nicht unangebracht gehalten, diese theils wenig bekannten, theils völlig unbekannten Einzelheiten einer berühmten Verrücktheit zusammenzustellen und mitzutheilen; denn es scheint mir bei den Irrthümern, hauptsächlich bei den Irrthümern vieler, was das anziehendste und nützlichste zu beobachten ist, der Schein gerade der Weg und das Mittel zu sein, um in die Gemüther einzudringen und sie zu beherrschen.
In der schon aufgeregten Stadt ging alles drunter und drüber. Die Hauswirthe brannten mit angezündetem Stroh die beschmierten Stellen aus; die Vorübergehenden blieben stehen, sahen zu, schauderten und tobten. Die Fremden, auf die allein der Verdacht fiel und die damals an der Tracht leicht zu erkennen waren, wurden in den Straßen vom Volke ergriffen und nach den[180] Gefängnissen geschleppt. Man verhörte die Verhafter, die Verhafteten, die Zeugen. Niemand war schuldig; die Köpfe waren noch fähig zu zweifeln, zu prüfen, zu begreifen. Die Gesundheitsbehörde erließ eine Verordnung, worin sie demjenigen Belohnung und Straflosigkeit versprach, der die Urheber der That herausbrächte. Da es uns auf keine Weise angemessen scheint, sagen die Herren in dem erwähnten Briefe, der vom 21. Mai datirt, wahrscheinlich aber am 19., dem in der gedruckten Verordnung unterzeichneten Tage geschrieben worden ist, daß dies Verbrechen, besonders in einer so gefährlichen und verdächtigen Zeit irgend wie ungestraft bleibe, so haben wir zum Trost und zur Beruhigung dieses Volkes und um Kenntniß von der That zu erlangen, heute diese Verordnung bekannt gemacht u.s.w. In der Verordnung selbst jedoch findet sich auch nicht die geringste Andeutung von der vernünftigen, beruhigenden Vermuthung, die sie gegen den Statthalter ausdrückten; ein Stillschweigen, welches ein wüthendes Vorurtheil im Volke und zugleich in ihnen eine Nachgiebigkeit verräth, die um so strafbarer ist, je verderblicher sie werden konnte.
Während die Behörde noch suchte, hatten viele im Publikum, wie es zu geschehen pflegt, schon gefunden. Von denen, die an giftige Einsalbung glaubten, meinte Einer, es sei eine Rache des Don Gonzalo Fernandez de Cordova; ein Anderer hielt es für einen Einfall des Kardinals Richelieu, um Mailand zu entvölkern und sich dessen ohne Schwierigkeit zu bemächtigen; andere, und man weiß nicht aus welchen Gründen, gaben den Grafen Collalto, Wallenstein, diesen oder jenen mailändischen Edelmann als den Urheber an. Es fehlte auch an solchen nicht, wie wir gesagt haben, die in der That nichts als einen dummen Spaß sahen und sie Schülern, vornehmen Leuten, Offizieren zuschrieben, die der Belagerung von Casale überdrüssig wären. Da man nun darauf nicht, wie man gefürchtet hatte, eine gleich darauf folgende Ansteckung, ein allgemeines Sterben erfolgen sah, so war dies wahrscheinlich die Ursache, daß jener erste Schrecken sich vor der Hand legte und die Sache in Vergessenheit kam, oder zu kommen schien.[181]
Es gab übrigens eine gewisse Anzahl Menschen, die von dem Dasein der Pest noch immer nicht überzeugt waren. Und weil nun im Krankenhause sowohl wie in der Stadt doch einige wieder aufkamen, so sagte das Volk – die letzten Beweisgründe einer durch den Augenschein besiegten Meinung sind immer anziehend zu erfahren – so sagte das Volk und auch die vielen parteiischen Aerzte, es sei nicht die wirkliche Pest, weil Alle daran gestorben sein wür den. Um jeden Zweifel zu heben, fand die Gesundheitsbehörde ein dem Bedürfniß entsprechendes Hülfsmittel, ein Mittel, das in die Augen sprang, wie die Zeiten es verlangen und eingeben konnten. An einem der Pfingstfeiertage pflegten die Bürger auf dem Kirchhofe San Gregorio vor dem Thore Orientale zusammen zu kommen, um für die an dem ersten Contagium Gestorbenen zu beten, die hier begraben lagen; da sie nach dieser Andacht die Zeit zu Belustigungen und Schauspiel benutzten, so ging ein Jeder so geputzt als möglich dahin. An diesem Tage war unter Andern eine ganze Familie an der Pest gestorben. Auf Befehl der Gesundheitsbehörde wurden zur Stunde des größten Gedränges, mitten unter Kutschen, Reiter und Fußgänger, die Leichname dieser Familie, nackt auf einem Karren nach dem genannten Begräbnißplatze gefahren, damit die Menge an ihnen das offenbare Zeichen der Pest sähe. Ein Schrei des Abscheus, des Schreckens erhob sich überall, wo der Karren vorbeikam, ein langes Gemurmel folgte ihm, wo er vorüber war, ein langes Gemurmel lief ihm voraus. Die Pest fand mehr Glauben; übrigens erlangte sie aber von selbst täglich mehr Glauben, und jene Versammlung selbst sollte nicht wenig zu ihrer Fortpflanzung beitragen.
Im Anfange also keine Pest, durchaus keine, um keinen Preis; nur das Wort auszusprechen ist verpönt; dann pestartiges Fieber; die Vorstellung schleicht sich heimlich durch ein Beiwort ein; dann nicht wirkliche Pest; das heißt freilich Pest, aber in einem gewissen Sinne; nicht eigentlich Pest, aber etwas, für das man keinen andern Namen zu finden weiß; endlich Pest ohne Zweifel und ohne Widerrede. Aber schon hat sich eine andere Vorstellung damit verbunden, die Vorstellung der Giftmischerei[182] und Hexerei, welche die durch das Wort ausgedrückte Vorstellung von der Pest, die sich nicht mehr zurückweisen läßt, verfälscht und verwirrt.
Man braucht, glaube ich, in der Geschichte der Vorstellungen und Worte nicht sehr bewandert zu sein, um einzusehen, daß viele einen ähnlichen Lauf genommen haben. Dem Himmel sei Dank, daß ihrer von der Art und Bedeutung nicht viele sind, die um einen solchen Preis ihre Glaubwürdigkeit erkämpfen müssen und mit denen sich Nebenumstände von solcher Art verbinden. Man könnte jedoch, in großen wie in kleinen Dingen, den so langen krummen Weg meist vermeiden, wenn man die seit so langer Zeit bestehende Regel befolgte, erst zu beobachten, zu hören, zu vergleichen, zu denken und dann zu sprechen.
Aber das Sprechen, diese so einzige Sache, ist viel leichter als alle die andern zusammen, daß auch wir, ich meine wir Menschen überhaupt, ein wenig zu bedauern sind.
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»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
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