Einundzwanzigstes Kapitel.

[352] Die Alte hatte nichts Eiligeres zu thun, als zu gehorchen und zu befehlen mit der Autorität des Namens, dessen Klang auf dem Schlosse dort Alles fliegen machte; denn es kam Niemandem in den Sinn, daß Einer es wagen konnte, jemals den Namen zu mißbrauchen. Sie befand sich in der »Schlechten Nacht« wirklich ein wenig früher, als die Kutsche daselbst ankam; sobald sie diese kommen sah, stieg sie aus der Sänfte, winkte dem Kutscher anzuhalten, trat zu dem Kutschenschlage und flüsterte dem Geier, welcher den Kopf heraussteckte, den Befehl des Gebieters zu.

Lucia fuhr bei dem Anhalten der Kutsche zusammen und kam wie aus einer Art von Todesschlaf wieder zu sich. Ein neues Entsetzen überfiel sie; sie riß Mund und Augen auf und blickte umher. Der Geier hatte sich zurückgebogen, und die Alte reckte das Kinn gegen den Kutschenschlag empor, sah Lucia an und sagte: »Kommt Kleine, kommt armes Mädchen; kommt mit mir, ich habe Befehl Euch gut zu behandeln und Euch Muth zu machen.«

Bei dem Klange einer weiblichen Stimme fühlte die arme Lucia sich einen Augenblick getröstet und ermuthigt; sogleich aber erfaßte sie ein neuer Schauder. »Wer seid Ihr?« fragte sie mit bebender Stimme und starrte die Alte entsetzt an.

»Kommt, kommt, armes Kind«, wiederholte diese. Der Geier und seine beiden Gefährten schlossen aus der ungewöhnlichen Milde, mit welcher die Alte sprach, wie der Herr gesinnt sein müsse, und auch sie boten alles auf, die Geängstigte zu beruhigen; Lucia aber blickte noch immer umher; und obwohl der wilde, unbekannte Ort, und ihre gute Bewachung keine Hoffnung auf Hülfe zuließen, so öffnete sie doch unwillkürlich den Mund um zu schreien; als sie aber den Geier mit dem Tuche drohen sah, unterdrückte sie den Schrei, zitterte und sträubte sich; sie ward gepackt und in die Sänfte gesetzt. Die Alte setzte sich zu ihr; der Geier befahl den beiden andern Halunken der Sänfte zu folgen,[352] und er eilte voran nach dem Schlosse hinauf, um die Befehle des Gebieters einzuholen.

»Wer seid Ihr?« fragte Lucia angstvoll die häßliche Alte. »Was soll ich bei Euch? Wohin führt Ihr mich?«

»Zu Jemand, der es gut mit Euch meint«, antwortete die Alte, »zu einem großen .... Ihr seid wohl dran. Fürchtet Euch nicht, seid heiter; er hat mir anbefohlen Euch Muth zuzusprechen. Ihr werdet's ihm doch sagen, he? daß ich Euch Muth zugesprochen habe?«

»Wer ist er? Warum? Was will er von mir? Ich habe nichts mit ihm zu schaffen. Sagt mir, wo ich bin; laßt mich gehen; sagt den Leuten, sie sollen mich nach irgend einer Kirche tragen. O, Ihr seid ein Weib, im Namen der heiligen Jungfrau ....«

Dieser heilige sanfte Name, den sie in ihren ersten Lebensjahren mit Ehrfurcht nachgesprochen, dann aber lange Zeit hindurch in keinem Gebete mehr angerufen und vielleicht nicht einmal aussprechen gehört hatte, machte in diesem Augenblicke, wo sie ihn vernahm, auf das Gemüth der Elenden einen verworrenen, seltsamen, feierlichen Eindruck, wie ihn die Erinnerung des Lichtes bei einem seit der Kindheit erblindeten Greise hervorbringt.

Während dessen stand der Ungenannte schon an der Pforte des Schlosses und schaute hinunter; wie vorher die Kutsche, so sah er jetzt die Sänfte Schritt vor Schritt näher kommen und den Geier, der ihr in schnellem Laufe voraneilte. Als dieser den Gipfel erreicht hatte, gebot ihm der Herr zu folgen; er begab sich mit ihm in ein Zimmer des Schlosses.

»Nun?« sagte er und blieb stehen.

»Alles auf ein Haar«, antwortete der Geier und verneigte sich tief. »Die Ankunft zur rechten Zeit, das Mädchen zur rechten Zeit, keine Seele rings umher, ein einziger Schrei, auf den sich Niemand blicken ließ, der Kutscher schnell, die Pferde tüchtig, Niemand unterwegs, aber ....«

»Warum aber?«

»Aber .... die Wahrheit zu sagen, ich hätte lieber gewünscht,[353] es wäre mir befohlen worden, sie hinterrücks niederzuschießen, ohne sie sprechen zu hören, ohne ihr ins Gesicht zu sehen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich meine .... daß ich die ganze Zeit über doch gar zu viel Mitleid mit ihr gehabt habe.«

»Mitleid! Was weißt du von Mitleid! Was heißt Mitleid?«

»Es hat mich auch mein Lebtag nicht so gepackt, wie diesmal; mit dem Mitleiden geht's beinahe so wie mit der Furcht, Herr; läßt sich Einer erst davon packen, so ist er kein Mann mehr.«

»Nun, laß mich hören, wie's die Dirne angefangen hat, dich zum Mitleid zu bewegen.«

»O gnädigster Herr! die ganze Zeit über hat sie geweint, gebeten, dann ist sie bleich, bleich wie der Tod geworden .... dann wieder Schluchzen und Bitten, und die Worte, die sie sprach ....«

– Ich will sie hier im Hause nicht – dachte inzwischen der Ungenannte. – Ich bin ein Thor gewesen, daß ich mein Wort gegeben habe; doch ich habe es nun einmal gegeben. Wenn ich sie nur erst wieder los bin .... Mit gebieterischer Miene sagte er darauf zu dem Geier: »Laß das Mitleid jetzt bei Seite; setz' dich zu Pferde, nimm einen Begleiter, auch zweie, wenn du willst, und reite so schnell als möglich nach Don Rodrigo's Schloß. Sag' ihm, er solle sogleich herschicken .... aber sogleich .... denn sonst ....«

Doch noch gebieterischer, als das erste Mal rief ihm eine innere Stimme Nein zu und ließ ihn seinen Befehl nicht vollenden.

»Nein«, sagte er mit fester Stimme, als wollte er das Gebot dieser innern Stimme sich noch deutlicher machen; »nein, geh und ruhe dich aus; morgen früh .... wirst du thun, was ich dir sagen werde.«

– Irgend ein Dämon beschützt die Dirne – dachte er, als er wieder allein war. Er stand aufrecht, die Arme über der Brust gekreuzt, und starrte unbeweglich auf eine Stelle des Fußbodens hin, wo der Schimmer des Mondes durch ein hohes Fenster hereinscheinend, mit seinem bleichen Lichte ein Viereck abzeichnete, das[354] von den starken Eisenstäben und von den Einfassungen der kleinen Glasscheiben, gleich einem Schachbrett in kleine Felder getheilt wurde. –

»Ein Dämon oder .... irgend ein Engel, der sie beschützt .... Den Geier hat sie zum Mitleid bewegt! .... Morgen früh, morgen früh, bei Zeiten, fort mit ihr, wohin sie gehört; man spricht nicht mehr von ihr, und .... fuhr er gleichsam sich selbst befehlend fort, wie man einem unfolgsamen Knaben befiehlt, von dem man schon weiß, daß er nicht gehorchen wird – und man denkt nicht mehr an sie. – Der Don Rodrigo, das Vieh, soll mir nicht erst den Kopf mit seinen Danksagungen warm machen; denn .... ich will von der Dirne nicht weiter reden hören. Ich bin ihm gefällig gewesen, weil .... weil ich es versprochen habe; und ich habe es versprochen, weil .... es mein Verhängniß so wollte. Doch er soll mir den ihm geleisteten Dienst schwer büßen. Laßt sehen .... –

Aber während er so hin und her dachte, um für Don Rodrigo zur Vergeltung eine recht harte Strafe zu ersinnen, fuhren ihm immer wieder die Worte durch den Sinn: Den Geier hat sie zum Mitleid bewegt! – Wie mag sie das angefangen haben? – fuhr er fort, von diesem Gedanken ganz eingenommen. – Ich will sie sehen .... Nein .... Ja, ich will sie sehen.«

Er eilte durch mehrere Gemächer, kam an eine kleine Treppe und stieg tappend hinauf, ging nach der Kammer der Alten und stieß mit dem Fuß gegen die Thür.

»Wer ist da?«

»Mach auf!«

Auf diesen Ruf sprang die Alte schnell herbei, sogleich hörte man den Riegel zurückschieben und die Thür ging auf. Der Ungenannte warf von der Schwelle aus einen Blick in die Kammer; beim Scheine einer Lampe, die auf einem Tischchen brannte, sah er Lucia in dem äußersten Winkel der Kammer auf der Erde niedergekauert sitzen.

»Wer hat dir gesagt, sie wie einen Sack Lumpen an der Erde liegen zu lassen, elendes Weib?« sagte er mit zürnender Miene zu der Alten.[355]

»Sie hat sich dort hinsetzen wollen«, antwortete die Alte demüthig, »ich habe alles gethan, um ihr Muth zu machen; sie kann es selbst nicht anders sagen; es hat aber nichts geholfen.«

»Steht auf«, sagte der Ungenannte zu Lucia und trat näher an sie heran. Lucia aber, deren erregtes Gemüth das Klopfen und Oeffnen, das Erscheinen dieses Mannes, seine Worte mit neuem Entsetzen erfüllt hatten, saß noch ängstlicher als vorher in dem Winkel, verbarg das Gesicht in den Händen und zitterte an allen Gliedern.

»Steht auf«, wiederholte der Herr, »ich will Euch nichts zu Leide thun .... ich kann Euch Gutes thun .... Steht auf!« donnerte darauf dieselbe Stimme aufgebracht, zweimal vergebens befohlen zu haben.

Wie neugekräftigt durch den Schrecken, richtete sich die Unglückliche augenblicklich auf die Knie empor; sie faltete die Hände, als läge sie vor einem Heiligenbilde, erhob die Augen zu dem Ungenannten, der vor ihr stand, und indem sie sie sogleich wieder niederschlug, sagte sie: »Hier bin ich, tödten Sie mich.«

»Ich habe gesagt, daß ich Euch nichts zu Leide thun will«, antwortete der Ungenannte in milderem Tone und betrachtete die Züge dieses von Angst und Schrecken verstörten Gesichtes.

»Muth, Muth«, sagte die Alte, »wenn er selber es Euch sagt, daß er Euch nichts zu Leide thun will ....«

»Und warum«, begann Lucia mit bebender Stimme, der man bei aller Furcht eine gewisse Sicherheit des verzweifelten Unwillens anhörte. »Warum lassen Sie mich diese Höllenqualen leiden? Was habe ich Ihnen gethan?«

»Hat man Euch schlecht behandelt? Sprecht!«

»Schlecht behandelt! O sie haben verrätherischer Weise mich ergriffen, mit Gewalt! Warum? Warum haben sie mich ergriffen? Warum bin ich hier? Wo bin ich? Ich bin ein armes Geschöpf, was habe ich Ihnen gethan? Im Namen Gottes ....«

»Gott, Gott«, unterbrach sie der Ungenannte, »immer Gott; wer sich nicht selber vertheidigen kann und sonst keine Gewalt hat, der ist bei jeder Gelegenheit mit Gott bei der Hand, als ob[356] er ihn gesprochen hätte. Was wollt Ihr mit diesem Worte? Mich etwa ....« Er hielt inne.

»O Herr! Was ich damit will? Was kann ich Aermste damit wollen, als daß Sie Erbarmen mit mir haben? Gott verzeiht so viele Dinge für ein einziges Werk der Barmherzigkeit! Lassen Sie mich gehen; aus Barmherzigkeit! Wer selbst einmal sterben muß, der sollte ein armes Geschöpf nicht so leiden lassen. O Sie, der Sie befehlen können, sagen Sie, daß man mich gehen läßt! Sie haben mich mit Gewalt hierher geschleppt. Lassen Sie mich von dieser Frau nach *** bringen, wo meine Mutter ist. O heilige Jungfrau! meine Mutter! meine Mutter! aus Barmherzigkeit! Vielleicht ist es nicht weit von hier .... ich habe meine Berge gesehen! Warum lassen Sie mich so viel leiden? Lassen Sie mich nach einer Kirche bringen. Ich will mein ganzes Leben lang für Sie beten. Was kostet es Ihnen, ein einziges Wort zu sagen? O ich sehe es! das Mitleid regt sich in Ihnen; sprechen Sie es aus das Wort, sprechen Sie es aus. Gott verzeiht so viele Dinge für ein einziges Werk der Barmherzigkeit!« – O warum ist sie nicht die Tochter eines jener Hunde, die mich aus dem Lande gestoßen haben! – dachte der Ungenannte – eines jener Schurken, die meinen Tod wünschen! wie wollte ich mich jetzt an ihrem Geheul weiden und anstatt .... –

»Verleugnen Sie eine gute Eingebung nicht!« fuhr Lucia glühend fort, die wieder Muth faßte, als sie in dem Gesichte und in der Haltung ihres Tyrannen eine gewisse Unschlüssigkeit bemerkte. »Wenn Sie kein Erbarmen mit mir haben, so wird es unser Herrgott mit mir haben; er wird mich sterben lassen und durch den Tod meine Leiden enden; Sie aber .... vielleicht werden auch Sie eines Tages .... doch nein, nein; ich will allezeit zu unserm Herrgott beten, daß er Sie vor allem Uebel bewahren möge. Was kostet es Ihnen dieses einzige Wort auszusprechen? Wenn Sie diese Qualen erdulden sollten ....!«

»Genug, faßt Muth«, unterbrach sie der Ungenannte mit einer Milde, über die sich die Alte nicht genug verwundern konnte. »Habe ich Euch irgend etwas zu Leide gethan? Habe ich Euch gedroht?«[357]

»O nein! ich sehe Sie haben ein gutes Herz, Sie fühlen Mitleid mit einem armen Geschöpfe. Wenn Sie wollten, könnten Sie mich mehr als alle die Andern in Furcht setzen, Sie könnten mir den Tod geben; und statt dessen haben Sie mir .... das Herz ein wenig erleichtert. Gott wird es Ihnen lohnen. Vollenden Sie das Werk der Barmherzigkeit; befreien Sie mich, befreien Sie mich!«

»Morgen früh ....«

»O befreien Sie mich jetzt, sogleich ....«

»Ich sage Euch, Morgen früh sehen wir uns wieder. Auf, seid guten Muthes bis dahin. Ruht Euch aus. Ihr müßt Hunger haben; man soll Euch sogleich zu essen bringen.« »Nein, nein, ich sterbe, wenn Einer hier hereinkommt, ich sterbe. Bringen Sie mich in eine Kirche .... Gott wird Ihnen jeden Schritt vergelten.«

»Ein Frauenzimmer soll Euch sogleich zu essen bringen«, sagte der Ungenannte; kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so erstaunte er über sich selbst, daß ihm ein solches Hülfsmittel in den Sinn gekommen sei, daß er es überhaupt für der Mühe werth gehalten habe, ein solches zu suchen, um ein armes, gewöhnliches Weib zu beruhigen.

»Und du«, wandte er sich darauf schnell zu der Alten, »ermuntere sie zum Essen; laß sie in dem Bett da schlafen; wenn sie es mit dir theilen will, gut; wo nicht, kannst du auch wohl eine Nacht auf der Erde schlafen. Ermuthige sie, sage ich dir; heitere sie auf; und daß sie sich nicht etwa über dich zu beklagen hat!«

Nach diesen Worten schritt er schnell nach der Thür. Lucia sprang auf, eilte ihm nach, um ihn zurückzuhalten und ihre Bitten zu erneuern; aber er war verschwunden.

»Ach ich Aermste! Schließt zu, schließt geschwind zu!« Sobald sie die Thürflügel zusammenschlagen und den Riegel klirren gehört hatte, kauerte sie sich wieder in ihren Winkel nieder. »Ach ich Aermste!« rief sie von neuem unter Schluchzen. »Wen soll ich jetzt bitten? Wo bin ich? Sagt Ihr es mir, sagt mir aus Barmherzigkeit, wer ist der Herr .... der mit mir gesprochen hat?«

»Wer er ist? wer er ist, soll ich Euch sagen? Du kannst lange warten, bis ich es Dir sage. Weil er Euch in Schutz nimmt,[358] fährt Euch schon der Hochmuth in den Kopf; Ihr wollt Eure Neugierde befriedigen, und ich würde übel dabei wegkommen. Fragt ihn selber. Wenn ich Euch auch damit zufrieden stellte, ich würde nicht so gute Worte zu hören bekommen als Ihr.« – Ich bin alt, bin alt, – murmelte sie zwischen den Zähnen – verwünscht sind die Jungen; sie können gute Miene zum bösen Spiel machen, denn sie kriegen immer Recht. – Da sie aber Lucia schluchzen hörte, fiel ihr sogleich der drohende Befehl des Gebieters wieder ein; sie bückte sich zu der armen im Winkel Verkrochenen nieder und sagte mit besänftigender Stimme »Nicht doch, ich habe Euch nichts Schlimmes gesagt, seid munter. Fragt mich nicht nach Dingen, die ich Euch nicht sagen kann, und übrigens seid guten Muthes. O wenn Ihr wüßtet wie viele Leute froh gewesen wären, wenn er mit ihnen so wie mit Euch gesprochen hätte! Seid heiter, es wird nun gleich zu essen gebracht werden; und ich, ich weiß hier Bescheid .... wie er mit Euch gesprochen hat, steht Euch was Gutes bevor. Und dann legt Euch zu Bett, und .... Ihr werdet mir wohl auch ein Plätzchen übrig lassen, hoff' ich«, fügte sie im Tone unterdrückten Grolles hinzu.

»Ich will nicht essen, ich will nicht schlafen. Laßt mich hier sitzen, kommt mir nicht zu nahe, geht aber auch nicht hinaus!«

»Nein, nein, seid ruhig«, sagte die Alte, trat von ihr weg und setzte sich in einen alten Lehnstuhl, von wo aus sie gewisse ängstliche und zugleich mißgünstige Blicke auf die Unglückliche warf; dann sah sie ihr Lager an und indem sie sich heimlich abärgerte, daß sie es vielleicht für die ganze Nacht entbehren sollte, brummte sie über die Kälte. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken an das Abendessen und mit der Hoffnung, daß auch für sie etwas abfallen würde. Lucia empfand weder etwas von der Kälte, noch fühlte sie Hunger; sie war wie betäubt und hatte selbst von ihren Leiden und Schrecken nur ein verworrenes Gefühl, den Traumbildern eines Fieberkranken ähnlich.

Sie schrak zusammen, als sie anklopfen hörte, und indem sie das erschrockene Gesicht erhob, rief sie »Wer ist da? Wer ist da? Es soll Niemand herein kommen!«[359]

»Nicht doch, nicht doch, gute Botschaft, es ist Martha«, sagte die Alte, »die zu essen bringt.«

»Schließt wieder zu« schrie Lucia. »I gleich, gleich!« antwortete die Alte; sie nahm aus den Händen der Martha einen Korb, schickte sie wieder fort, schloß zu und stellte den Korb auf einen Tisch mitten in der Stube. Darauf lud sie Lucia mehrere Male ein, zu kommen und sich die Gerichte schmecken zu lassen. Sie wendete die nach ihrer Meinung wirksamsten Mittel an, um der Armen Eßlust zu machen, brach in Lobeserhebungen über die Köstlichkeit der Speisen aus: Leckerbissen, an die Leute wie wir noch eine ganze Weile denken, wenn sie davon nur kosten dürfen. Wein .... wie ihn der Herr mit seinen Freunden trinkt .... wenn Einige von denen kommen, die ....! und wenn sie lustig sein wollen! Ei! Da sie aber sah, daß alle Beschwörungen nichts halfen, sagte sie: »Ihr seid es, die nicht will; sagt ihm nicht etwa morgen, daß ich Euch nicht zugeredet habe. Ich esse; für Euch wird noch mehr als genug übrig bleiben, wenn Ihr noch Vernunft annehmen und mir folgen wolltet.« Nach diesen Worten machte sie sich gierig über die Speisen her. Als sie gesättigt war, stand sie auf, ging nach dem Winkel, und indem sie sich zu Lucia niederbückte, forderte sie sie von neuem auf zu essen, um dann schlafen zu gehen.

»Nein, nein, ich will nichts«, antwortete diese mit schwacher Stimme wie halb schon im Schlafe. Dann sich ermunternd, fragte sie »ist die Thüre auch verschlossen? gut verschlossen?« Und nachdem sie sich in der Stube überall umgesehen hatte, erhob sie sich und ging mit vorgestreckten Händen mißtrauisch nach der Thüre.

Die Alte kam ihr zuvor, legte die Hand an's Schloß, faßte die Klinke und sagte: »Hört Ihr? Seht Ihr? Sie ist fest verschlossen. Seid Ihr jetzt zufrieden?«

»Zufrieden! wie kann ich hier zufrieden sein?« sagte Lucia und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. »Aber der Allmächtige weiß, daß ich hier bin.«[360]

»Kommt zu Bett; was wollt Ihr da wie ein Hund zusammengekrochen liegen? Wem wäre es jemals eingefallen, Bequemlichkeiten zurückzuweisen, wenn er sie haben kann?«

»Nein, nein; laßt mich hier liegen.«

»Ihr wollt es so. Seht, ich lasse Euch die gute Stelle; ich lege mich hier ganz an den Rand; ich werde Euretwegen unbequem liegen. Wenn Ihr ins Bett kommen wollt, so wißt Ihr, wie Ihr es anzustellen habt. Denkt daran, daß ich Euch mehr denn einmal drum gebeten habe.« Mit diesen Worten kroch sie angekleidet unter die Decke, und alles schwieg.

Lucia blieb unbeweglich in dem Winkel zusammengekauert sitzen, wie ein Knaul, die Knie an den Leib gezogen, die Arme auf den Knien und das Gesicht in den Händen verborgen. Sie schlief weder, noch wachte sie, aber ihr Zustand war in rascher Folge ein stürmischer Wechsel von Gedanken und schrecklichen Phantasien. Bald sich ihrer selbst klarer bewußt, der gesehenen und erduldeten Schrecken dieses Tages sich deutlicher erinnernd, fügte sie sich traurig in die Umstände der düstern, furchtbaren Wirklichkeit, worin sie sich verwickelt fand; bald wieder kämpfte der Geist, in eine noch schrecklichere Region versetzt, gegen die von der Furcht und Ungewißheit erzeugten Schreckbilder. In diesen Qualen blieb sie eine Weile; endlich, noch ermüdeter und niedergeschlagener als vorher, streckte sie die erstarrten Glieder aus; sie fiel um und blieb einige Zeit in einem schlafähnlichen Zustand ausgestreckt am Boden liegen. Aber plötzlich erwachte sie wieder, wie auf einen innern Ruf; sie nahm alle ihre Gedanken zusammen, um zu erkennen, wo sie wäre. Sie hörte ein Geräusch: es war das langsame, rauhe Schnarchen der Alten; sie riß die Augen auf und sah einen schwachen Lichtschein abwechselnd erscheinen und verschwinden; es war der Docht der Lampe, der dem Erlöschen nahe, ein flackerndes Licht von sich gab, das sogleich wieder verschwand, so zu sagen zurücktrat, wie das Steigen und Fallen der Fluth am Gestade; und dieses Licht, das von den Gegenständen schon entfloh, ehe dieselben noch bestimmte Form und Farbe angenommen hatten, stellte dem Blick nur eine Aufeinanderfolge von verworrenen[361] Bildern dar. Doch sehr bald halfen ihr diese neuen Eindrücke, die vor der Seele auftauchten, dasjenige zu unterscheiden, was sich den Sinnen nur verworren dargestellt hatte. Die Unglückliche erkannte ihr Gefängniß; alle Erinnerungen des verflossenen entsetzlichen Tages, alle Schrecken der Zukunft bestürmten sie auf einmal; selbst diese Ruhe nach so vielen Gemüthsbewegungen, diese Art von Erholung, dieses Sichselbstüberlassensein flößten ihr ein neues Entsetzen ein, und sie wurde von einer solchen Betrübniß überwältigt, daß sie zu sterben wünschte. Doch in demselben Augenblick dachte sie daran, daß sie ja doch beten könne und mit diesem Gedanken ging zugleich in ihrem Herzen ein plötzlicher Hoffnungsstrahl auf. Sie nahm ihren Rosenkranz hervor und fing an zu beten; mit jedem Gebete, das ihre zitternden Lippen hersagten, gewann ihr Herz mehr Zuversicht. Plötzlich fuhr ihr der Gedanke durch den Sinn, daß ihr Gebet noch eher Erhörung finden würde, wenn sie in ihrer Trostlosigkeit irgend ein Gelübde thäte. Sie dachte an das Liebste, was sie hatte, oder was sie am liebsten gehabt hatte, denn in diesem Augenblicke konnte ihre Seele weder ein anderes Gefühl als Schrecken empfinden, noch ein anderes Verlangen in sich tragen als das nach Befreiung; sie dachte an das Liebste und entschloß sich es sogleich zum Opfer zu bringen. Sie stand auf, sank dann auf die Knie, und indem sie die Hände, aus denen der Rosenkranz herabhing, gefaltet über die Brust hielt, erhob sie das Gesicht, blickte zum Himmel empor und sagte: »O heilige Jungfrau! Du, die ich so oft angefleht habe, und die du mich so oft getröstet hast! Du, die du so viele Schmerzen gelitten hast und jetzt so glorreich bist und so viele Wunder für die armen Bedrängten gethan hast, hilf mir! errette mich aus dieser Gefahr, führe mich zu meiner Mutter zurück; o Mutter Gottes! und ich gelobe dir Jungfrau zu bleiben; ich entsage für immer meinem armen Renzo, um niemals sonst Jemand anzugehören als dir.«

Als sie diese Worte gesprochen hatte, neigte sie den Kopf und hing sich den Rosenkranz um den Hals, gleichsam wie zum Zeichen der Weihe und zum Schutze zugleich, wie eine Rüstung der neuen Fahne, zu der sie geschworen hatte. Sie setzte sich wieder auf die Erde und fühlte eine gewisse Ruhe und innige Zuversicht über ihr[362] Gemüth kommen. Es trat ihr das von dem mächtigen Unbekannten wiederholte »Morgen früh« in den Sinn und dieses Wort erschien ihr jetzt wie eine Zusage der Erlösung. Die in einem solchen Kampfe ermüdeten Sinne wurden nach und nach von diesen ruhigeren Gedanken eingewiegt; und endlich, es tagte beinahe, sank Lucia, den Namen ihrer Beschützerin noch halb auf den Lippen, in einen tiefen, anhaltenden Schlaf.

Aber es war noch Jemand in demselben Schlosse, der auch gern so geschlafen hätte, und es doch nicht konnte. Nachdem er von Lucia fortgegangen, oder fast vor ihr geflohen war, nachdem er zu ihrem Abendessen den Befehl gegeben und nach seiner Gewohnheit noch verschiedene Punkte des Schlosses besichtigt hatte, wobei ihm das Bild des Mädchens immer lebhaft vor der Seele stand und ihre Worte in seinem Ohre wiederhallten, war der Herr in sein Schlafgemach gestürzt, hatte in Hast und Aufregung von innen zugeschlossen, als hätte er sich gegen eine Rotte Feinde zu verschanzen gehabt, und war, nachdem er sich noch aufgeregter entkleidet, zu Bett gegangen. Aber jenes Bild stand noch lebhafter vor ihm und schien ihm in diesem Augenblick zu sagen: Du wirst nicht schlafen. – Was für eine dumme weibische Neugierde – dachte er – mußte mich plagen die Dirne zu sehen? Das Thier, der Geier hat Recht; man ist kein Mann mehr; es ist wahr, man ist kein Mann mehr! .... Ich? .... Bin ich kein Mann mehr? Was ist geschehen? Was für ein Teufel ist in mich gefahren? Was giebt es denn Neues? Wußte ich es nicht im Voraus, daß die Weiber winseln? Auch die Männer winseln oftmals, wenn sie sich nicht wehren können. Was Teufel! habe ich denn noch niemals Weiber jammern und winseln hören?

Und hier, ohne daß er sich sehr anstrengte, kam ihm sein Gedächtniß von selbst entgegen und rief ihm mehr als einen Fall zurück, wo ihn weder Bitten noch Klagen zu bewegen vermocht hatten, von seinen Beschlüssen abzustehen. Aber die Erinnerung solcher Fälle gab ihm die Entschlossenheit, die ihm fehlte, um dieses Unternehmen durchzuführen, nicht zurück; sie erstickte das lästige Mitleid in seiner Seele nicht; sie weckte vielmehr eine Art von Grauen, eine gewisse wüthende Reue, so daß es ihm eine Erleichterung[363] dünkte, zu jener ersten Vorstellung von Lucia zurückzukehren, wogegen er gesucht hatte, seinen Muth zu waffnen. – Sie lebt ja – dachte er – ist hier; ich bin zu ihrem Glücke hier; ich kann sagen: geht, seid wieder fröhlich! ich kann sehen, wie dieses Gesicht sich verwandelt, ich kann zu ihr sagen: verzeiht mir .... verzeiht mir? Ich um Verzeihung bitten? ein Weib? ich ...! Ach und dennoch! Wenn ein Wort, ein solches Wort mir Ruhe brächte und mich nur ein wenig von diesen Höllenqualen befreite, ich würde es aussprechen; ach! ich fühle, daß ich es sagen würde. Wohin ist es mit mir gekommen! Ich bin kein Mann mehr, ich bin kein Mann mehr! .... Weg! rief er dann und warf sich ungestüm auf die andere Seite, während das Lager unter ihm immer härter und die Decke immer schwerer wurde. – Weg! das sind Narrheiten, die mir schon öfter durch den Kopf gegangen sind. Sie werden auch dies Mal vorübergehen. –

Und um sie vorübergehen zu lassen, suchte er mit seinen Gedanken irgend etwas Wichtiges zu erfassen, etwas der Art, das ihn lebhaft zu beschäftigen pflegte, um sich ganz hinein zu versetzen; aber er fand nichts. Alles schien ihm wie verwandelt; das was sonst sein Verlangen am heftigsten erregt, hatte jetzt gar keinen Reiz mehr für ihn; die Leidenschaft wollte, wie ein Pferd, das mit einem Mal vor einem Schatten stätisch geworden, nicht mehr vorwärts. Indem er an die eingeleiteten und nicht ausgeführten Unternehmungen dachte, empfand er, anstatt sich zu ihrer Ausführung zu ermuthigen, anstatt sich durch die Hindernisse in Zorn setzen zu lassen – der Zorn würde ihm in diesem Augenblicke süß gedäucht haben – empfand er eine Traurigkeit, gleichsam eine Bestürzung über die schon gethanen Schritte. Die Zeit hatte für ihn keinen Werth mehr; sie erschien ihm ohne Zweck, ohne Thatkraft, ohne Wunsch, nur von unerträglichen Erinnerungen angefüllt; träge schlichen die Stunden hin, gleich dieser, die jetzt ihn so niederdrückte. Er bewaffnete in der Einbildung alle seine feilen Knechte, aber er fand nichts, das der Mühe werth gewesen wäre um nur Einen von ihnen damit zu beauftragen; sogar der Gedanke sie wieder zu sehen, sich unter ihnen zu befinden, war ihm eine neue Last, ein widerlicher Gedanke, der ihn quälte. Und so[364] oft er auch eine Beschäftigung, ein thunliches Werk für den morgenden Tag ersinnen wollte, er mußte immer wieder daran denken, daß er morgen das arme Mädchen in Freiheit setzen konnte.

– Ich will sie freilassen, ja; sobald es tagt, will ich zu ihr eilen und ihr sagen: Geht, geht .... Ich werde sie begleiten lassen .... Und das Versprechen? und Don Rodrigo? .... Wer ist Don Rodrigo? –

Gleichwie Einer, der durch eine unerwartete Frage eines Obern überrascht worden ist, dachte der Ungenannte sogleich daran, die Frage zu beantworten, die er sich selbst, oder die vielmehr sein neues Ich ihm gestellt hatte, welches plötzlich furchtbar angewachsen, sich gleichsam zum Richter des alten Ichs erhob. Er suchte also nach den Gründen, aus denen er sich hatte entschließen können, fast ehe er noch darum gebeten worden war, die Verpflichtung auf sich zu nehmen, eine unbekannte Unglückliche so viele Leiden ohne Hehl, ohne Furcht, Jenem zu Gefallen, erdulden zu lassen; aber nicht genug, daß es ihm nicht gelang, Gründe aufzufinden, die ihm in diesem Augenblicke stichhaltig geschienen hätten, diese Thatsache zu entschuldigen; er konnte sich sogar selbst nicht einmal erklären, wie er dazu verleitet worden war. Dieser Wille, vielmehr diese Uebereilung war eine augenblickliche Bewegung der Seele gewesen, die den alten gewohnten Gefühlen noch gehorcht hatte, eine Folge von tausend vorhergegangenen Thaten, und so fand sich der gequälte Selbstprüfer, um sich von einer einzigen That Rechenschaft abzulegen, in eine Untersuchung seines ganzen Lebens hineingezogen. Immer weiter zurück, von Jahr zu Jahr, von Verbrechen zu Verbrechen, von Mordthat zu Mordthat; jede stand vor dem bewußten Geiste frisch da, getrennt von den Empfindungen, die den Willen und die That erzeugt hatten, in einer Ungeheuerlichkeit, welche diese Empfindungen damals nicht in ihnen hatten erkennen lassen. Sie waren alle die seinigen, er hatte sie begangen; das bei einer jeden dieser Vorstellungen wiederauflebende, allen anklebende Entsetzen steigerte sich bis zur Verzweiflung. Hastig setzte er sich in seinem Bette auf, fuhr mit den Händen an die Wand neben dem Bette, griff nach einem Pistol, wollte es abbrennen; und .... in dem Augenblicke, da er ein ihm[365] unerträglich gewordenes Leben enden wollte, wurde sein Geist von Schrecken, von einer, so zu sagen, fast abergläubischen Furcht ergriffen; es faßte ihn der Gedanke an die Zeit, die auch nach seinem Tode fortdauern würde. Schaudernd dachte er sich seinen entstellten, regungslosen Leichnam, der Willkür des Gemeinsten preisgegeben, der ihn überlebte; das Erstaunen, die Verwirrung im Schlosse am folgenden Tage; alles drunter und drüber; er selbst kraftlos, stumm, wer weiß wo hingeworfen. Er dachte an das Gerede, das davon gemacht wurde, an das Frohlocken seiner Feinde. Auch die Finsterniß, die Stille, ließen ihm den Tod noch trauriger und schrecklicher erscheinen; er meinte am hellen Tage, vor aller Leute Augen, würde er nicht zögern, sich in ein Wasser zu stürzen, um seinem Leben ein Ende zu machen. Von so qualvollen Gedanken hin und her geschleudert, spannte er mit krampfhafter Anstrengung des Daumens den Hahn der Pistole und ließ ihn wieder los, wenn ihm ein anderer Gedanke durch den Sinn fuhr. – Wenn dieses andere Leben, wovon sie mir so viel gesprochen, als ich ein Knabe war, von dem sie noch immer fort und fort reden, als ob es eine ausgemachte Sache wäre, wenn dieses Leben nichts ist, als eine bloße Erfindung der Pfaffen, was mache ich? Warum sterben? Was hat's dann auf sich, was ich begangen habe? was hat's auf sich? Eine Narrheit ist mein .... Und wenn dieses andere Leben dennoch ist ....! –

Bei diesem Zweifel, bei dieser Ungewißheit verfiel er in eine noch finstrere Verzweiflung, der er nicht entfliehen konnte, selbst nicht durch den Tod. Er ließ die Waffe fallen, fuhr mit der Hand in die Haare, klapperte mit den Zähnen und zitterte an allen Gliedern. Plötzlich fielen ihm die Worte wieder ein, die er vor einigen Stunden wiederholt gehört hatte: – Gott verzeiht so viele Dinge für ein einziges Werk der Barmherzigkeit! –

Aber er vernahm sie nicht in jenem Tone demüthiger Bitte, womit sie gesprochen worden waren, sie erklangen wie ein Machtausspruch, der zugleich etwas Tröstliches enthielt. Dies war ein Moment der Erleichterung; er nahm die Hände von den Schläfen, und mit ruhigerem Gemüthe richtete er sein inneres Auge auf diejenige, von der er diese Worte gehört hatte; und er sah sie nicht[366] als seine Gefangene, nicht als eine Bittende; wie ein Wesen, das Gnade und Trost spendet, stand sie vor ihm. Voll Ungeduld erwartete er den Tag, um sie schnell zu befreien, um aus ihrem Munde Worte des Trostes und der Hoffnung zu hören; er dachte daran, sie selbst zur Mutter zurückzuführen. – Und dann? Was soll ich morgen, den übrigen Tag anfangen? Was werde ich übermorgen anfangen? Was überübermorgen? Und die Nacht? die in zwölf Stunden wiederkehrt. O die Nacht! nur nicht die Nacht! So in die martervolle Zukunft sich verlierend, suchte er vergebens nach einer Ausfüllung der Zeit, nach einer Beschäftigung, mit der er die Tage und Nächte hinbringen könnte. Bald nahm er sich vor, das Schloß zu verlassen und in fremde Länder zu gehen, wo ihn Niemand kannte, nicht einmal dem Namen nach; doch er fühlte, daß er überall derselbe bleiben würde; eine schwache Hoffnung lebte in ihm auf, daß er vielleicht den alten Muth, die alte Willenskraft wieder gewönne, und daß sein jetziger Zustand nur ein vorübergehender Wahn wäre. Bald fürchtete er den Tag, der ihn den Seinigen so jämmerlich verwandelt zeigen würde; dann wieder ersehnte er ihn, als sollte er Licht auch in seine Gedanken bringen. Und siehe da! gerade als es anfing zu tagen, wenige Augenblicke später, als Lucia eingeschlafen war, siehe da! indem er so bewegungslos dasaß, hörte er es an sein Ohr schlagen, wie eine Welle von Tönen, nicht deutlich vernehmbar, aber die eine gewisse Feierlichkeit hatten. Er wurde aufmerksam und hörte von ferne feierliches Glockengeläute; das Echo der Berge wiederholte es langsam und vermischte sich mit ihm. Nach einer Weile hörte er eine andere, nähere Glocke gleichfalls feierlich läuten; dann noch eine andere. – Was giebt's für eine Feierlichkeit heute? – Woran erbauen sich alle Diese schon wieder? – Er sprang von seinem Dornenlager auf, kleidete sich schnell halb an, riß das Fenster auf und sah hinaus. Die Berge waren noch halb in Nebel gehüllt, der ganze Himmel war ein einziges graues Gewölk; aber da es nach und nach immer mehr Tag wurde, ließen sich auf dem Wege unten im Thale Leute erkennen, die eilig vorübergingen; andere traten aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg; alle schlugen dieselbe Richtung ein, nach dem Ausgang des Thales[367] rechts vom Schlosse zu; alle in Festkleidern und in einer außergewöhnlichen Bewegung.

– Was Teufel haben die? Was giebt's denn für ein Fest in dem verwünschten Dorfe? Wohin rennt all das Gesindel? – Er rief einen vertrauten Bravo, der im Nebenzimmer schlief, und fragte ihn, was die Ursache der Bewegung sei. Dieser, der nicht mehr als der Herr davon wußte, antwortete, er würde sich sogleich darnach erkundigen. Der Herr blieb am Fenster gelehnt stehen und betrachtete aufmerksam das wechselnde Schauspiel. Männer zogen vorüber, Frauen, Kinder in Schaaren, paarweise oder einzeln; der Eine holte einen vor ihm Gehenden ein und gesellte sich zu ihm; ein Anderer trat eben aus dem Hause und schloß sich dem ersten besten an, den er traf, und sie gingen zusammen wie Freunde auf eine verabredete Reise. Die Geberden deuteten offenbar auf Eile und eine gemeinsame Freude; und jenes Geläute der verschiedenen Glocken von nah und fern, die nicht harmonisch mit einander stimmten, aber denselben Ruf zu verkünden schienen, war gewissermaßen der hörbare Ausdruck dieser Geberden, die Ergänzung der Worte, die nicht bis zu ihm herauf dringen konnten. Er schaute und schaute, und sein Herz verlangte nicht bloß aus Neugierde zu erfahren, was eine so allgemeine Freudigkeit unter so vielen verschiedenen Menschen hervorrufen konnte.[368]

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2.
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