Fünfzehntes Kapitel.

[263] Als der Wirth sah, daß der Spaß kein Ende nahm, ersuchte er höflich die Gäste, Renzo in Ruhe zu lassen; dann trat er zu diesem hin, schüttelte ihn am Arm und suchte ihn zu überreden, schlafen zu gehen. Renzo hörte aber nicht und kam immer wieder auf dieselben Geschichten von Namen, Zunamen, Verordnungen und rechtschaffenen Leuten zurück. Nachdem ihm die Worte: zu Bett und schlafen immer wieder vorgesprochen waren, fing er allmählich an, sie zu begreifen, und in diesem lichten Augenblicke fühlte er auch wirklich das Bedürfniß nach Ruhe. Er nahm sich, so viel er konnte, zusammen, ergriff mit beiden Händen den Tisch, versuchte ein oder zwei Mal aufzustehen, ächzte und taumelte und kam das dritte Mal, vom Wirth unterstützt, auf die Beine. Dieser hielt ihn fortwährend aufrecht und ließ ihn zwischen dem Tisch und der Bank hervortreten; in die eine Hand nahm er eine Laterne, mit der andern führte er ihn, so gut es ging, nach der Treppenthüre. Bei dem Lärm der Grüße, die ihm von der Gesellschaft nachgerufen wurden, wandte sich Renzo hastig um, und wenn der Wirth ihn nicht an dem einen Arme sehr fest gehalten hätte, so würde aus dieser Wendung ein Sturz geworden sein. Er wandte sich also um, fuhr mit dem an dern Arme, welchen er frei hatte, in der Luft herum, als wollte er durch gewisse Geberden seine Abschiedsgrüße ausdrücken.

»Kommt zu Bett, zu Bett!« sagte der Wirth und schleppte ihn mit sich fort; er half ihm zur Thür hinaus, zog ihn mit noch größerer Mühe die schmale Treppe empor und brachte ihn dann in das Zimmer, das er für ihn bestimmt hatte. Renzo freute sich über den Anblick des Bettes, das ihn erwartete, und sah selig und vergnügt den Wirth mit einem Paar Aeuglein an, die wie zwei Glühwürmchen leuchteten; dabei suchte er sich immer auf den Beinen zu erhalten und streckte die Hand nach der Wange des Wirths aus, um sie aus Freundschaft und Dankbarkeit zu streicheln; es gelang ihm aber nicht.[263]

»Lieber Wirth«, vermochte er endlich herauszubringen, »lieber Wirth, jetzt sehe ich, daß du ein braver Mann bist; du thust ein gutes Werk, einem armen Jungen ein Bett zu geben; aber der Streich, den du mir mit dem Namen und Zunamen gespielt hast, der war doch nicht brav von dir. Zum Glück bin auch ich ein Schlaukopf ...«

Der Wirth hatte nicht geglaubt, daß Renzo noch so zusammenhängend reden könnte; denn er wußte aus seiner langen Erfahrung, daß die Menschen in solchem Zustande mehr als gewöhnlich dem Wechsel der Gefühle unterworfen sind, und darum wollte er schnell diesen lichten Augenblick benutzen, um noch einen Versuch zu machen.

»Lieber Sohn«, sagte er schmeichlerisch, »ich habe es ja nicht gethan, um Euch zu quälen, oder um Euch auszuhorchen. Was kann man machen? Das Gesetz ist da und wir müssen gehorchen, wenn wir nicht in Strafe verfallen wollen. Darum muß man sich drein fügen, und ... um was handelt sich's am Ende? Um zwei Worte. Kommt, es ist nicht der Herren wegen, welche die Verordnungen gemacht haben, thut mir den Gefallen; wir sind hier allein, unter vier Augen, machen wir die Sache ab; sagt mir euern Namen, und ... dann geht ruhig zu Bette.«

»Ah Schurke!« schrie Renzo, »Betrüger, du rückst mit deiner Niederträchtigkeit von Namen, Zunamen und Gewerbe noch einmal heraus!«

»Schweig still, Narr, und geh zu Bett«, sagte der Wirth.

Renzo aber fuhr noch heftiger fort: »Ich habe es wohl gewußt, du gehörst auch mit zu der Bande. Warte, warte, das sollst du büßen.« Darauf brüllte er zur Thür hinaus: »Freunde! der Wirth gehört ...«

»Ich habe es ja nur zum Spaße gesagt«, schrie dieser Renzo an und drängte ihn nach dem Bette hin; »verstehst du denn keinen Spaß, Freund?«

»Ah! nur zum Spaß; das hättest du gleich sagen sollen ... nur zum Spaß ...«; damit sank er aufs Bett.

»Auf; zieht Euch aus, geschwind«, sagte der Wirth und schickte sich an, ihm dabei Hülfe zu leisten, denn diese that hier[264] wirklich Noth. Als Renzo sich die Jacke ausgezogen hatte, nahm sie ihm der Wirth sogleich ab und fuhr mit den Händen in die Taschen, um zu sehen, ob sie auch nicht leer seien. Er fand Geld darin, und da er dachte, sein Gast habe wohl am nächsten Tage an ganz andere Dinge zu denken, als ihn zu bezahlen, und das Geld würde höchst wahrscheinlich in Hände fallen, aus denen ein Wirth nichts wieder heraus kriege, so wollte er wenigstens den Versuch machen, ob es ihm nicht glücke, das Geschäft gleich abzumachen.

»Ihr seid ein braver Junge, ein rechtschaffener Mensch«, sagte er, »ist es nicht so?«

»Braver Junge, rechtschaffener Mensch«, antwortete Renzo und machte sich dabei immer noch mit den Fingern an den Knöpfen seiner Hosen zu schaffen, die er noch nicht ausgezogen hatte.

»Gut, gut«, erwiederte der Wirth; »macht darum gleich heute noch eure kleine Zeche richtig, denn morgen muß ich, gewisser Geschäfte wegen, zeitig ausgehen ...«

»Das ist nicht mehr wie recht«, sagte Renzo, »ich bin ein Schlaukopf, aber dabei ehrlich ... Aber das Geld? Wir wollen sehen, wo das Geld ist.«

»Hier ist es«, sagte der Wirth, und indem er seine ganze Erfahrung, Schlauheit und Geduld aufbot, gelang es ihm endlich, die Zeche von Renzo bezahlt zu erhalten.

»Hilf mir noch ein Bischen, Wirth, daß ich mit dem Ausziehen fertig werde«, sagte Renzo; »ich fühle es jetzt selber, daß ich vor Müdigkeit kaum noch stehen kann.«

Der Wirth leistete ihm die gewünschte Hülfe, breitete auch noch die Decke über ihn aus, und als er ihm »gute Nacht« wünschte, schnarchte unser Renzo schon. Jedoch von jener eigenthümlichen Anziehungskraft getrieben, die uns zuweilen für einen Gegenstand des Aergers dieselbe Aufmerksamkeit, wie für einen Gegenstand der Liebe abnöthigt, und die vielleicht nichts Anderes ist, als das Verlangen, dasjenige, was unser Gemüth so stark bewegte, genauer kennen zu lernen, stand der Wirth noch einen Augenblick still, und betrachtete sich seinen Gast, der ihm so viel[265] zu schaffen gemacht hatte; er hielt ihm die Laterne vors Gesicht, legte die flache Hand über die Flamme, um den Lichtschein desto heller auf Renzo's Gesicht fallen zu lassen; es war ungefähr dieselbe Stellung, in welcher Psyche gemalt wird, wenn sie heimlich die Formen ihres unbekannten Gatten erspäht. – »Närrischer Esel!« sagte er halblaut zu dem armen Schläfer. »Du bist selbst in die Falle gegangen. Morgen wirst du mir wohl sagen können, wie es dir bekommen ist. Ihr Tölpel wollt in der Welt umherziehen und wißt nicht einmal, wo die Sonne aufgeht und bringt damit euch und eure Mitmenschen in allerlei Händel!« – So gesprochen oder gedacht, zog er die Laterne wieder zurück, verließ die Stube und verschloß von außen die Thür. Auf dem Absatz der Treppe rief er die Wirthin, gebot ihr, die Kinder einem Dienstmädchen zu übergeben, und in die Küche hinabzugehen, um statt seiner ein wachsames Auge auf Alles zu haben. »Ich muß ausgehen«, sagte er, »eines Gastes wegen, der mir da zu meinem Unglück wie der Teufel ins Haus gefallen ist«; darauf theilte er ihr in aller Kürze den ärgerlichen Vorfall mit. »Habe ein wachsames Auge auf Alles«, setzte er hinzu, »und sei vorsichtig und klug an diesem verwünschten Tage. Wir haben da unten einen Haufen Gesindel sitzen, das unter Trinken und Spielen allerlei Dinge über die Zunge bringt. Genug, wenn irgend ein verwegener Kerl ...«

»Ei, ich bin doch kein Kind, und sehe doch, was vorgeht. Bis jetzt, dächte ich, könnte man nicht sagen ...«

»Gut, gut; gieb auch Acht, daß sie bezahlen. Laß sie reden was sie wollen, über den Proviantverwalter, über den Statthalter, über Ferrer und die Decurionen, über Spanien und Frankreich und ähnliches dummes Zeug; thue, als ob du nichts davon verstehst; denn es kommt weder bei dem Widersprechen, noch bei dem Rechtgeben etwas Gutes heraus. Du weißt es ja selber, daß oft gerade diejenigen, die das große Wort führen ... genug, wenn du hörst, daß sie so gewisse Anschläge machen, so wendest du den Kopf weg und sagst: ich komme; als ob dich Einer von der andern Seite riefe. Ich werde suchen, so schnell als möglich wieder heim zu kommen.«[266]

Nach diesen Worten ging er mit ihr in die Küche hinunter, warf einen Blick rings umher, um zu sehen, ob Alles in der Ordnung wäre; dann nahm er von einem Pflock Hut und Mantel herunter, holte aus einer Ecke einen Knüttel, schärfte durch einen Blick seinem Weibe noch einmal die ihr gegebenen Verhaltungsregeln ein und machte sich auf den Weg. Doch schon während dieser Vorkehrungen hatte er den Faden seines Selbstgespräches, das er an Renzo's Bett begonnen, nicht fallen lassen; er nahm ihn jetzt, indem er so durch die Straßen wanderte, wieder auf.

– Was dieser Bursche aus dem Gebirge doch für ein Starrkopf ist! – So sehr Renzo auch bemüht war, seine Heimath zu verschweigen, so verrieth sich doch das Gebirgsland in seinen Worten, in der Aussprache, in seinem Aeußern und in den Geberden schon von selbst. – Durch meine Klugheit und Einsicht hatte ich diesen gefährlichen Tag überstanden und zu guter letzt mußt du mir noch über den Hals kommen und mir solch einen Strich durch die Rechnung machen. Fehlt's etwa in Mailand an Wirthshäusern, daß du gerade bei mir herein fallen mußtest? Wärest du noch wenigstens allein gekommen, so hätte ich für diesen Abend ein Auge zugedrückt und dir morgen früh die Wahrheit gesagt. Aber nein, in Gesellschaft kommt das Bürschchen an, und noch dazu in Gesellschaft eines Häscherhauptmanns! –

Bei jedem Schritt begegnete der Wirth einsamen Wanderern, oder einem Paar Menschen, die flüsternd vorüber gingen. Als er in seinem Selbstgespräch bei jenem Punkte war, sah er eine Patrolle Soldaten ankommen; er trat zur Seite, schielte nach ihnen hin, als sie vorbei marschirten und fuhr in seinem Selbstgespräche fort: – Das sind die Narrenzüchtiger. Und du Esel, du, weil du einen Haufen Leute gesehen hast, setzest du dir gleich in den Kopf, daß die Welt sich umkehren müsse. Und darum rennst du in dein Verderben und willst mich auch mit hinein reißen; das war dumm von dir. Ich that, was ich konnte, um dich zu retten, und du, Dummkopf, hättest mir zum Lohne dafür beinahe das ganze Wirthshaus in Aufruhr gebracht. Jetzt siehe zu, wie du dich aus der Klemme ziehst; ich werde mich schon herausziehen. Als ob ich nur aus Neugierde deinen Namen wissen[267] wollte! Was frage ich darnach, ob du Taddeo oder Bartolomeo heißt? Ich finde kein Vergnügen daran, die Feder in die Hand zu nehmen! Ihr Leutchen seid aber nicht allein auf der Welt, daß Alles nach eurem Sinne gemacht werden kann. Ich weiß ebenso gut wie ihr, daß wir Verordnungen haben, die nichts werth sind; diese große Neuigkeit braucht uns nicht erst Einer aus dem Gebirge zu hinterbringen! Aber du weißt nicht, du Esel, daß die Verordnungen gegen die Wirthe wohl etwas zu sagen haben. Und du denkst in der Welt das große Wort zu führen und weißt nicht einmal, daß Einer vor allen Dingen nicht öffentlich davon sprechen darf, wenn er die Welt verbessern will. Und weißt du wohl, du Schafskopf, wie es einem armen Gastwirthe ergehen würde, wenn er sich einfallen ließe, auch deiner Meinung zu sein und seine Gäste nicht nach ihrem Namen fragte? »Bei Strafe von dreihundert Scudi wird jedem Gastgeber, Schenkwirthe und Andern geboten, darauf zu achten.« Ja, dreihundert Scudi stehen darauf, die gut anzubringen sind: »zwei Dritttheile die königliche Kammer, und das Uebrige fällt dem Kläger oder dem Angeber zu.« Eine schöne Pille! »Und im Falle der Zahlungsunfähigkeit, fünf Jahre auf die Galeere, oder noch eine härtere Geld- oder Leibesstrafe, nach dem Dafürhalten Seiner Excellenz.« Aber ich danke schön, Excellenz. –

Bei diesen Worten betrat der Wirth die Schwelle des Justizpalastes.

Wie in allen Kanzleien herrschte auch hier eine große Geschäftigkeit; überall ertheilte man die zweckmäßigsten Befehle, um dem folgenden Tage zuvorzukommen, den Gemüthern, die zu neuem Aufruhr geneigt waren, den Vorwand und die Kühnheit zu nehmen, und die Gewalt in den Händen, welche sie auszuüben hatten, sicher zu stellen. Man verstärkte die Kriegsmannschaften beim Hause des Proviantverwalters; die Ausgänge zur Straße wurden durch Querbalken versperrt und durch Wagen verschanzt. Man befahl sämmtlichen Bäckern, ohne Unterlaß Brod zu backen; nach den benachbarten Ortschaften wurden Eilboten abgeschickt, mit dem Befehl, Getreide nach der Stadt zu schicken; für jeden Backofen wurden Edelleute angestellt, die sich in aller Frühe dahin[268] begeben sollten, um über die Austheilung des Gebäckes zu wachen und die Unruhigen durch ihr persönliches Ansehn oder durch gute Worte im Zaume zu halten. Um aber, so zu sagen, mit einem Schuß das Ziel zu treffen und durch einen kleinen Schrecken die Maßregeln noch wirksamer zu machen, sann man auf Mittel und Wege, irgend einen Unruhstifter beim Kragen zu nehmen; dies war vorzugsweise die Sache des Stadthauptmanns. Wie diesem mit seinen Wasserumschlägen auf der verwundeten Stelle des metaphysischen Tiefsinns zu Muthe war, wenn er an den Aufruhr und die Unruhstifter dachte, kann sich Jeder leicht vorstellen. Seine Spürhunde waren vom Anfang des Tumultes an auf den Beinen gewesen, und jener sogenannte Ambrogio Fusella war nach der Aussage des Wirthes ein verkappter Häscherhauptmann, der dazu ausgesandt, Diesen oder Jenen auf frischer That zu ertappen, damit man ihn hernach wieder erkennen, beim Fittig kriegen und festsetzen könnte. Nachdem er von Renzo's Predigt nur die ersten Paar Worte gehört, hatte er ihn sogleich aufgezeichnet; er schien ihm gerade ein Unruhstifter, wie er ihn brauchen konnte. Da er zugleich ein Ausländer war, so hatte er den Meisterstreich versucht, ihn gleich frisch weg nach dem Gefängniß, dem sichersten Wirthshause der Stadt, abzuführen; es schlug ihm aber dieser Plan fehl, wie wir gesehen haben. Er konnte jedoch die genaue Kenntniß seines Namens und Geburtsortes nebst hundert andern schönen Vermuthungen nach Hause bringen; und als darauf der Wirth ankam, um über Renzo seine Aussagen zu machen, wußten sie hier schon mehr als er. Er trat in das gewöhnliche Zimmer und berichtete, daß ein Fremder bei ihm eingekehrt sei, der durchaus nicht habe seinen Namen abgeben wollen.

»Ihr habt eure Schuldigkeit gethan, uns davon in Kenntniß zu setzen«, sagte ein Kriminalnotar, indem er die Feder niederlegte, »wir wußten es aber schon.«

– Hier steckt ein Geheimniß, dachte der Wirth, – hier gehen sie schlau zu Werke!

– »Und wir wissen auch schon den saubern Namen«, fuhr der Notar fort.[269]

– Teufel! dachte der Wirth, auch den Namen! Wie müssen sie das angestellt haben! –

»Ihr aber«, fing der Andere mit ernster Miene wieder an, »Ihr sagt nicht Alles rein heraus.«

»Was hätte ich noch mehr zu sagen?«

»Ei, wir wissen sehr gut, daß der Mensch eine Menge gestohlenes Brod bei sich hatte, das er bei der Plünderung in dem Aufruhr durch Spitzbüberei an sich gebracht.«

»Wenn Einer mit einem Brode in der Tasche kommt«, antwortete der Wirth, »was weiß ich, wo er's her gekriegt hat. Denn wenns auch auf Tod und Leben dabei ankäme, so kann ich doch nur sagen, daß ich nicht mehr als ein einziges Brod bei ihm gesehen habe.«

»Wenn Ihr Euch nur entschuldigen und vertheidigen könnt. Wenn man Euch reden hört, so sind's lauter rechtschaffene Leute. Wie könnt Ihr beweisen, daß er das Brod auf rechtliche Weise erworben hat?«

»Was habe ich dabei zu beweisen? ich mische mich darin nicht; ich handle hier nur als Wirth.«

»Ihr könnt aber doch nicht leugnen, daß dieser euer Kunde die Frechheit gehabt hat, beleidigende Reden gegen die Verordnungen auszustoßen und sich gegen das Wappen Seiner Excellenz frevelhaft zu benehmen.«

»Erlauben Sie mir, mein Herr, wie kann er denn mein Kunde sein, da ich ihn zum ersten Male sehe? Es ist der Teufel, mit Respekt zu sagen, der ihn mir ins Haus geschickt hat, und wenn mir der Fremde bekannt wäre, so begreifen Sie wohl, geehrter Herr, hätte ich nicht nöthig gehabt, ihn nach seinem Namen zu fragen.«

»In eurem Wirthshause jedoch, und in eurer Gegenwart sind höllische Dinge gesprochen, vermessene Reden geführt, aufrührerische Pläne gefaßt worden; man hat geschrien und getobt.«

»Wie wollen Sie, daß ich auf die albernen Reden hinhöre, die so viele Schreihälse alle auf ein Mal zum Vorschein bringen? Ich muß als ein armer Kerl auf meinen Vortheil bedacht sein, und dann wissen Sie, geehrter Herr, recht gut, daß der, welcher[270] das Maul auf dem rechten Fleck hat, gewöhnlich auch die Faust zu rühren weiß, zumal wenn so eine ganze Bande beisammen ist; und ...«

»Ja, ja«, rief der Notar, »laßt sie nur immer reden und machen; morgen, morgen sollt Ihr sehen, ob ihnen der Uebermuth ausgetrieben ist. Was meint Ihr?«

»Ich meine gar nichts.«

»Daß das Gesindel Herr über Mailand geworden ist?«

»Das fehlte noch!«

»Es wird sich finden, wird sich finden.«

»Ich verstehe schon. Der König wird immer der König bleiben; wer aber was eingebüßt hat, der wird's so leicht nicht wieder kriegen und so hat natürlich ein armer Familienvater keine Lust, noch mehr einzubüßen. Die Herren haben die Macht in Händen: die müssen sie ausüben.«

»Sind noch viele Leute jetzt bei Euch im Hause?«

»Eine ganze Menge.«

»Und euer Kunde«, fragte der Notar weiter, »fährt er noch immer fort zu lärmen, zu schreien, die Leute aufzuwiegeln und Empörung anzuzetteln?«

»Den Fremden meinen Sie? der ist schlafen gegangen.«

»Ihr habt also noch viel Volks im Hause ... Genug, gebt Acht, daß er Euch nicht entwischt.«

– Soll ich den Häscher spielen? – dachte der Wirth, indessen sagte er darauf weder Nein noch Ja.

»Ihr könnt jetzt nach Hause gehn«, fuhr der Notar fort, »und seid vernünftig.«

»Ich bin immer vernünftig gewesen. Sie können nicht sagen, lieber Herr, daß ich jemals der Gerechtigkeit zu schaffen gemacht habe.«

»Schon gut; bildet Euch nur nicht ein, daß die Gerechtigkeit ihre Macht eingebüßt habe.«

»Ich? um des Himmels willen! Ich denke nicht daran, mir Dergleichen einzubilden; ich habe genug mit meinem Geschäft zu thun.«[271]

»Das alte Lied!« rief der Notar, »wenn Ihr sonst nichts zu sagen habt ...«

»Was sollte ich sonst noch zu sagen haben? Was wahr ist, bleibt wahr.«

»Genug; für jetzt wollen wir es bei euren Aussagen bewenden lassen; für den Fall aber, daß die Sache zur Sprache kommt, werdet Ihr der Gerechtigkeit genauere Auskunft über die Dinge geben, die sie Euch fragen wird.«

»Ueber was könnte ich sonst noch Auskunft geben? ich weiß von nichts; ich muß meinen Kopf genug für meine eigenen Angelegenheiten zusammen nehmen.«

»Nehmt Euch nur in Acht, daß Ihr ihn nicht entwischen laßt.«

»Ich hoffe, daß der gnädige Herr Hauptmann davon Kenntniß hat, daß ich mich sogleich hierher verfügt habe, um meine Schuldigkeit zu thun. Ich empfehle mich Ihnen, sehr geehrter Herr.«

Als der Tag anbrach, schnarchte Renzo schon sieben Stunden lang und der Aermste lag noch im tiefsten Schlafe, als er sich an beiden Armen gepackt fühlte und eine Stimme an seinem Bette »Lorenzo Tramaglino!« rief. Er fuhr zusammen, bewegte die Arme, und rieb sich die Augen; als er sie mühsam öffnete, sah er einen schwarzgekleideten Mann vor sich stehen und an jeder Seite des Bettes einen Bewaffneten. Die Ueberraschung, die Schlaftrunkenheit und die Schwere des Kopfes, der ihm noch von dem Weine eingenommen war, ließen ihn einen Augenblick wie verzaubert daliegen; er meinte in einem bösen Traume befangen zu sein und bewegte sich hin und her, um sich völlig zu ermuntern.

»Hört Ihr uns endlich, Lorenzo Tramaglino?« fragte der Mann in dem schwarzen Mantel, derselbe Notar vom Abend vorher. »Geschwind; steht auf und kommt mit uns.«

»Lorenzo Tramaglino?« fragte Renzo. »Was soll das heißen? Wer hat Euch meinen Namen gesagt?«

»Unnützes Geschwätz, steht auf«, sagte einer der Häscher, die an seiner Seite standen, und faßte ihn von neuem beim Arm.[272]

»Oh, was ist das für ein Gewaltstreich?« schrie Renzo und zog den Arm zurück. »Wirth, Wirth!«

»Sollen wir ihn im Hemde wegschleppen?« fragte derselbe Häscher, sich zum Notar wendend. »Habt Ihr gehört?« sagte dieser zu Renzo, »sie führen es aus, wenn Ihr nicht schnell aufsteht, Euch anzieht und mit uns geht.«

»Und warum denn?« fragte Renzo.

»Warum? das wird Euch der Herr Hauptmann sagen.«

»Ich bin ein ehrlicher Mensch, ich habe nichts verbrochen und ich begreife nicht ...«

»Desto besser für Euch, desto besser für Euch, so kommt Ihr mit wenigen Worten davon und könnt eurer Wege gehen.«

»Lassen Sie mich doch jetzt meines Weges gehen«, sagte Renzo, »ich habe mit der Gerechtigkeit nichts zu schaffen.«

»Rasch, ein Ende gemacht«, sagte der eine Häscher.

»Sollen wir ihn wirklich fortschleppen?« sagte der Andere.

»Lorenzo Tramaglino!« rief der Notar.

»Wie wissen Sie meinen Namen, lieber Herr?«

»Thut eure Pflicht«, sagte der Notar zu den Häschern, die auch sofort Hand anlegten, um Renzo aus dem Bette zu ziehen.

»Weg da! bleibt einem rechtschaffenen Menschen vom Leibe, der ...! Ich kann mich allein anziehen.«

»So steht auf und zieht Euch schnell an«, sagte der Notar.

»Ich stehe auf«, antwortete Renzo und griff nach seinen Kleidern, die zerstreut auf dem Bette umherlagen, wie die Trümmer eines Schiffbruchs am Gestade. Während er sich ankleidete, redete er immer weiter: »ich will aber nicht zu dem Hauptmann gehen. Ich habe bei ihm nichts zu schaffen. Da mir aber ungerechter Weise dieser Schimpf angethan wird, so will ich zu Ferrer gebracht werden. Den kenne ich, ich weiß, daß er ein rechtlicher Mann ist; er ist mir Dank schuldig.«

»Ja, ja, mein Sohn, Ihr sollt zu Ferrer gebracht werden«, erwiederte der Notar. Unter andern Umständen würde er über eine solche Forderung herzlich gelacht haben; aber es war jetzt keine Zeit zum Lachen. Schon bei seiner Ankunft hatte er in den[273] Straßen eine gewisse Bewegung gesehen, bei der er nicht recht unterscheiden konnte, ob sie die Ueberbleibsel eines noch nicht völlig unterdrückten Aufruhrs, oder der Anfang eines neuen war; Leute strömten herbei, rotteten sich zusammen und blieben stehen. Auch jetzt, ohne sich's merken zu lassen, horchte er auf, und es däuchte ihm, daß das Gesumse zunähme. Er wünschte also die Sache schnell abgemacht zu haben, hätte aber Renzo gern auf friedlichem Wege und mit seiner Zustimmung fortgeführt; denn ließ er sich in Zank und Streit mit ihm ein, so konnte man nicht sicher sein, ob man auf der Straße nicht mit dreien statt mit einem zu thun haben würde. Darum warf er den Häschern einen Blick zu, der sie zur Geduld ermahnte; er selbst suchte den Jüngling mit guten Worten zu überreden und zu besänftigen. Renzo hingegen, der sich sehr gemächlich anzog, erinnerte sich der Vorfälle vom vorigen Tage und errieth so halb und halb, daß die Geschichte mit den Verordnungen, seinen Namen und Zunamen zu sagen, die Ursache dieser Unannehmlichkeit sein müßte. Aber wie, zum Teufel, wußte jener seinen Namen? Und was, zum Teufel, war in der Nacht vorgefallen, daß die Gerechtigkeit so zuversichtlich auftrat und sich einfallen ließ, so mit einem Mal einen braven Jungen zu packen, der Tags vorher zu denen gehört hatte, die ein so großes Wort im Volksrathe führten und die doch wohl nicht Alle, wie er, im tiefen Schlafe gelegen haben mußten, denn Renzo hörte gleichfalls das zunehmende Gesumse auf der Straße. Er sah dem Notar ins Gesicht und bemerkte seine Unschlüssigkeit, welche dieser sich vergebens bemühte zu verbergen. Um sich über seine Vermuthungen Licht zu verschaffen und um Zeit zu gewinnen, oder auch um noch einen Versuch zu wagen, sagte er: »Ich weiß recht gut, was an der ganzen Geschichte schuld ist: es geschieht nur des Namens und Zunamens wegen. Ich war gestern Abend ein wenig ausgelassen; die Wirthe haben mitunter schlechte Weine, und dann, wie ich sage, Jedermann weiß, wenn der Wein erst im Kopfe sitzt, so spricht er ein Wort mit. Aber wenn's weiter nichts ist, so bin ich bereit, Ihnen jede Auskunft zu geben, die Sie verlangen. Meinen Namen wissen Sie schon. Aber wer, zum Teufel, hat Ihnen diesen gesagt?«[274]

»Brav, mein Sohn, brav!« antwortete der Notar und nahm eine freundliche Miene an, »ich sehe, Ihr seid vernünftig; glaubt mir, ich weiß damit Bescheid, Ihr seid klüger als Andere. Auf diese Weise zieht Ihr Euch am schnellsten aus der Schlinge; mit zwei Worten ist die ganze Sache abgemacht und man läßt Euch wieder laufen. Aber ich, Ihr seht es, mein Sohn, mir sind die Hände gebunden, ich kann Euch nicht loslassen, wie ich möchte. Nun macht rasch und kommt getrost mit; wenn sie sehen, wer Ihr seid, dann ... dann werde ich schon reden ... Laßt mich nur machen ... Genug; eilt Euch, mein Sohn.«

»Ah! Sie können nicht ... ich verstehe«, sagte Renzo und fuhr fort sich anzukleiden, indem er die Häscher, die ihm dabei behülflich sein wollten, zur Seite schob. »Kommen wir über den Domplatz?« fragte er darauf den Notar.

»Wo Ihr wollt; der kürzeste Weg ist der beste, weil Ihr desto eher wieder in Freiheit seid«, sagte er und ärgerte sich, daß Renzo diese verfängliche Frage hatte fallen lassen, die Veranlassung zu hundert Untersuchungen geben konnte. – Wenn Einer Unglück haben soll! – dachte er. Da fällt mir nun Einer in die Hände, der singen würde, wie man's ihm vorpfiffe, und könnte man nur ein wenig zu Athem kommen, so würde man ihn, so extra formam, nach allen akademischen Regeln, unter freundschaftlichem Gespräch, ohne Strick, zum Geständniß bringen, wie es einer haben wollte; ein Mensch, der schon fix und fertig ist, um ins Gefängniß geführt zu werden, ohne daß er es merkte; und solch ein Mensch muß mir gerade in einem so angstvollen Augenblicke in die Hände fallen.

Renzo war auf den Beinen; die beiden Häscher standen ihm zur Seite. Der Notar gab ihnen durch einen Wink zu verstehen, sie möchten nicht zu hart mit ihm verfahren und sagte zu dem Jüngling: »Ihr seid ein braver Junge; folgt uns.«

Renzo stand in Gedanken. Er war völlig angekleidet, bis auf die Jacke, die er in der einen Hand hielt, während er mit der andern die Taschen durchsuchte. »Oho!« sagte er und sah den Notar mit einem sehr bedeutungsvollen Blick an: »hier steckte Geld drin und ein Brief, mein Herr.«[275]

»Es wird Euch Alles pünktlich wiedergegeben werden«, antwortete der Notar, »sobald die wenigen Förmlichkeiten abgemacht sind. Kommt, kommt!«

»Nein, nein, nein«, sagte Renzo, den Kopf schüttelnd; »so rasch geht's nicht; ich will erst mein Eigenthum zurück haben, Herr. Ich werde über meine Handlungen Rechenschaft ablegen; aber mein Eigenthum verlange ich zurück.«

»Ich will Euch zeigen, daß ich Euch vertraue: da nehmt und nun macht schnell.« Mit diesen Worten zog der Notar den Brief und das Geld aus dem Busen und stellte beides mit einem Seufzer unserm Renzo wieder zu. Dieser steckte Brief und Geld wieder an seinen Platz und murmelte zwischen den Zähnen: »Ihr geht so viel mit Spitzbuben um, daß Ihr das Handwerk auch ein wenig gelernt habt.«

Die Häscher vermochten kaum noch ihre Ungeduld zu unterdrücken; der Notar jedoch bändigte sie durch einen Blick und dachte: – hast du nur erst den Fuß über die Schwelle gesetzt, dann sollst du mirs büßen. –

Während Renzo die Jacke anzog und seinen Hut nahm, winkte der Notar einem der Häscher, zuerst die Treppe hinabzusteigen; hinter ihm her ließ er den Gefangenen gehen, dann folgte der andere Häscher und zuletzt er selbst. Als sie unten in der Küche waren, sagte Renzo: »Wo hat sich denn der verwünschte Wirth verkrochen?« Der Notar winkte den Häschern abermals; diese ergriffen darauf den Jüngling, jeder bei einer Hand, und legten ihm schnell gewisse Werkzeuge um die Hände, die eine heuchlerische Redekunst, des Wohlklanges wegen, Manschetten nannte.

Renzo wehrte sich und schrie: »Was ist das für eine Behandlung? geht man so mit einem ehrlichen Menschen um?«

Der Notar aber, der für jede schlechte That seine entschuldigenden Worte bei der Hand hatte, sagte: »Habt Geduld, sie thun ihre Pflicht. Was glaubt Ihr? es sind ja Alles nur Förmlichkeiten; wir können die Leute nicht so behandeln, wie wir möchten. Wenn wir nicht thäten, was man uns befiehlt, so würden wir schlimmer dran sein als Ihr. Habt Geduld.«[276]

Indem er so sprach, drehten die beiden Häscher die sogenannten Manschetten ein Mal herum. Renzo gab sich zufrieden, wie ein hitziges Pferd, das den Zügel fühlt, und schrie »Geduld!«

»Lieber Sohn!« sagte der Notar »das ist die rechte Art, um schnell davon zu kommen. Was wollt Ihr? es ist eine unangenehme Geschichte; das sehe ich auch ein; benehmt Ihr Euch aber gut dabei, so seid Ihr bald damit fertig. Und da ich sehe, daß Ihr Euch in Alles fügt, so bin ich auch geneigt, Euch beizustehen, und will Euch einen guten Rath zu eurem Besten geben. Glaubt mir, ich weiß mit diesen Dingen Bescheid; geht nur immer geraden Schrittes vorwärts, ohne Euch umzusehen, ohne Euch bemerkbar zu machen; so achtet Keiner auf Euch, Keiner merkt, was vorgeht, und eure Ehre leidet keinen Schaden. In einer Stunde seid Ihr wieder frei; sie haben so viel zu thun, daß ihnen selbst daran liegt, bald mit Euch fertig zu werden; und dann werde auch ich schon reden ... Ihr geht dann wieder euren Geschäften nach und Keiner weiß ein Wort davon, daß Ihr in den Händen der Gerechtigkeit gewesen seid. Und ihr«, fuhr er darauf zu den Häschern im strengen Tone fort, »hütet euch, schlecht mit ihm zu verfahren; er steht unter meinem Schutz. Euer Amt verlangt, daß ihr eure Schuldigkeit thut; vergeßt aber nicht, daß er ein rechtlicher Mensch ist, ein braver, junger Bursche, der bald wieder loskommen wird und dem an seiner Ehre gelegen ist. Geht so mit ihm, daß Keiner auf euch achtet; als ob ihr drei anständige, ganz harmlose Spaziergänger wäret.« Finster blickend, und in gebieterischem Tone sagte er dann: »Ihr habt mich verstanden!« und indem er plötzlich wieder eine freundliche Miene annahm, wandte er sich zu Renzo und flüsterte ihm noch einmal zu: »Seid vernünftig! befolgt meinen Rath, geht ruhigen Schrittes, ohne Euch umzusehen; verlaßt Euch auf mich, kommt.« So setzte sich der Zug in Bewegung.

Renzo glaubte indessen von all den schönen Worten nicht ein einziges; weder, daß der Notar es besser als die Häscher mit ihm meinte, noch daß er sich seinen Ruf so sehr zu Herzen nahm, noch daß er die Absicht hatte, ihm beizustehen. Er begriff sehr wohl, daß der gute Mann fürchtete, es könnte sich unterwegs irgend eine[277] gute Gelegenheit zum Entwischen finden, und daß er aus diesem Grunde die freundlichen Worte an ihn richtete; diese bewirkten darum auch nichts Anderes, als daß unser Renzo sich vornahm, das gerade Gegentheil von dem zu thun, was der Notar ihm gerathen hatte.

Sie waren kaum auf der Straße, so fing Renzo an, die Augen nach allen Seiten umher zu werfen, und sich so bemerklich als möglich zu machen. Es war je doch kein ungewöhnliches Ab- und Zulaufen; wenn sich auch hier und da auf dem Gesicht eines Vorübergehenden eine gewisse Lust zum Aufruhr lesen ließ, so ging doch Jeder ruhig seines Weges, und von einem wirklichen Aufruhr war nicht die Rede.

»Vernünftig, vernünftig!« murmelte der Notar hinter ihm, »denkt an eure Ehre, mein Sohn!« Als aber Renzo drei Leute mit glühendrothen Gesichtern daher kommen sah und mit gespitzten Ohren hörte, wie sie von Backofen, von verstecktem Mehle und von Gerechtigkeit sprachen, da fing er an, ihnen mit den Augen zuzublinken und auf eine Weise zu husten, die ganz etwas Anderes, als eine Erkältung bedeutete. Jene drei wurden aufmerksamer auf das Geleite und blieben stehen; zu ihnen gesellten sich noch Andere und blieben auch stehen; noch Andere, die schon vorüber gegangen, wandten sich nach dem Gezischel um, kehrten zurück, und schlossen sich dem Zuge an.

»Seht Euch vor; vernünftig, mein Sohn; nehmt Euch zusammen und verderbt eure Sache nicht selbst«, flüsterte der Notar; »Ihr seht, es wird immer schlimmer; eure Ehre, der gute Ruf!« Die Häscher beriethen sich mit den Augen und da sie dachten, die Sache recht gut zu machen (irren ist menschlich), so zogen sie die Manschetten noch enger zusammen.

»Au! au!« schrie der Gequälte. Auf das Geschrei liefen die Menschen von allen Seiten zusammen und das Geleit wurde aufgehalten.

»Er ist ein Taugenichts«, flüsterte der Notar den ihm zunächst Stehenden zu, »ein auf frischer That ertappter Dieb. Platz für die Gerechtigkeit!«[278]

Renzo aber erkannte den günstigen Moment, er sah die Häscher blaß werden, oder wenigstens erbleichen, und dachte – wenn ich mir jetzt nicht helfe, so ist's vorbei. – Und schnell fing er an zu schreien: »Kinder, sie schleppen mich ins Gefängniß, weil ich gestern Brod und Gerechtigkeit gerufen habe. Ich habe nichts verbrochen; ich bin ein ehrlicher Bursche; helft mir, verlaßt mich nicht, Kinder!«

Ein beifälliges Gemurmel und Stimmen der Theilnahme ließen sich rings umher hören. Die Häscher befehlen anfangs, dann bitten sie die zunächst Stehenden, Platz zu machen und sie durchzulassen; die Menge aber drängt immer heftiger auf sie ein. Die Häscher sehen die Gefahr vor Augen, lassen die Manschetten los und kümmern sich um weiter nichts mehr, als so schnell als möglich unbemerkt aus dem Gedränge zu entkommen. Auch der Notar wünschte nichts so sehr, als sich durchmachen zu können; aber das hatte wegen des schwarzen Mantels seine Noth. Der arme Mann, bleich und verzagt, duckte sich, so viel er konnte, kroch fast am Boden, um aus dem Gedränge zu entschlüpfen; doch er konnte die Augen nicht aufschlagen, ohne daß er zwanzig auf ihn ge richtete Blicke sah. Er gab sich alle nur erdenkliche Mühe, ein Fremder zu scheinen, der, zufällig dort vorübergehend, mit einem Male so fest in dem Gedränge eingepreßt sei, wie ein Strohhalm im Eise; und als er sich so einem Menschen gegenüber sah, der ihn mit einem fürchterlicheren Blicke anstarrte als die Andern, verzog er den Mund zu einem Lächeln und fragte ihn mit der dümmsten Miene: »Was ist denn da los?«

»Hu, der verwünschte Rabe!« antwortete dieser.

»Verwünschter Rabe! verwünschter Rabe!« erscholl es rings umher. Auf das Geschrei folgten derbe Stöße, so daß er theils mit Hülfe seiner eigenen Beine, theils mit Hülfe fremder Ellenbogen schnell aus dem Gedränge kam, woran ihm in diesem Augenblicke am meisten lag.[279]

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 1, S. 263-280.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten. Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert
Die Verlobten: Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert (insel taschenbuch)
Die Verlobten: Eine Mailändische Geschichte aus dem Siebzehnten Jahrhundert

Buchempfehlung

Aristoteles

Physik

Physik

Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«

158 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon