Neuntes Kapitel.

[160] Die Erschütterung, mit welcher die Barke gegen das Ufer stieß, weckte Lucia aus ihrem Traume; sie trocknete heimlich ihre Thränen und erhob sich. Renzo stieg zuerst aus und reichte Agnese die Hand, die, auch herausgestiegen, der Tochter behülflich war; dann dankten alle drei mit trauriger Miene dem Fährmann. »Schon gut; wir sind hier unten, um Einer dem Andern beizustehen«, erwiederte dieser und zog dabei die Hand fast wie von Schauder ergriffen zurück, als Renzo versuchte, ihm einige Münzen von dem wenigen Gelde aufzudringen, das er in der Absicht zu sich gesteckt hatte, Don Abbondio zu belohnen, wenn dieser sich ihm gefällig gezeigt hätte. Der Karren stand schon bereit; der Fuhrmann grüßte die drei Erwarteten, ließ sie einsteigen, rief seinem Thiere zu, gab ihm einen Peitschenhieb, und fort ging es.

Unsere Reisenden langten kurz nach Sonnenaufgang in Monza an; der Fuhrmann kehrte in einem Wirthshause ein, wo er bekannt war und ließ ihnen daselbst eine Stube anweisen.[160] Während man ihm dankte, versuchte Renzo auch ihm einen Lohn aufzudringen; aber auch er, wie der Fuhrmann, hatte einen reicheren Lohn in Aussicht; er zog schnell die Hand zurück und lief hinaus, um nach seinem Thiere zu sehen.

Nach einem Abend, wie wir ihn beschrieben haben, und einer Nacht, die, wie jeder sich vorstellen kann, unter so traurigen Gedanken und unter unaufhörlicher Angst vor einem neuen widrigen Ereigniß durchwacht war, und bei der schon schneidenden Herbstluft und dem erbärmlichen Fuhrwerk, das, so oft Einer versuchte die Augen zu schließen, ihn sogleich durch heftige Stöße wieder wach rüttelte, dünkte es unsern Reisenden gar nicht so übel, sich in einer Stube, wie diese auch sei, auf eine kleine feststehende Bank niederlassen zu können.

Hier nahmen sie mit wenig Appetit ein kärgliches Frühstück ein, wie es ihnen die zugemessene Zeit und die spärlichen Mittel erlaubten. Alle drei gedachten des Schmauses, den sie zwei Tage vorher noch einzunehmen gehofft hatten, und jeder stieß einen schweren Seufzer aus. Renzo würde gern den ganzen Tag hier zugebracht haben, um die Frauen wenigstens untergebracht zu sehen; Pater Cristoforo aber hatte ihnen befohlen, ihn bald seines Weges wandern zu lassen. Sie führten ihm also diesen Befehl und hundert andere Gründe an; daß die Leute darüber reden würden, daß die Trennung nur um so schmerzlicher wäre, je länger man sie hinausschiebe, und daß er ja bald wiederkehren könnte, um ihnen Nachricht zu geben, bis der Jüngling sich endlich zum Aufbruch entschloß. Man verabredete nun genauer, auf welche Weise man sich so schnell als möglich wiedersehen könnte. Lucia verbarg ihre Thränen nicht; Renzo hielt die seinen nur mühsam zurück, drückte Agnese bewegt die Hand, sagte mit erstickter Stimme: »Auf Wiedersehen!« und ging.

Die Frauen würden bald in Verlegenheit gekommen sein, wenn sich der gute Fuhrmann nicht zu ihnen gesellt hätte, der den Auftrag hatte, sie nach dem Kloster zu führen und ihnen mit seiner Hülfe beizustehen. Mit ihm machten sie sich also auf den Weg nach dem Kloster, das, wie Jeder weiß, nur eine kurze Strecke von Monza entfernt war. Als sie an der Pforte angelangt waren,[161] zog der Fuhrmann die Glocke und ließ den Pater Guardian herausrufen; dieser erschien auch sogleich und erhielt den Brief.

»O Bruder Cristoforo!« rief er aus, als er die Handschrift erkannte. Der Ton der Stimme, wie der Ausdruck seines Gesichtes ließen deutlich erkennen, daß er den Namen eines sehr guten Freundes aussprach. Wir dürfen aber auch nicht verschweigen, daß unser guter Cristoforo in dem Briefe die beiden Frauen mit großer Wärme empfahl und ihre Lage so eindringlich und mit solcher Theilnahme schilderte, daß der Guardian sein Erstaunen und seine Entrüstung nicht unterdrücken konnte, und indem er die Augen vom Blatte erhob, heftete er sie mit einem gewissen Ausdruck von Mitleid auf die Frauen. Nachdem er zu Ende gelesen, überlegte er einen Augenblick und sagte dann: »Wir haben hier Niemand als die Signora ... wenn diese die Verpflichtung auf sich nehmen will ....« Hierauf nahm er Agnese bei Seite und that verschiedene Fragen an sie, die sie genügend beantwortete; dann wandte er sich auch zu Lucia und sagte zu Beiden: »Ich will einen Versuch machen, gute Frauen; ich hoffe einen ganz sichern, anständigen Zufluchtsort für euch zu finden, bis Gott auf eine bessere Weise für euch gesorgt hat. Wollt ihr mir folgen?«

Die Frauen bejahten diese Frage durch eine ehrfurchtsvolle Verbeugung und der Mönch fuhr fort: »Gut; ich will euch sogleich nach dem Kloster der Signora führen. Haltet euch aber einige Schritte von mir entfernt, denn die Leute verleumden gern, und Gott weiß, wie viel schöne Geschichtchen sie erfinden würden, wenn sie den Pater Guardian mit einem hübschen Mädchen .... mit Frauen wollte ich sagen, auf der Straße begegnen.«

So sprechend ging er voran. Lucia erröthete. Der Fuhrmann blickte Agnese lächelnd an, die sich auch eines Schmunzelns nicht erwehren konnte. Als der Mönch einen kleinen Vorsprung gewonnen hatte, setzten sich alle drei in Bewegung und hielten sich ungefähr zehn Schritte hinter ihm. Die Frauen fragten nun den Fuhrmann, wer denn die Signora wäre?

»Sie ist eine Nonne«, antwortete dieser, »aber keine Nonne wie die andern. Ebenso wenig ist sie Aebtissin oder Priorin; sie[162] ist sogar, wie man sagt, eine von den Jüngsten und stammt aus einem uralten Geschlechte ab, aus Spanien, wo die mächtigen Leute alle her sind, die jetzt hier befehlen. Darum wird sie die Signora genannt; das heißt, daß sie eine sehr vornehme geistliche Dame ist. Alles Volk nennt sie bei diesem Namen, denn sie sagen, sie hätten in dem Kloster hier niemals eine ähnliche Person gehabt. Die Ihrigen gelten sehr viel unten in Mailand; aber noch mehr in Monza, denn ihr Vater, wenn er auch nicht hier wohnt, ist doch der Erste im Orte, weshalb sie auch im Kloster nach Gefallen schalten und walten kann. Wenn sie sich also eurer annimmt, so kann ich euch sagen, daß ihr so sicher wie auf dem Altare seid.«

An dem Thore des Fleckens angelangt, dem zur Seite damals ein alter Thurm und daneben eine halb verfallene Burg standen, wie sich vielleicht zehn meiner Leser noch erinnern können, blieb der Guardian stehen und wandte sich um. Als er sah, daß die Andern ihm nachkamen, trat er hinein und nahm seinen Weg nach dem Kloster. Dort angelangt, blieb er am Eingang desselben wieder stehen und erwartete sein kleines Gefolge. Dann bat er den Fuhrmann, später nach dem Kloster zurück zu kommen und die Antwort abzuholen; dieser versprach es und verabschiedete sich von den Frauen, die ihn noch mit vielen Danksagungen und Aufträgen an den Pater Cristoforo überhäuften. Der Guardian ließ Mutter und Tochter in den Vorhof des Klosters treten und führte sie in die Stube der Schaffnerin; dann machte er sich allein auf, um sein Gesuch anzubringen. Nach einigen Augenblicken kehrte er fröhlich zurück und sagte ihnen, sie möchten nur mit ihm kommen. Er kam gerade noch zu rechter Zeit, denn Mutter und Tochter wußten nicht mehr, wie sie sich vor den zudringlichen Fragen der Schaffnerin retten sollten. Während sie über den zweiten Hof schritten, gab der Guardian den Frauen noch einige gute Lehren, wie sie sich gegen die Signora zu benehmen hätten. »Sie ist sehr gut für euch gestimmt«, sagte er, »und kann euch Gutes genug erweisen. Seid bescheiden und unterwürfig, antwortet mit Aufrichtigkeit auf alle Fragen, die sie an euch richten wird, und wenn ihr nicht gefragt werdet, so überlaßt die Sache nur[163] mir.« Sie traten in ein unteres Zimmer, welches in das Sprechzimmer führte; ehe sie aber den Fuß hineinsetzten, deutete der Guardian auf die Thür und sagte leise zu den Frauen: »Da ist sie drin«, als wollte er sie noch einmal an alle die guten Lehren erinnern, die er ihnen gegeben hatte. Lucia, die noch niemals ein Kloster gesehen, blickte sich nach dem Eintritt ins Sprechzimmer überall nach der Signora um, der sie ihren Knix machen wollte, und da sie Niemand bemerkte, blieb sie verlegen stehen; als sie aber den Pater und Agnese nach einem Winkel zu gehen sah, schaute sie hin und gewahrte eine viereckige Oeffnung, einem Fenster ähnlich, mit zwei starken festen Eisengittern, die eine Hand breit auseinander waren; dahinter stand eine Nonne. Sie schien ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und machte auf den ersten Blick den Eindruck einer Schönheit, aber einer gebrochenen, verblühten, ich möchte fast sagen zerstörten Schönheit. Auf dem Kopfe war ein schwarzer Schleier befestigt, der zu beiden Seiten herabfiel; unter dem Schleier umgab eine blendend weiße Linnenbinde bis zur Hälfte die Stirn, die von einer andern, aber nicht geringeren Weiße war; eine andere faltige Binde schloß das Gesicht ein und endigte unter dem Kinn in ein Halstuch, das sich ein wenig über die Brust hinzog, um den Ausschnitt eines schwarzen Gewandes zu bedecken. Die Stirn zog sich öfters, wie durch eine schmerzliche Empfindung zusammen, und die schwarzen Augenbrauen näherten sich dann in schneller Bewegung. Zwei ebenso schwarze Augen hafteten zuweilen durchdringend und forschend am Gesichte eines Andern und senkten sich dann schnell wieder, als suchten sie ihre Absicht zu verbergen; ein aufmerksamer Beobachter würde aber daraus geschlossen haben, daß sie nach Zuneigung, Theilnahme und Liebe suchten. Dann würde er wieder einen alten, lang genährten, unterdrückten Haß, eine gewisse wilde Sinnesart darin zu erkennen geglaubt haben; und wenn sie ruhig und theilnahmlos vor sich hinstarrten, so hätte Einer vielleicht Ueberdruß und Ekel darin gelesen; ein Anderer hätte das Wühlen eines quälenden Gedankens, die Unterdrückung einer Sorge gemuthmaßt, die das Gemüth mehr beherrschte, als die äußeren Dinge. Ihre bleichen, unnatürlich[164] gerötheten Wangen schienen durch ein schleichendes Fieber eingefallen und hinzusiechen. Nur die sehr ausdrucksvollen Lippen waren von einem frischen Rothe angehaucht und stachen auffallend von der Blässe des Gesichtes ab. Ihre schöne hohe Gestalt wurde durch die angenommene gebeugte Haltung fast unscheinbar, oder schien durch gewisse heftige, unweibliche Bewegungen entstellt. Selbst in ihrem Anzuge lag hier und da etwas Gesuchtes, eine gewisse Nachlässigkeit, welche eine sehr eigenthümliche Nonne verrieth; sie war mit einer Art weltlicher Sorgfalt gekleidet und aus der Binde kam an der einen Schläfe eine schwarze Locke hervor, als vergäße oder verachtete sie die Regel, welche vorschrieb, das bei der Feierlichkeit des Gelübdes abgeschnittene Haar ganz kurz zu tragen.

Diese Dinge befremdeten die beiden Frauen nicht, die nicht geübt waren, eine Nonne von der andern zu unterscheiden; und der Pater Guardian, der die Signora nicht zum ersten Male sah, war schon wie alle Andern an die seltsame Art ihres Wesens und ihrer Kleidung gewöhnt.

Sie stand in diesem Augenblicke, wie wir schon gesagt haben, aufrecht hinter dem Gitter, indem sie die zarten, weißen Finger an die Eisenstäbe legte und matt den Kopf auf die Hand stützte. In dieser Stellung beobachtete sie die Eintretenden, die sich schüchtern näherten. »Verehrte Mutter und erlauchte Signora«, sagte der Guardian und verneigte sich sehr ehrfurchtsvoll, »dies ist das arme junge Mädchen, für welches Sie mich auf Ihren mächtigen Schutz hoffen ließen, und dies ist die Mutter.«

Die beiden Vorgestellten verneigten sich, so tief sie nur konnten; die Nonne bedeutete ihnen mit der Hand, daß es genug sei, und sagte dann, zu dem Pater gewendet: »ich preise mich glücklich, daß ich unsern guten Freunden, den Kapuzinermönchen, eine Gefälligkeit erweisen kann. Aber«, fuhr sie fort, »machen Sie mich doch mit der Lage des jungen Mädchens etwas vertrauter, damit ich um so besser für sie handeln kann.« Lucia erröthete und schlug die Augen nieder.

»Sie müssen wissen, verehrte Mutter ....« fing Agnese an, aber der Guardian ließ sie nicht ausreden. »Dieses junge Mädchen, erlauchte Signora«, erwiederte er, »ist mir so eben,[165] wie ich Ihnen schon gesagt, von einem meiner Mitbrüder empfohlen worden. Um sich einer ernsten Gefahr zu entziehen, mußte sie heimlich ihr Dorf verlassen; sie bedarf jetzt auf einige Zeit einer Zufluchtsstätte, wo sie, ohne gekannt zu sein, leben kann und wo Keiner es wagen darf, sie zu beunruhigen, selbst wenn ...«

»Was für Gefahren?« unterbrach ihn die Nonne. »Ich bitte Sie, Pater Guardian, tragen Sie mir die Sache nicht so in Räthseln vor. Sie wissen, daß wir Nonnen uns jede Geschichte gern recht ausführlich erzählen lassen.«

»Es sind Gefahren«, antwortete der Guardian, »die den keuschen Ohren der verehrten Mutter auch nicht einmal von ferne angedeutet werden können ...«

»O gewiß«, sagte die Nonne schnell, ein wenig erröthend. War es Scham? Wer den plötzlichen Ausdruck der Verachtung beobachtet hätte, der dieses Erröthen begleitete, der hätte daran zweifeln können, und um so mehr, wenn er es mit dem Purpur verglichen, der sich von Zeit zu Zeit über Lucia's Wangen ergoß.

»Es genügt zu wissen«, nahm der Guardian wieder das Wort, »daß ein mächtiger Edelmann .... nicht alle Menschen bedienen sich der Gaben Gottes zu seiner Ehre und zum Wohle des Nächsten wie Euer Gnaden .... dieser Edelmann verfolgte das arme Mädchen lange Zeit hindurch mit unwürdigen Schmeicheleien und als er endlich einsah, daß alle seine Nachstellungen vergeblich waren, da hatte er das Herz, sie vor aller Welt mit Gewalt zu verfolgen; er ging so weit, daß die Aermste aus ihrem eigenen Hause entfliehen mußte.«

»Tritt näher, Mädchen«, sagte die Nonne zu Lucia und winkte ihr mit dem Finger. »Ich weiß, daß der Mund des Pater Guardian eine Quelle der Wahrheit ist; aber Ihr selbst könnt uns am besten über diese Sache berichten. Ihr allein könnt uns sagen, ob dieser Edelmann Euch ein verhaßter Verfolger war.«

Was das Nähertreten betraf, so gehorchte Lucia auf der Stelle; mit dem Antworten aber war es ein anderes Ding. Ueber eine so verfängliche Frage, wenn diese selbst von Jemand ihres Gleichen gethan wäre, würde sie nicht wenig in Verlegenheit gekommen sein; um so mehr verlor sie jetzt alle Fassung, da sie von[166] einer so hohen Dame und mit einem gewissen zweifelhaften Spotte an sie gerichtet wurde. »Signora .... verehrte Mutter ....« stammelte sie endlich und suchte verlegen nach Worten. Da glaubte sich Agnese, die nächst ihr am besten von allem unterrichtet war, berechtigt, ihr zu Hülfe zu kommen. »Erlauchte Signora«, sagte sie, »ich kann bezeugen, daß meine Tochter den Edelmann haßt und fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, denn er ist der Teufel; aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich nicht zu sprechen verstehe, denn wir sind nur schlichte Leute. Das arme Mädchen war fest mit einem jungen Burschen unseres Standes verlobt, der gottesfürchtig war und sein Auskommen hatte, und wenn der Herr Pfarrer ein wenig menschlicher gewesen wäre ... was wollte ich doch sagen? ich weiß wohl, daß ich von einem Geistlichen rede, aber Pater Cristoforo, ein Freund von dem Pater Guardian hier, ist auch ein Geistlicher, aber ein Mann voller Menschenliebe, und wenn er hier wäre, könnte er bezeugen ....«

»Ihr seid sehr rasch mit eurer Zunge, Frau, ohne gefragt worden zu sein«, unterbrach sie die Nonne mit einer stolzen zürnenden Miene, die sie fast häßlich erscheinen ließ. »Verhaltet Euch also ruhig; ich weiß recht gut, daß die Eltern immer mit einer guten Antwort bei der Hand sind, wenn es gilt ihre Kinder zu vertheidigen!«

Die gekränkte Agnese warf Lucien einen Blick zu, der zu sagen schien: du siehst, wie man mit mir umgeht, weil du nicht selbst für dich sprechen kannst. Auch der Guardian gab dem jungen Mädchen durch Zeichen zu verstehen, daß dies der Augenblick sei, sich zusammen zu nehmen und die arme Mutter nicht im Stiche zu lassen.

»Verehrte Signora«, sagte Lucia, »was meine Mutter Ihnen gesagt hat, ist die reine Wahrheit. Der Jüngling, der um mich warb«, und hier wurde sie über und über roth, »den wollte ich heiraten, weil ich ihn liebe. Sie verzeihen, daß ich so gerade herausspreche; ich möchte aber von meiner Mutter nicht gern Uebles denken lassen. Und was den gnädigen Herrn betrifft, Gott vergebe ihm! so wollte ich lieber sterben, als in seine Hände fallen. Und wenn Sie uns die Gnade erweisen wollen, uns unter Ihren[167] Schutz zu nehmen, da es nun doch einmal so weit mit uns gekommen ist, um eine Zufluchtsstätte zu bitten und edlen Menschen zur Last fallen zu müssen, so seien Sie versichert, Signora, daß Niemand inbrünstiger für Sie zu Gott beten wird, als wir arme Frauen.«

»Euch glaube ich«, sagte die Signora in milderem Tone, »aber es würde mir lieb sein, mit Euch unter vier Augen zu reden. Es bedarf weiter keiner Erklärungen und Aufschlüsse, um den dringenden Bitten des Pater Guardian entgegen zu kommen«, fügte sie schnell hinzu, indem sie sich mit gezwungener Höflichkeit zu ihm hinwandte. »Ich habe schon überlegt«, fuhr sie fort, »und mir ist schon das Beste, was sich für jetzt thun läßt, eingefallen. Die jüngste Tochter der Schaffnerin des Klosters hat vor einigen Tagen geheiratet. Die beiden Frauen können das Zimmer beziehen, das jene bewohnt hat, und die kleinen Hausarbeiten dafür übernehmen, die das Mädchen bisher verrichtete. Wahrhaftig ....« und hier winkte sie dem Guardian, näher an das Gitter heran zu treten, und flüsterte ihm zu: »wahrhaftig, bei der theuren Zeit hatte man gar nicht daran gedacht, die Stelle des Mädchens wieder zu besetzen; ich werde mit der Mutter Aebtissin sprechen, und ein Wort von mir .... und die Fürbitte des Pater Guardian .... genug, sehen Sie die Sache als abgemacht an.«

Der Guardian wollte seinen Dank aussprechen, aber die Nonne unterbrach ihn: »Keine Umstände; auch ich würde im Nothfalle Hülfe bei den Kapuzinern suchen. Und am Ende«, fuhr sie mit einem ironischen Lächeln fort, »sind wir nicht am Ende Brüder und Schwestern?«

Nach diesen Worten rief sie eine Laienschwester (zwei von ihnen hatten den Vorzug, sie persönlich bedienen zu dürfen) und trug ihr auf, die Aebtissin davon zu benachrichtigen und dann die nöthigen Vorkehrungen mit der Schaffnerin und Agnese zu treffen. Damit entließ sie die Laienschwester, nahm Abschied vom Pater Guardian und behielt Lucia zurück. Der Guardian begleitete Agnese bis an die Thür, gab ihr noch viele gute Lehren und entfernte sich dann, um seinem Freund Cristoforo durch einen Brief Nachricht über alles zu geben. – Diese Signora ist doch eine sehr wunderliche[168] Person, dachte er unterwegs bei sich; aber wer sie nur recht zu nehmen versteht, der kann alles von ihr erlangen. Der gute Cristoforo kann sehr zufrieden sein, daß ich die Sache so schnell zu Stande gebracht habe, und er wird merken, daß wir hier auch noch zu etwas taugen.

Die Signora, die in Gegenwart eines bejahrten Kapuziners ihre Bewegungen und Worte sehr wohl berechnet hatte, sah sich nun einem jungen, unerfahrenen Landmädchen gegenüber und dachte nicht mehr daran, sich noch länger zu beherrschen; ihre Reden wurden nach und nach so seltsamer Art, daß wir, anstatt sie mitzutheilen, es für passender erachten, in aller Kürze die frühere Lebensgeschichte dieser Unglücklichen zu erzählen, um das Ungewöhnliche und Geheimnißvolle, welches wir an ihr bemerkt haben, zu erklären, und um die Beweggründe ihres Benehmens in den Begebenheiten, die wir noch mittheilen wollen, begreiflich zu machen.

Sie war die jüngste Tochter des Fürsten von ***, eines sehr bedeutenden mailändischen Edelmannes, der sich zu den reichsten der Stadt zählen konnte. Aber nach der hohen Meinung, die er von seiner Würde und seinem fürstlichen Namen hatte, schien ihm sein Vermögen viel zu gering und nicht ausreichend, um sein Ansehen mit Ehren zu behaupten.

Unsere Unglückliche hatte das Licht der Welt noch nicht erblickt, als ihr Geschick schon unwiderruflich bestimmt war. Es hatte sich nur noch zu entscheiden, ob es ein Mönch oder eine Nonne sein würde, und zu dieser Entscheidung bedurfte es nicht der Einwilligung des Kindes, sondern nur seiner Gegenwart. Als sie geboren wurde, nannte der Fürst, ihr Vater, sie Gertrud, weil eine hochgeborne Heilige diesen Namen führte und weil er zugleich den Gedanken an das Kloster damit wecken wollte. Als Nonnen angezogene Puppen waren das erste Spielzeug, das man ihr in die Hände gab; dann erhielt sie Nonnenbildchen, und diese Geschenke begleitete man stets mit vielen Ermahnungen, sie als kostbare Dinge wohl in Acht zu nehmen. Wenn die kleine Gertrud zuweilen irgend eine trotzige oder übermüthige Laune aufsetzte, zu der ihre Natur sie sehr leicht hinriß, so hieß es gleich: »Du bist noch ein Kind, so etwas schickt sich nicht für dich; wenn du erst[169] Mutter Aebtissin sein wirst, dann kannst du befehlen und allen mit der Ruthe drohen und kannst thun, was du willst.« Und ein andermal, als der Fürst sie wegen eines allzu freien, vertraulichen Betragens schalt, sagte er zu ihr: »Ei, ei! so darf sich deines Gleichen nicht aufführen, wenn du willst, daß man dir einst die gebührende Achtung bezeigen soll; lerne schon jetzt dich beherrschen; erinnere dich immer, daß du die Erste im Kloster sein mußt, denn das Blut nimmt man überall mit, wohin man geht.«

Dergleichen Reden setzten in dem Kopfe des jungen Mädchens endlich die Idee fest, daß sie eine Nonne werden müsse; und die Worte, die aus dem Munde des Vaters kamen, wirkten mehr als als alle übrigen.

Sechs Jahre alt wurde Gertrud zur Erziehung, oder eigentlich um für ihre wichtige Bestimmung vorbereitet zu werden, in das Kloster gebracht, in welchem wir sie gesehen haben, und gerade auf dieses war die Wahl nicht ohne Absicht gefallen. Der gute Führer der beiden Frauen hatte den Vater der Nonne den Ersten in Monza genannt, und wenn wir diese Aussage, wer sie auch gethan hat, mit einigen andern Andeutungen zusammenstellen, die der Anonymus sich hier und da hat entschlüpfen lassen, so können wir wohl mit Sicherheit annehmen, daß er der Lehnsherr von diesem Lande gewesen ist. Wie dem auch sei, er genoß dort des höchsten Ansehens und meinte, daß seine Tochter hier mit größerer Auszeichnung und Höflichkeit behandelt werde als irgend wo anders, und daß dadurch ihre Lust um so mehr angeregt würde, das Kloster zu ihrem beständigen Aufenthalt zu erwählen. Er irrte sich nicht. Die damalige Aebtissin und einige andere unruhige Nonnen, die, wie man zu sagen pflegt, vielerlei eingerührt hatten und darum in Streitigkeit mit andern Klöstern und umherwohnenden Familien verwickelt waren, freuten sich sehr, eine solche Stütze zu erwerben; sie nahmen das Anerbieten mit lebhafter Dankbarkeit an und entsprachen voll kommen allen Absichten, die der Fürst hatte durchblicken lassen, als er ihnen seine Tochter übergab; denn diese Absichten gingen mit seinem Vortheile Hand in Hand. Kaum ins Kloster getreten, wurde Gertrud die kleine Signora genannt; bei Tische und im Schlafzimmer erhielt sie einen besonderen Platz;[170] ihr Betragen wurde den andern Mädchen als Muster vorgehalten; dazu kamen tagtäglich süße Worte und Liebkosungen, mit jener ehrfurchtsvollen Vertraulichkeit gewürzt, wodurch Kinder so schnell eingenommen werden, wenn sie diese bei Personen antreffen, welche die übrigen Kinder mit Ernst und Strenge behandeln. So ging alles nach Wunsch und würde vielleicht bis ans Ende so gegangen sein, wenn Gertrud das einzige Mädchen im Kloster gewesen wäre. Aber unter ihren Gefährtinnen waren einige, die wohl wußten, daß ihre eigentliche Bestimmung die Ehe sei. Die kleine Gertrud, von den Vorstellungen ihres hohen Standes erfüllt, rühmte sich mit hochtrabenden Worten ihrer zukünftigen Bestimmung als Aebtissin, als Klosterfürstin; sie wollte durchaus ein Gegenstand des Neides für die Andern sein und sah mit Verwunderung und Aerger, daß einige von ihnen davon gar nichts wissen wollten. Den erhabenen, aber beschränkten und kalten Bildern, die sich die Phantasie von der Oberherrschaft in einem Kloster bilden konnten, hielten diese Mädchen die mannigfaltigen und glänzenden Vorstellungen von Hochzeiten, Gastmählern, Abendgesellschaften und Landhäusern entgegen; sie sprachen von ritterlichen Spielen, von ihren Anbetern und sahen sich bereits schön geputzt in prächtigen Kutschen fahren. Solche Gespräche brachten nun in Gertruds Seele eine Bewegung, einen Aufruhr hervor, wie ein Korb voll frisch gepflückter Blumen, den man vor einen Bienenstock stellt. Eltern und Erzieherinnen hatten die natürliche Eitelkeit in ihr erzeugt und genährt, damit sie am Klosterleben Gefallen fände; als aber diese Leidenschaft durch andere Vorstellungen, die ihr verwandter waren, aufgeregt wurde, überließ sie sich ihnen mit voller Gluth. Um nun hinter ihren Gefährtinnen nicht zurück zu bleiben und zugleich ihren neuen Neigungen zu willfahren, erklärte sie, daß sie am Ende doch Keiner zwingen könnte, den Schleier zu nehmen; daß sie sich ebenfalls verheiraten dürfte und das Leben mehr als sie alle genießen könnte; sie könnte es, sobald sie nur wollte; und sie wollte es wirklich. Der Gedanke, daß ihre Einwilligung zur Einkleidung nothwendig sei, hatte bis jetzt unbeachtet und gleichsam ihr selbst noch verborgen in ihrer Seele geschlummert; jetzt erwachte er plötzlich in seiner ganzen[171] Größe und Bedeutung. Um ungestört und unbekümmert in den Bildern einer frohen Zukunft schwelgen zu können, mußte sie diesen Gedanken jeden Augenblick wach rufen, denn es knüpfte sich an ihn sogleich immer noch ein anderer. Es handelte sich nämlich darum, jene Einwilligung dem fürstlichen Vater zu verweigern, der sie bereits hatte, oder als gegeben betrachtete, und bei diesem Gedanken war die Tochter nicht so muthig und beherzt, wie man es nach ihren prahlerischen Worten hätte vermuthen sollen. Sie verglich sich dann mit ihren Gefährtinnen, die viel glücklicher und ruhiger lebten als sie, und schmerzlich empfand sie den Neid gegen diese, den sie anfangs ihnen hatte einflößen wollen.

Unter so beklagenswerthen Kämpfen mit sich und Andern hatte sie die Kindheit überschritten und trat nun in die so gefährlichen Jahre, in denen die Seele wie von einer geheimnißvollen Macht regiert zu werden scheint, die alle Neigungen und Gedanken ins Leben ruft, sie schmückt und stärkt, sie umwandelt und ihnen oftmals eine ganz andere Richtung giebt. Was Gertrud bisher in ihren Träumen von der Zukunft am heißesten ersehnt hatte, waren äußerer Glanz und Pracht. Eine gewisse Weichheit und Empfindsamkeit, die anfangs nur flüchtig ihr Gemüth beherrschte und die deutlicheren Gestalten noch wie in einen Nebel gehüllt erscheinen ließ, gewann nun die Oberhand.

Es war gesetzlich, daß ein junges Mädchen nicht als Nonne aufgenommen werden konnte, wenn sie nicht von einem Geistlichen, welcher der Vicar der Nonnen genannt wurde, oder von irgend einem andern Stellvertreter vorher geprüft worden war, um sich zu versichern, daß sie aus freier Wahl den Schleier nahm. Erst ein Jahr darauf, nachdem sie ihren Wunsch dem Vicar in einer Bittschrift vorgetragen hatte, durfte die Prüfung stattfinden. Die Nonnen, die das traurige Amt übernommen hatten, Gertrud für immer an das Kloster zu binden, wählten einen jener trüben Augenblicke, von denen wir gesprochen haben, und ließen sie, völlig in Unkenntniß über das, was sie that, eine solche Bittschrift abschreiben und mit ihrem Namen unterzeichnen. Und um sie desto leichter zu diesem Schritte zu bewegen, unterließen sie nicht, ihr zu sagen und zu wiederholen, daß eine solche Schrift am Ende[172] doch nur eine bloße Förmlichkeit sei (worin sie auch die Wahrheit sprachen), die erst durch die nachfolgenden Handlungen, die noch von ihrem Willen abhingen, in Kraft treten könnte. Trotzdem wäre die Bittschrift vielleicht noch nicht an ihre Bestimmung gelangt; denn Gertrud bereute schon sie geschrieben zu haben. Dann machte sie sich wieder Vorwürfe über diese Reue und so verbrachte sie Tage und Monate in einem beständigen Wechsel von Wollen und Nichtwollen.

Ein anderes Gesetz befahl, daß ein junges Mädchen zur Prüfung ihres Berufes nicht zugelassen werden sollte, wenn sie nicht vorher wenigstens einen Monat außerhalb des Klosters, in welchem sie erzogen worden, zugebracht hätte. Seit Absendung der Bittschrift war fast ein Jahr verflossen, und Gertrud erhielt die Nachricht, daß sie binnen Kurzem aus dem Kloster abgeholt und nach dem väterlichen Hause gebracht werden würde, um jenen Monat daselbst zu verleben und alle die nöthigen Vorkehrungen zu treffen, welche die Vollendung des begonnenen Werkes erforderten. Der Fürst und die übrige Familie betrachteten alles schon so gut wie abgemacht. Aber die Gesinnungen des jungen Mädchens hatten sich sehr verändert; anstatt die weiteren Schritte zu thun, sann sie nur auf ein Mittel, den ersten rückgängig zu machen. In dieser Qual beschloß sie, sich einer ihrer Gefährtinnen, der aufrichtigsten, anzuvertrauen, die ihr stets bereitwillig mit Rath und That beigestanden hatte. Diese rieth ihr, sie sollte ihrem Vater brieflich ihren Willen und ihren Entschluß mittheilen, weil sie nicht den Muth dazu hätte, ihm dreist ins Gesicht zu sagen »ich will nicht.« Daß guter Rath in dieser Welt theuer ist, sollte Gertrud erfahren; denn ihre Rathgeberin machte sich durch allerlei Spöttereien über ihre Feigheit lustig. Der Brief ward indessen unter drei oder vier Vertrauten entworfen, heimlich geschrieben und auf sehr listigem Wege befördert. In ängstlicher Spannung erwartete Gertrud eine Antwort. Sie kam nicht. Einige Tage darauf ließ die Aebtissin sie in ihre Zelle kommen und war in ihrem Benehmen gegen sie sehr ernst und strenge; sie gab ihr zu verstehen, daß der Fürst sehr zornig sei, und sprach von einer Uebereilung, die sie begangen haben müsse; sie ließ jedoch[173] durchblicken, daß sie durch eine gute Aufführung alles wieder gut machen könnte und daß der Fürst alles vergessen wollte. Das junge Mädchen verstand den Wink und wagte nicht weiter zu fragen.

Endlich erschien der so gefürchtete und ersehnte Tag. Gertrud wußte wohl, daß sie einem Kampfe entgegen ging; doch das Kloster auf einige Wochen verlassen zu können, die Mauern, in denen sie acht Jahre lang eingeschlossen gewesen, hinter sich zu haben, in einer Kutsche durch die freien Felder hinzurollen, die Stadt, das Vaterhaus wiederzusehen – das waren Eindrücke, die sie mit einer stürmischen Freude erfüllten. Was den Kampf betraf, so hatte sie schon unter der Anleitung jener Vertrauten ihre Maßregeln genommen und war mit ihrem Plan so zu sagen im Reinen. Entweder werden sie mich mit Gewalt zwingen wollen, dachte sie, und dann werde ich Stand halten; ich werde gelassen und artig sein, aber nicht einwilligen; es handelt sich nur darum, durchaus nicht Ja zu sagen; und ich will es nicht sagen. Oder sie werden mich durch Güte einnehmen wollen, und dann werde ich noch sanfter sein als sie, ich werde weinen, flehen, ihr Mitleid rühren, denn am Ende verlange ich doch nur, nicht aufgeopfert zu werden. Aber wie es oft bei solchen Voraussetzungen geschieht, es traf weder die eine, noch die andere ein. Die Tage verflossen, ohne daß der Vater oder sonst Jemand ein Wort mit ihr von der Bittschrift oder dem Widerrufe sprach; weder durch Schmeicheleien, noch durch Drohungen wurde ihr irgend eine Zumuthung gemacht. Die Eltern waren ernst, mißmuthig und mürrisch gegen sie, ohne jedoch den Grund dafür anzugeben. Man ersah nur daraus, daß sie Gertrud wie eine Verbrecherin, als eine Unwürdige betrachteten; ein schwerer Fluch schien auf ihr zu ruhen und sie von der Familie zu scheiden; stets ließ man sie den Zwang fühlen, den man sich anthat, mit ihr verkehren zu müssen. So durfte sie nur sehr selten und zu gewissen festgesetzten Stunden mit den Eltern und dem ältesten Bruder verkehren. In den Gesprächen dieser drei herrschte eine große Vertraulichkeit und Einigkeit, wodurch Gertrud die Zurücksetzung noch schmerzlicher empfand. Keiner richtete das Wort an sie, und betrafen[174] die Worte, die sie schüchtern und ängstlich hervorbrachte, nicht eine ganz nothwendige Sache, so wurden sie nicht beachtet oder mit einem strengen, verächtlichen Blick beantwortet.

Diese Eindrücke bildeten einen schmerzlichen Kontrast mit den lachenden Bildern, die Gertrud in ihrer Einsamkeit so lange beseelt hatten und mit denen ihre Seele in der Stille sich noch immer beschäftigte. In dem glänzenden väterlichen Hause hatte sie gehofft, die geträumten Dinge auf einmal in Wirklichkeit zu genießen; aber sie fand sich darin getäuscht. Sie mußte streng im verschlossenen Zimmer bleiben, wie im Kloster; nicht einmal von einem Spaziergang war die Rede; und ein Gang, der vom Haus aus nach einer daranstoßenden Kirche führte, schnitt noch die einzige Gelegenheit ab, die sich dargeboten hätte, den Fuß auf die Straße zu setzen. Der Umgang war trauriger, spärlicher, und bot in seiner Eintönigkeit weniger Abwechselung dar als im Kloster. So oft ein Besuch angemeldet ward, mußte Gertrud in ihr Zimmer hinauf gehen und sich dort mit einigen alten Dienerinnen einschließen; hier speiste sie auch zu Mittag, so oft ihre Eltern Gäste zu Tische hatten. Die Dienerschaft richtete sich in ihrem Betragen und in ihren Reden nach dem Beispiele und den Absichten der Herrschaft. Gertrud hätte sie gern nach ihrer Gewohnheit mit vornehmer Herablassung und Vertraulichkeit behandelt, denn in der Lage, worin sie sich befand, würde sie jeden Beweis von Theilnahme, wie von ihres Gleichen kommend, mit Dank aufgenommen haben; sie erniedrigte sich fast so sehr, darum zu betteln, und mußte endlich, gedemüthigt und gekränkt, mit Schmerz erkennen, wie selbst der Geringste ihr mit offenbarer Geringschätzung entgegen trat, wenn er ihr auch den schuldigen Gehorsam nicht verweigerte. Um so weniger konnte es ihr entgehen, daß ein Page von allen Uebrigen eine Ausnahme machte, der ihr eine große Ehrfurcht bezeigte und ein eigenthümliches Mitleid für sie empfand. Dieser junge blühende Mensch hatte mit dem erträumten Wesen ihrer Phantasie die meiste Aehnlichkeit. Bald entdeckte man in dem Betragen des jungen Mädchens eine ungewöhnliche Veränderung, eine Ruhe und eine Unruhe, die von ihrem gewöhnlichen Wesen sehr abwich; es war, als hätte sie ein[175] längst ersehntes Gut gefunden, das sie jeden Augenblick bewachen müßte, um es den Blicken Anderer zu verbergen. Man beaufsichtigte sie mehr als je. Da überraschte sie eines Morgens eine Kammerfrau, wie sie ein Blatt Papier, worauf sie besser gethan hätte nichts zu schreiben, hastig zusammenfaltete. Nach kurzem Zank und Streit kam das Blatt in die Hände der Kammerfrau, die es dem Fürsten übergab.

Gertrudens Schrecken, als sie ihn kommen hörte, läßt sich weder beschreiben, noch denken; es war der Vater, der zornige Vater, der nahte, und sie fühlte sich strafbar. Als sie ihn aber mit finsterm Blick, das Blatt in der Hand, herein treten sah, da hätte sie gewünscht, hundert Klafter tief unter der Erde zu sein, oder in ihrem Kloster. Der Fürst richtete nur wenige Worte an sie, aber diese waren vernichtend; als Strafe wurde ihr angekündigt auf ihrem Zimmer bei verschlossenen Thüren zu bleiben, unter Aufsicht der Kammerfrau, welche die Entdeckung gemacht hatte. Aber das war nur der Anfang, nur eine Vorkehrung für den ersten Augenblick; man verhieß ihr noch eine andere Strafe, die um so schrecklicher war, da sie sich nur aus gewissen Drehungen ahnen ließ.

Der Page wurde natürlich sogleich fortgejagt; dabei wurde auch ihm mit einer schrecklichen Strafe gedroht, wenn er es jemals wagen sollte, von dem Vorfalle eine Silbe zu verrathen. Der Fürst gab ihm bei dieser Weisung noch zwei derbe Ohrfeigen, ein Denkzettel, der dem losen Buben alle Versuchung benehmen sollte, sich dessen zu rühmen.

So blieb denn Gertrud mit gebrochenem Herzen, voll Scham und Reue und mit dem Entsetzen vor der Zukunft allein auf ihrem Zimmer zurück, unter der Aufsicht jenes Weibes, das sie als einen Zeugen ihrer Schuld und als die Ursache ihres Mißgeschickes haßte. Und diese haßte Gertrud eben so sehr, weil sie durch sie, ohne zu wissen auf wie lange Zeit, zu dem langweiligen Leben einer Kerkermeisterin verdammt und für's ganze Leben die Mitwisserin eines gefährlichen Geheimnisses geworden war, das sie um keinen Preis verrathen durfte. Der erste Aufruhr dieser Gefühle wurde nach und nach stiller; bald[176] aber erfaßte er aufs neue das Gemüth, um es in Ruhe noch ärger zu quälen. Was für eine Strafe konnte nur mit jener räthselhaften Drohung gemeint sein? Der glühenden und erregten Phantasie Gertrudens stellte sich eine ganze Hölle von mannigfaltigen, ungewöhnlichen Strafen dar.

Nach vier oder fünf langen Tagen der Gefangenschaft fühlte sich Gertrud eines Morgens heftiger als je über die abscheuliche Behandlung ihrer Wächterin erbittert; sie setzte sich in eine Ecke ihres Zimmers, verbarg das Gesicht in beide Hände und blieb so eine Weile, um ihre Wuth in sich zu verzehren. Da empfand sie auf einmal ein übermäßiges Bedürfniß, andere Gesichter zu sehen, andere Stimmen zu hören, anders behandelt zu werden. Sie gedachte ihres Vaters, der ganzen Familie; sie schauderte vor diesem Gedanken zurück. Aber es fiel ihr ein, daß es nur von ihr abhinge, in ihnen Freunde zu finden, und es überkam sie plötzlich ein heftiges Verlangen nach ihnen; eine ungeheure Reue über ihr Vergehen folgte und ein eben so großes Verlangen, es abzubüßen. Nicht daß ihr Wille diesen Vorsatz schon fest gefaßt hätte, er hatte sich nur noch niemals ihm so geneigt gezeigt. Sie erhob sich, ging an einen kleinen Tisch, ergriff jene unheilvolle Feder und schrieb dem Vater einen Brief voller Begeisterung und Niedergeschlagenheit, voller Betrübniß und Hoffnung; sie flehte um Vergebung, und versprach, sich in Allem dem Willen des Vaters zu fügen.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 1, S. 160-177.
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