Sechsundzwanzigstes Kapitel.

[80] Don Abbondio, der auf eine so gestellte Frage nicht vorbereitet war, gab keinen Laut von sich. Und um die Wahrheit zu sagen, auch wir fühlen, mit diesem Manuskripte vor uns, mit der Feder in der Hand, indem wir nur mit Redensarten zu kämpfen und nichts zu fürchten haben als die Beurtheilungen unserer Leser, auch wir, sage ich, fühlen eine gewisse Abneigung fortzufahren; wir finden es gewissermaßen seltsam, mit so geringer Mühe so viele schöne Lehren der Standhaftigkeit und der Menschenliebe, der eifrigen Sorgsamkeit für Andere, der grenzenlosen Selbstaufopferung ins Feld zu führen. Aber bedenkend, daß diese Dinge von Jemandem gesprochen wurden, der auch darnach that, fahren wir in unserer Erzählung muthig fort.

»Ihr antwortet nicht?« hub der Kardinal wieder an. »Ach, wenn Ihr eurerseits gethan hättet, was die christliche Liebe, was die Pflicht erheischte, so würdet Ihr, wie die Dinge auch immer abgelaufen wären, jetzt nicht um eine Antwort verlegen sein. Ihr seht also selbst, was Ihr gethan habt. Ihr habt der Ruchlosigkeit gedient, und Euch nicht darum gekümmert, was Euch die Pflicht vorschrieb. Ich frage Euch nun, ob Ihr nicht noch mehr gethan habt? sagt mir, ob es wahr ist, daß Ihr Vorwände zu eurer Weigerung erlogen habt, um den Beweggrund dafür nicht anzugeben?« Hier hielt er wieder eine Weile inne und erwartete eine Antwort.

– Auch das haben ihm die Schwätzerinnen hinterbracht – dachte Don Abbondio; keine Miene aber verrieth, daß er etwas[80] zu sagen habe. Der Kardinal fuhr darauf fort: »Es ist also wahr, daß Ihr diesen armen Leuten etwas gesagt habt, was sich nicht so verhielt, um sie in der Unwissenheit, in der Dunkelheit zu erhalten, wie die Ruchlosigkeit es wollte .... Ich muß es also glauben; es bleibt mir also nichts übrig, als mit Euch darüber zu erröthen und zu hoffen, daß Ihr mit mir darüber weinen werdet. Ihr seht, wohin Euch diese Besorgniß für das zeitliche Leben geführt hat. Guter Gott! und auch jetzt noch führtet Ihr sie als eine Entschuldigung an. Sie hat Euch verleitet .... widerlegt dreist diese Worte, wenn sie Euch ungerecht dünken, nehmt sie als eine heilsame Demüthigung hin, wenn sie es nicht sind ..... sie hat Euch verleitet, die Schwachen zu täuschen und eure Kinder zu belügen.«

– So ist der Lauf der Welt – sagte Don Abbondio wieder bei sich; – jenem Satanas – und er dachte an den Ungenannten – fällt er um den Hals; und mir macht er wegen einer kleinen Nothlüge, die ich nur gesagt habe, um mich meiner Haut zu wehren, die Hölle heiß. Aber es sind die Vorgesetzten, die immer Recht haben. Es ist mein Unstern, daß sie mir Alle etwas zur Last legen, sogar die Heiligen. – Und mit lauter Stimme sagte er: »Ich habe gefehlt; ich sehe ein, daß ich gefehlt habe; aber was sollte ich in einer solchen Verlegenheit anfangen?«

»Und das fragt Ihr noch? Habe ich es Euch nicht schon gesagt? Und mußte ich es Euch erst sagen? Lieben, mein Sohn, lieben und beten. Dann hättet Ihr erfahren, daß die Ruchlosigkeit wohl Drohungen ausstoßen, Verbrechen ersinnen, aber keine Befehle ertheilen kann; Ihr hättet nach dem Gesetze Gottes vereinigt, was der Mensch trennen wollte; Ihr hättet den unverschuldet Unglücklichen den Dienst geleistet, welchen sie mit Recht von Euch forderten; für die Folgen wäre Euch Gott Bürge gewesen, denn nach seinem Gebote wäre gehandelt worden; einem andern Gebote gehorchend, habt Ihr Euch selbst zum Bürgen gemacht, und mit welchen Folgen! Warum habt Ihr nicht daran gedacht, eurem Bischof Nachricht zu geben von dem Hinderniß, welches Euch eine verruchte Gewaltthätigkeit bei der Ausübung eures Amtes entgegensetzte?«[81]

– Perpetua's Rathschläge! – dachte Don Abbondio ärgerlich. Was er sich während dieser Reden am lebhaftesten vorstellte, waren die Gestalten jener Bravi und der Gedanke, daß Don Rodrigo gesund und munter eines schönen Tages ruhmvoll, siegreich und wuthschnaubend zurückkehren werde. Und obwohl die Würde des Bischofs, sein Anblick und seine Sprache ihn verwirrt machten und ihm eine gewisse Furcht einjagten, so war es doch eine Furcht, die ihn weder gänzlich unterjochte, noch von dem Gedanken abhielt, sich zu widersetzen; er wußte wohl, daß am Ende der Kardinal doch weder mit Flinten, noch mit Degen, noch mit Bravi zu Werke ging.

»Dachtet Ihr denn gar nicht daran«, fuhr dieser fort, »daß, wenn diesen unschuldig Verfolgten auch keine andere Zufluchtsstätte offen geblieben wäre, ich doch da war, um sie aufzunehmen, um sie in Sicherheit zu bringen, wenn Ihr mir sie zugewiesen, die Hülflosen einem Bischof als sein Eigenthum, ich meine nicht als seine Last, sondern als einen kostbaren Theil seines herrlichen Amtes zugewiesen hättet? Und was Euch betrifft, so würde ich über Euch gewacht haben, ich hätte nicht schlafen können, ehe ich mich überzeugt, daß Euch kein Haar gekrümmt werden konnte. Hätte ich denn kein Mittel, keinen Schutzort gehabt, um euer Leben sicher zu stellen? Und meint Ihr, jener verwegene Mensch wäre von seiner Frechheit nicht abgestanden, sobald er erfahren, daß seine Ränke auch außerhalb, auch mir bekannt würden, daß ich wachte und entschlossen war, zu eurer Vertheidigung alle mir zu Gebote stehenden Mittel aufzubieten? Wußtet Ihr nicht, daß der Mensch nur allzu oft mehr verspricht, als er zu halten vermag, daß er oftmals größere Drohungen ausstößt, als er den Muth hat auszuführen? Wußtet Ihr nicht, daß die Ruchlosigkeit sich nicht blos auf ihre Kräfte stützt, sondern auch auf die Leichtgläubigkeit und den Schrecken Anderer?«

– Ganz und gar Perpetua's vernünftige Reden – dachte Don Abbondio auch hier, ohne zu überlegen, daß die Uebereinstimmung seiner Haushälterin mit Federigo Borromeo über das, was er hätte thun können und müssen, sehr gegen ihn sprach.

»Ihr aber«, fuhr der Kardinal schließlich fort, »Ihr habt[82] nichts gesehen, habt nichts sehen wollen als eure zeitliche Gefahr, und wie wunderbar groß mußte sie Euch vor Augen stehen, daß Ihr alles Andere darüber vergaßet?«

»Das macht, weil ich sie selbst gesehen habe die garstigen Gesichter«, ließ sich Don Abbondio entwischen, »weil ich jene Worte gehört habe. Euer Gnaden haben gut reden, aber Sie sollten einmal in der Haut eines armen Priesters stecken und so in der Klemme gesessen haben.«

Kaum hatte er diese Worte hervorgebracht, so biß er sich auf die Zunge; er merkte, daß er sich von seinem Aerger hatte allzu sehr hinreißen lassen, und sagte für sich – nun kommt das Donnerwetter. –

Indem er aber zweifelhaft den Blick erhob und jenen Mann ansah, welchen er niemals zu errathen noch zu begreifen vermochte, als er ihn ansah, sage ich, war er ganz verwundert, jenen gebieterischen, strafenden Ernst in seinem Gesichte in eine gedankenvolle tiefe Betrübniß übergehen zu sehen.

»Nur allzu wahr!« sagte Federigo, »ein so erbärmlicher und schrecklicher ist unser Zustand! Wir müssen mit Strenge von den Andern fordern, was Gott weiß, ob wir bereit wären, es zu leisten; wir müssen richten, bessern, tadeln und Gott weiß, was wir in dem nämlichen Falle thun würden, was wir in ähnlichen Fällen schon gethan haben! Aber wehe, wenn ich meine Schwäche zum Maßstabe für die Pflicht anderer, zur Richtschnur meiner Lehre nehmen sollte. Und doch ist es gewiß, daß ich mit der Lehre andern auch zugleich ein Beispiel geben und mich nicht dem Pharisäer gleichstellen soll, der den Andern Lasten aufbürdet, die sie nicht tragen können, und die er selbst nicht einmal mit dem Finger anrühren will. Wohlan, mein Sohn und Bruder! da die Irrthümer der Vorgesetzten den Andern oftmals bekannter sind, als ihnen selbst, so sagt mir es frei heraus, wenn Ihr wißt, daß ich aus Kleinmüthigkeit, aus irgend einer Rücksicht meine Pflicht hintenangesetzt habe, haltet mir meine Fehler vor, damit, wo das Beispiel ausgeblieben ist, die Beichte wenigstens nicht fehle. Werft mir ohne Scheu meine Schwächen vor; alsdann werden die Worte in meinem Munde eine größere Kraft erlangen, denn[83] Ihr werdet lebhafter empfinden, daß sie nicht von mir kommen, sondern von Dem, der Euch und mir die nöthige Kraft verleihen kann, nach diesen Worten zu handeln.«

– O was für ein heiliger Mann! aber was für ein Quälgeist! – dachte Don Abbondio – sogar über sich selber; wenn er nur herumstöbern, aufwühlen, tadeln und ausforschen kann, beträf's auch ihn selber. – Darauf sagte er mit lauter Stimme: »O hochwürdigster Herr! Sie treiben Scherz mit mir! Wer kennt nicht das starke Gemüth, den unerschütterlichen Eifer Euer Gnaden?« Und für sich fügte er hinzu – nur zu viel. –

»Ich verlangte kein Lob von Euch, das mich zittern macht«, sagte Federigo, »denn Gott kennt meine Mängel, und was ich selbst davon kenne, reicht hin, um mich zu beschämen. Aber ich hätte gewünscht, ich wollte, daß wir uns beide vor Ihm demüthigten, um beide Vertrauen zu fassen. Zu eurem Heile möchte ich, daß Ihr einsähet, wie eure Aufführung gewesen, wie eure Sprache dem Gesetze zuwider ist, das Ihr doch prediget und nach dem Ihr sollt gerichtet werden.«

»Alles fällt über mich her«, sagte Don Abbondio, »aber diese Leute, welche die Hinterbringer waren, haben Ihnen nicht gesagt, daß sie sich verrätherischer Weise in mein Haus geschlichen, um mich zu überrumpeln und eine Trauung gegen die Regel zu erzwingen.«

»Sie haben es mir gesagt, mein Sohn; aber das betrübt mich, das drückt mich nieder, daß Ihr Euch noch entschuldigen möchtet, durch Anklagen Euch zu entschuldigen denkt, daß Ihr andern zur Last leget, was ein Theil eurer Beichte sein sollte. Wer hat sie, ich sage nicht in die Nothwendigkeit, aber in die Versuchung gebracht, zu thun, was sie gethan? Würden sie auf diesen Abweg gerathen sein, wenn der gesetzmäßige ihnen nicht verschlossen gewesen wäre? Hätten sie daran gedacht, den Seelenhirten zu hintergehen, wenn er sie mit offenen Armen empfangen, wenn er ihnen mit Rath und That beigestanden hätte? Würden sie ihn überrascht haben, wenn er sich nicht versteckt gehalten hätte? Und ihnen gebt Ihr die Schuld? Und Ihr seid unwillig, weil sie nach so vielen Unfällen, was sage ich? mitten im Unglück sich gegen[84] ihren und euren Seelsorger mit einem Worte Luft gemacht haben? Die Klage des Unterdrückten, der Jammer der Betrübten sind der Welt lästig, die Welt ist einmal so; aber wir! Was brächte es Euch für Nutzen, wenn sie geschwiegen hätten? Stände es besser um Euch, wenn ihre Sache vor Gottes Richterstuhl käme?«

Don Abbondio schwieg, aber es war nicht mehr jenes gezwungene, unwillige Stillschweigen; er schwieg wie Einer, der mehr zu denken als zu sagen hat. Die Worte, die er hörte, waren unvermuthete Folgerungen, neue Anwendungen einer alten Lehre, die mit seinem Gemüth nicht im Widerspruch stand. Das Unglück anderer, von dessen Betrachtung ihn die Furcht von seinem eigenen immer abgezogen, machte jetzt einen neuen Eindruck auf ihn. Und wenn er auch nicht ganz die Reue empfand, welche die Predigt hervorbringen wollte – denn dieselbe Furcht war immer da, um den Vertheidiger zu machen – so empfand er doch Reue; er empfand einen gewissen Unwillen über sich selbst, eine Art Mitleiden mit den Andern, ein Gemisch von Rührung und Verwirrung. Er war, wenn uns dieser Vergleich erlaubt ist, wie der feuchte und festgequetschte Docht eines Lichtes, der, an die Flamme einer großen Fackel gehalten, anfänglich dampft, sprüht, knistert und nichts von ihr wissen will; zuletzt aber sich entzündet und, gern oder ungern, brennt. Er würde sich offen angeklagt, würde geweint haben, wenn nicht der Gedanke an Don Rodrigo gewesen wäre; aber bei alledem zeigte er sich genugsam gerührt, denn der Kardinal konnte wahrnehmen, daß seine Worte nicht ohne Wirkung gewesen waren.

»Jetzt«, fuhr dieser fort, »da der Eine aus seiner Heimat geflohen ist, die Andere im Begriff steht, sie zu verlassen, – und alle beide haben Gründe genug, ihr fern zu bleiben, ohne die Wahrscheinlichkeit, sich jemals hier wieder zusammen zu finden, hoffend Gott möge sie anderswo vereinigen – jetzt bedürfen sie Eurer nicht mehr, jetzt habt Ihr keine Gelegenheit mehr, ihnen Gutes zu thun, und unsere Kurzsichtigkeit kann auch in der Zukunft keine entdecken. Wer weiß aber, ob der barmherzige Gott sie Euch nicht bereitet? Ach! laßt sie Euch nicht entgehen, suchet sie auf, seid auf der Hut, betet zu ihm, daß er sie herbeiführe.«[85]

»Ich werde es nicht unterlassen, hochwürdiger Herr, ich werde es wahrhaftig nicht unterlassen,« antwortete Don Abbondio, mit einer Stimme, die in diesem Augenblick wirklich von Herzen kam.

»Ach ja, mein Sohn, ja!« rief Federigo aus und schloß mit würdevoller Herzlichkeit: »Der Himmel weiß, wie sehr ich ein ganz anderes Gespräch mit Euch zu führen gewünscht hätte. Wir sind beide schon alt; der Himmel weiß, ob es mir schwer geworden ist, euer graues Alter mit Vorwürfen betrüben zu müssen; wie viel lieber hätte ich mich mit Euch über unsere gemeinsamen Sorgen, über unsere Leiden im Gespräche von der seligen Hoffnung getröstet, der wir schon so nahe gerückt sind. Gebe Gott, daß die Worte, die ich gegen Euch gebrauchen mußte, Euch und mir helfen mögen. Wollet nicht, daß Er dereinst Rechenschaft von mir fordere, warum ich Euch in einem Amte gelassen, an welchem Ihr Euch so unglückselig vergangen habt. Bringen wir die Zeit wieder ein, die Mitternacht ist nahe, der Bräutigam kann nicht säumen, halten wir unsere Lampe brennend. Bringen wir Gott unsere armen, eiteln Herzen dar, damit er sie mit der Menschenliebe erfüllen möge, welche das Vergangene wieder gut macht, die Zukunft sichert, die fürchtet und vertraut, mit Weisheit weint und sich freut; die in jedem Falle zu der Tugend führt, die wir bedürfen.«

Bei diesen Worten brach er auf, und Don Abbondio folgte ihm.

Am nächstfolgenden Morgen kam Donna Prassede, um der Verabredung gemäß Lucia abzuholen und den Kardinal zu begrüßen, der Lucia lobte und sie ihr mit Wärme empfahl. Lucia riß sich von der Mutter los, man kann sich denken unter wie vielen Thränen; sie verließ ihr Häuschen, sagte zum zweiten Mal ihrem Dorfe Lebewohl und empfand doppelt den bittern Schmerz, einen Ort zu verlassen, der ihr einzig theuer war und es nicht mehr sein konnte. Aber der Abschied von der Mutter war nicht der letzte; denn Donna Prassede hatte angekündigt, daß sie noch einige Tage auf ihrem Landsitze verweilen werde, der nicht sehr entfernt lag, und Agnese versprach der Tochter dort hinzukommen, um noch einmal Abschied zu nehmen.[86]

Auch der Kardinal stand schon im Begriff seine Kirchenbesuche fortzusetzen, als der Pfarrer des Kirchsprengels, worin das Schloß des Ungenannten lag, ankam und ihn zu sprechen wünschte. Nachdem er vorgelassen worden war, überreichte er ihm ein Päckchen und einen Brief von diesem Herrn. Derselbe ersuchte den Kardinal, Lucia's Mutter zur Annahme des Päckchens mit hundert Goldscudi zu bewegen; sie sollten zur Aussteuer des jungen Mädchens dienen, oder sonst nach Gutdünken der beiden Frauen verwendet werden; zugleich bat er ihn, denselben zu sagen, wenn sie jemals der Meinung wären, er könne ihnen irgend einen Dienst erweisen, so wüßte das arme Mädchen nur allzu wohl, wo er wohne; für ihn würde dies einer der erwünschtesten Glücksfälle sein. Der Kardinal ließ sogleich Agnese rufen und theilte ihr den Auftrag mit, den diese mit eben so großer Verwunderung als Freude vernahm, darauf übergab er ihr die Rolle, die sie, ohne viele Umstände zu machen, annahm. »Möge es Gott jenem Herrn vergelten«, sagte sie, »und Euer Gnaden es ihm viel-, vielmal danken. Und sprechen Sie zu Niemand davon, denn dies ist ein gewisses Dorf .... entschuldigen Sie mich .... sehen Sie, ich weiß wohl, daß Ihres Gleichen über diese Dinge nicht plaudern werden, aber .... Sie verstehen mich schon.«

In aller Stille ging sie nach Hause, schloß sich in ihre Kammer ein, wickelte die Rolle auf und obgleich vorbereitet, betrachtete sie doch mit Verwunderung den Haufen Goldstücke, von denen sie vielleicht nie mehr als eines auf einmal und auch das nur selten gesehen hatte; sie zählte sie, mühte sich eine Weile ab, sie wieder zusammen zu packen und alle hundert aneinander zu reihen, während sie ihr alle Augenblicke aus den ungeübten Fingern glitten; endlich brachte sie, so gut es ging, eine Rolle zu Stande, wickelte diese in ein Stück Zeuch, machte ein Päckchen daraus, das sie mit einem Faden ringsherum gut zuband und in eine Ecke ihres Strohsacks versteckte. Den übrigen Theil dieses Tages that sie nichts als nachgrübeln, Pläne für die Zukunft machen und sich nach dem nächsten Morgen sehnen. Als sie sich zu Bett gelegt, blieb sie eine Zeitlang mit dem Gedanken an die Hundert wach, die sie unter sich hatte, und nachdem sie eingeschlafen war, sah sie[87] dieselben im Traume. Mit der Morgenröthe stand sie auf und machte sich sogleich auf den Weg nach dem Landgute, wo Lucia war.

Obgleich bei dieser sich die Abneigung, von dem Gelübde zu sprechen, noch nicht vermindert hatte, so war sie doch entschlossen, sich Gewalt anzuthun und sich der Mutter in dem Gespräche zu eröffnen, das für lange Zeit das letzte sein sollte.

Kaum waren sie allein, als Agnese mit ganz erregtem Gesicht und zugleich mit leiser Stimme, als wäre Jemand zugegen, dem sie nichts hören lassen wollte, anfing: »Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen«, und sie erzählte ihr den unverhofften Glücksfall.

»Gott segne den Herrn!« sagte Lucia, »so werdet Ihr doch gemächlich zu leben haben und könnt allenfalls auch andern noch Gutes thun.«

»Wie?« antwortete Agnese, »Siehst du denn nicht, was wir mit so vielem Gelde alles anfangen können? Höre; ich habe Niemand sonst als dich, als euch beide, kann ich sagen, denn seitdem Renzo mit dir umgeht, habe ich ihn immer wie meinen Sohn betrachtet. Alles kommt darauf an, daß ihm nicht irgend ein Unglück zugestoßen ist, da er so lange nichts hat von sich hören lassen; aber was! muß denn gleich alles schlecht ablaufen? Wir wollen hoffen, daß es nicht so ist. Was mich betrifft, so hätte ich gern mein Grab in unserm Dorfe gefunden; aber jetzt, da du um des Schurken willen nicht darin bleiben kannst, ist mir bei dem Gedanken, diesen so in der Nähe zu haben, mein Dorf zuwider geworden, und ich bleibe bei euch, wo es auch sei. Immer war ich bereit, mit euch bis an das Ende der Welt zu ziehen, und bin immer so gesinnt gewesen, aber was sollte man ohne Geld anfangen? Begreifst du es jetzt? Jene vier Goldstücke, die der Aermste mit so vieler Noth und Sparsamkeit auf die Seite gelegt hatte, und die mit drauf gegangen sind, für die hat uns der Herr jetzt seinen Segen geschickt. Sobald er also Gelegenheit gefunden hat, uns wissen zu lassen, ob er noch lebt, wo er ist und was er für Absichten hat, komme ich nach Mailand und hole dich ab, ich selbst hole dich ab. Ehedem hätte mir das wohl ein großes Unternehmen geschienen, aber das Unglück macht dreist; ich bin doch schon bis nach Monza gekommen und weiß was Reisen heißt. Ich[88] nehme einen sichern Mann mit mir, einen Verwandten, wie den Alessio di Maggianico; denn eigentlich ist in dem Dorfe kein sicherer Mann mehr zu finden; ich komme also mit ihm hin; die Kosten tragen natürlich wir und .... du verstehst mich?«

Als sie aber sah, daß Lucia, anstatt Muth zu fassen, immer betrübter ward und nichts als eine trostlose Zärtlichkeit blicken ließ, brach sie das Gespräch ab, indem sie sagte: »Aber was hast du? bist du nicht meiner Meinung?«

»Armes Mütterchen!« rief Lucia aus, schlang ihren Arm um Agnesens Hals und barg das weinende Gesicht an dem Busen derselben.

»Was hast du?« fragte die Mutter ängstlich von Neuem.

»Ich hätte es Euch schon früher sagen sollen«, antwortete Lucia, indem sie das Gesicht erhob und die Thränen trocknete, »aber ich habe niemals den Muth dazu gehabt; beklagt mich.«

»Nur heraus, was ist's?«

»Ich kann die Frau des Aermsten nicht mehr werden.«

»Wie? was?«

Mit gesenktem Kopfe, unter schweren Athemzügen, weinend, ohne hörbares Schluchzen, wie Jemand, der etwas erzählt, das, so unheilvoll es auch wäre, doch unabänderlich ist, enthüllte sie das Gelübde und bat, die Hände faltend, ihre Mutter, die bis jetzt geschwiegen hatte, von Neuem um Verzeihung und beschwor sie mit keiner lebenden Seele über die Sache zu sprechen und ihr zur Erfüllung des Gelübdes beizustehen.

Agnese stand ganz betäubt und bestürzt da. Sie wollte über das Stillschweigen gegen sie unwillig werden, aber die Gedanken über eine so ernste Sache erstickten ihren Unwillen; sie wollte ihr sagen, »was hast du gethan?« aber es schien ihr, als beginge sie dadurch ein Unrecht gegen den Himmel, um so mehr, als Lucia noch einmal mit den lebhaftesten Farben jene Nacht schilderte, die verzweiflungsvolle Trostlosigkeit und die so unerwartete Rettung, während welcher das Versprechen so ausdrücklich, so feierlich gethan worden war. Inzwischen fiel Agnesen auch dies und jenes Beispiel ein, das sie öfters erzählen gehört und selbst der Tochter wieder erzählt hatte, von seltsamen und schrecklichen Strafen, die[89] auf die Verletzung irgend eines Gelübdes folgen. Nachdem sie eine Weile sprachlos dagestanden, sagte sie: »Was wirst du jetzt thun?«

»Jetzt«, antwortete Lucia, »wird der Herr für uns sorgen, der Herr und die Jungfrau. Ich habe mich in ihre Hände gegeben, sie haben mich bis jetzt nicht verlassen, sie werden mich auch jetzt nicht verlassen, da .... die Gnade, die ich vom Herrn für mich erflehe, die einzige Gnade nächst dem Heil meiner Seele ist, daß er mich mit Euch zurückkehren läßt, und er wird sie mir gewähren, ja, er wird sie mir gewähren. An jenem Tage .... in jener Kutsche .... O heilige Jungfrau! .... unter jenen Menschen! .... wer hätte mir da gesagt, daß sie mich zu einem Manne brächten, der Tages darauf mich mit Euch wieder zusammenführen sollte?«

»Aber mit deiner Mutter nicht gleich davon zu sprechen!« sagte Agnese mit einem Anflug von Aerger, der aber durch Mitleid und Liebe gemildert war.

»Beklagt mich; ich hatte den Muth nicht .... und was hätte es geholfen, Euch eine Weile früher zu betrüben?«

»Und Renzo?« fragte Agnese den Kopf schüttelnd.

»Ach!« rief Lucia und fuhr zusammen. »Ich darf nicht mehr an den Aermsten denken. Man sieht wohl, daß es nicht bestimmt war ... Seht Ihr es nicht klar, daß Gott selbst unsere Trennung wollte? Und wer weiß ....? Doch nein, nein; der Herr wird ihn vor Gefahren geschützt haben und wird ihn auch ohne mich glücklich machen.«

»Aber«, begann die Mutter wieder, »wenn du dich nicht für immer gebunden hättest, wenn unserm Renzo nicht irgend ein Unglück zugestoßen ist, so wäre mit diesem Gelde doch nun ein Mittel für alles Uebrige gefunden.«

»Würde denn aber dieses Geld uns zugefallen sein«, entgegnete Lucia, »wenn ich jene Nacht nicht zugebracht hätte? Der Herr hat alles so gefügt, sein Wille geschehe.« Und Thränen erstickten ihre Stimme.

Bei diesem unerwarteten Beweisgrunde wurde Agnese nachdenkend. Nach einigen Augenblicken unterdrückte Lucia ihr[90] Schluchzen und fing wieder an: »Jetzt, da die Sache geschehen ist, muß man sich mit willigem Herzen darein fügen; und Ihr, meine arme Mutter, könnt mir beistehen, zuerst, indem Ihr zum Herrn für eure arme Tochter betet, und dann .... muß es wohl der arme Junge erfahren. Denkt daran, thut mir auch diese Liebe. Sobald Ihr wißt, wo er sich aufhält, laßt ihm schreiben, sucht einen Mann .... gerade euer Vetter Alessio ist ein kluger und mitleidiger Mensch, er hat uns immer wohl gewollt und wird nicht darüber plaudern; laßt ihm die Sache schreiben, wie sie sich verhält, wo ich mich befunden, wie ich gelitten, daß Gott es so gewollt, daß er sich beruhigen möge, denn ich könne niemals, niemals Jemand angehören. Laßt ihm die Sache auf gute Art begreiflich machen, erklärt ihm, daß ich ein Versprechen, daß ich eigentlich ein Gelübde gethan habe .... Wenn er hören wird, daß ich es der Madonna versprochen habe .... er ist immer gottesfürchtig gewesen. Und Ihr, sobald Ihr Nachricht von ihm habt, laßt mir schreiben, laßt mich wissen, daß er gesund ist; und dann .... laßt mich weiter nichts hören.«

Ganz gerührt versicherte Agnese der Tochter, es solle alles geschehen, wie sie es wünsche.

»Ich möchte Euch noch Etwas sagen«, fuhr Lucia fort, »wenn der Aermste nicht das Unglück gehabt hätte, an mich zu denken, so würde ihm nicht widerfahren sein, was ihm widerfahren ist. Er ist in die weite Welt; sein Fortkommen haben sie ihm abgeschnitten, sie haben ihm das Seinige genommen, die paar Sparpfennige, die der Aermste zurückgelegt hatte, Ihr wißt ja warum .... Und wir haben so viel Geld! O Mutter! da uns der Herr so reichlich gesegnet, – und der Aermste, – Ihr betrachtet ihn doch immer noch wie euren .... ja wie euren Sohn. – O! theilt es mit ihm, denn gewiß, Gott wird uns nicht verlassen. Sucht einen zuverlässigen Menschen und schickt es ihm hin; denn der Himmel weiß, wie er es nöthig haben mag!«

»Ei, was glaubst du?« antwortete Agnese, »ich werde es wahrhaftig thun. Der arme Junge! Warum denkst du wohl, daß ich über das Geld so froh gewesen wäre? Aber ....! ich bin ganz zufrieden hierher ge kommen. Genug, ich will es ihm hinschicken,[91] dem armen Renzo. Aber auch er .... ich weiß, was ich sage; gewiß erfreut das Geld den, der 's nöthig hat, ihn aber wird es nicht froh machen.«

Lucia dankte der Mutter für dieses schnelle, freimüthige Willfahren mit einer Erkenntlichkeit, mit einer Leidenschaftlichkeit, die Jedem, der sie beobachtet, gezeigt hätte, daß ihr Herz noch immer an Renzo hing, vielleicht mehr, als sie selbst es glaubte.

»Und ohne dich, was soll ich arme Frau machen?« sagte Agnese ebenfalls weinend.

»Und ich ohne Euch, arme Mutter! unter fremden Menschen da unten in jenem Mailand ....! Aber der Herr wird mit uns Beiden sein; er wird uns zusammen heimkehren lassen. In acht oder neun Monaten werden wir uns hier wiedersehen; und bis dahin und noch früher hoffe ich, wird Er alles zum Guten für uns gewendet haben. Lassen wir Ihn walten. Ich werde immer und immer wieder die heilige Jungfrau um diese Gnade anflehen. Hätte ich noch etwas Anderes ihr zu opfern, so würde ich es ihr darbringen; aber sie ist so erbarmungsvoll, daß sie mir diese Gnade auch so widerfahren lassen wird.«

Mit diesen und andern ähnlichen, oft wiederholten Worten der Klage und des Trostes, der Reue und Ergebung, der Ermahnungen und Versicherungen zu schweigen, unter vielen Thränen nach langen und wiederholten Umarmungen trennten sich die Frauen, indem sie sich versprachen, spätestens kommenden Herbst sich wiederzusehen, als ob das Worthalten von ihnen abgehangen hätte, und wie man es doch in ähnlichen Fällen immer macht.

Inzwischen verging eine lange Zeit, ohne daß Agnese irgend etwas von Renzo erfahren konnte. Weder Briefe noch Boten langten von ihm an; von den Leuten des Dorfes und der Umgegend, die sie nach ihm fragen konnte, wußte Keiner mehr als sie.

Und sie war nicht die Einzige, die vergebens eine solche Nachforschung anstellte; der Kardinal Federigo, der nicht bloß aus Höflichkeit den armen Frauen gesagt hatte, er wolle über den armen Jungen Erkundigungen einziehen, hatte wirklich sogleich darum geschrieben. Als er darauf von seinem Besuche nach Mailand zurückgekehrt, hatte er eine Antwort erhalten, worin man ihm[92] sagte, daß man über den bezeichneten Menschen keine Auskunft ertheilen könne, er habe sich freilich in dem und dem Dorfe, im Hause eines seiner Verwandten eine Zeit lang aufgehalten, wo man ihm nichts nachzusagen wisse; eines Morgens aber sei er unversehens verschwunden und selbst sein Verwandter wisse nicht, was aus ihm geworden, und könne nur gewisse unzuverlässige, sich widersprechende Gerüchte wiederholen: daß der Jüngling sich nach der Levante habe anwerben lassen, daß er nach Deutschland gegangen, daß er beim Durchwaten eines Flusses umgekommen sei; man würde aber nicht ermangeln, Acht zu geben, um, wenn man etwas Bestimmteres über ihn erführe, sogleich Seiner Hochwürdigen Gnaden Nachricht davon zu geben.

Später verbreiteten sich diese und andere Gerüchte auch durch das Gebiet von Lecco und kamen folglich auch Agnesen zu Ohren. Die arme Frau that alles Mögliche, um der Wahrheit von diesem oder jenem auf den Grund zu kommen, aber es gelang ihr niemals, mehr als jenes »man sagt« herauszubringen, das noch bis auf den heutigen Tag herhalten muß, so viele Dinge zu beglaubigen. Kaum hatte ihr Einer etwas erzählt, so kam ein Anderer und sagte ihr, es sei nichts wahr daran, wenn auch nur, um ihr zum Ersatz dafür etwas ebenso Seltsames und Falsches aufzubinden. Nichts als leeres Geschwätz; hören wir die Thatsache.

Der Statthalter von Mailand und Generalcapitain in Italien, Don Gonzalo Fernandez di Cordova, hatte gegen den venetianischen Herrn Residenten in Mailand ein großes Geschrei erhoben, daß ein Straßenräuber, ein Taugenichts, ein Aufwiegler zu Mord und Plünderung, der berüchtigte Lorenzo Tramaglino, der sogar in den Händen der Gerechtigkeit noch einen Aufstand veranlaßte, um mit Gewalt zu entkommen, im Bergamaskischen Gebiete Aufnahme und Unterkommen gefunden habe. Der Resident hatte geantwortet, daß die Sache ihm völlig neu wäre, er würde aber nach Venedig schreiben, um Seiner Excellenz die gehörige Auskunft über den Fall geben zu können.

In Venedig hatte man den Grundsatz, die Neigung der Mailänder Seidenspinner in das Gebiet von Bergamo überzusiedeln, zu begünstigen und zu unterstützen und ihnen daselbst also[93] viele Vortheile zu gewähren, vorzüglich aber den, ohne welchen jeder andere nichts ist, die Sicherheit. Sowie aber, zwischen zwei heftig Streitenden, der dritte immer etwas, so wenig es auch sei, gewinnen muß, so wurde es Bartolo im Vertrauen, man weiß nicht von wem, gesteckt, daß Renzo in dem Dorfe dort nicht sicher sei und besser thue, in irgend eine andere Fabrik einzutreten, auch für einige Zeit einen andern Namen anzunehmen. Bartolo verstand den Wink, fragte nicht weiter, sagte schleunigst die Sache dem Vetter, setzte sich in eine leichte Kalesche mit ihm, brachte ihn nach einer Spinnerei, etwa fünfzehn Miglien entfernt, stellte ihn dem Eigenthümer, der ebenfalls aus dem Mailändischen gebürtig und sein alter Bekannter war, unter dem Namen Antonio Rivolta, vor. So schlecht auch die Zeiten waren, so ließ sich dieser doch nicht lange bitten, einen Arbeiter anzunehmen, der ihm als rechtschaffen und tüchtig, von einem ehrenwerthen und geschickten Manne empfohlen wurde. Auch hatte er in der Folge nur Ursache sich über seinen Erwerb zu freuen; wenn es ihm auch anfangs vorkam, als ob der junge Mensch ein wenig schwerhörig sei, denn wenn man ihn Antonio! rief, so antwortete er meistens nicht.

Bald darauf kam von Venedig an den Capitain von Bergamo der Befehl, Nachforschungen anzustellen und Nachricht zu geben, ob in seinem Gerichtsbezirke und namentlich in dem und dem Dorfe der und der Mensch sich aufhalte. Der Capitain stellte seine Nachforschungen an, wie sie von ihm gefordert wurden, fertigte eine verneinende Antwort ab, welche dem Residenten in Mailand zugestellt wurde, der sie an Don Gonzalo Fernandez di Cordova übersandte.

Es fehlte hierauf nicht an Neugierigen, die von Bartolo wissen wollten, warum der Jüngling nicht mehr bei ihm sei und wo er hingegangen. Auf die erste Nachfrage antwortete Bartolo: »ja ... er ist verschwunden«; und um die Zudringlicheren zufrieden zu stellen, ohne sie argwöhnisch über das Wahre der Sache zu machen, speiste er den Einen mit der, den Andern mit jener der von uns oben erwähnten Nachrichten ab; indessen gab er sie auch nur für Gerüchte aus, die er ebenfalls nur vom Hörensagen ohne jegliche bestimmte Nachricht habe.[94]

Als aber die Anfrage im Auftrage des Kardinals, ohne daß man diesen nannte, an ihn erging und mit einer gewissen wichtigen und geheimnißvollen Art zu verstehen gab, daß sie im Namen einer hohen Persönlichkeit gethan würde, verfiel Bartolo in eine noch größere Besorgniß und hielt es nur um so nothwendiger, seine gewöhnlichen Antworten beizubehalten; da es sich um eine hohe Persönlichkeit handelte, so gab er sogar alle die Nachrichten, die er bei verschiedenen Veranlassungen eine nach der andern erdichtet hatte, alle auf einmal ab.

Man glaube indessen nicht, daß ein solcher Herr, wie Don Gonzalo, es wirklich auf den armen Seidenspinner aus dem Gebirge abgesehen hatte; daß er, vielleicht unterrichtet von der Nichtachtung, die derselbe seinem am Halse geketteten Mohrenkönig erwiesen, und von den schlimmen Worten, die er ausgestoßen, ihn dafür büßen lassen wollte, oder daß er Renzo für einen so gefährlichen Menschen gehalten, der auch als Flüchtling noch zu verfolgen, und selbst in der Ferne nicht lebend zu dulden wäre, wie der römische Senat den Hannibal. Don Gonzalo hatte zu wichtige Dinge im Kopfe, um sich viele Gedanken über Renzo's Angelegenheit zu machen, und wenn er es dennoch zu thun schien, so kam dies von einem seltsamen Zusammentreffen von Umständen her, mit denen der arme Junge, ohne es zu wollen und ohne es weder damals noch sonst je zu wissen, durch den feinsten, unsichtbaren Faden mit jenen so großen und wichtigen Dingen zusammenhing.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2, S. 80-95.
Lizenz:
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Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

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