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[280] »Flieht, flieht, junger Mann! Hier ist ein Kloster, dort eine Kirche; hierhin, dorthin«, schreit man unserm Renzo von allen Seiten zu. Was das Entwischen betraf, so bedurfte es seines Entschlusses nicht erst. Vom ersten Augenblicke an, als ihm ein Hoffnungsstrahl leuchtete, aus diesen Klauen zu entkommen, hatte er angefangen zu überlegen und war entschlossen, wenn ihm die Flucht gelänge, so lange zu laufen, bis er nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus dem Herzogthume hinaus wäre. – Es war sein Plan, als Ziel und Zuflucht jenes Dorf im Gebiete von Bergamo zu wählen, wo sich sein Vetter Bartolo niedergelassen, der ihn, wie der Leser sich erinnern wird, wiederholt gebeten hatte, sich dort anzusiedeln. Es kam aber darauf an, den richtigen Weg zu finden. Plötzlich sich in der unbekannten Gegend einer ihm völlig unbekannten Stadt befindend, wußte Renzo nicht einmal, zu welchem Thore er hinaus gehen müsse, um nach Bergamo zu kommen, und wenn er es auch gewußt hätte, kannte er doch wieder den Weg zum Thore nicht. Er stand einen Augenblick still und überlegte, ob er seine Befreier um Nachweis bitten sollte; doch schon in der kurzen Zeit, die ihm geblieben, um über seine Lage nachzudenken, waren ihm über jenen höflichen Schwertfeger, den Vater von vier Kindern, seltsame Gedanken durch den Kopf gegangen; darum wollte er seine Absichten nicht aufs Gerathewohl einem großen Haufen, unter welchem sich wohl noch ein zweiter desselben Schlages befinden konnte, preis geben; er beschloß also, sich eiligst von dort zu entfernen; den Weg konnte er sich auch anderswo nachweisen lassen, wo Keiner wußte, wer er war, oder warum er darnach frage. Er sagte zu seinen Begleitern: »Habt Dank, Kinder, Gott segne euch!« schritt durch die Menge, die ihm bereitwillig Platz gemacht, und lief durch ein schmales Gäßchen, eine kleine Straße hinab, immer im Galopp, ohne zu wissen wohin. Als es ihm schien, daß er weit genug entfernt war, lief er langsamer, um keinen Verdacht zu erregen; er fing an sich hier und da umzusehen,[280] um ein Gesicht, das Vertrauen einflößte, zu entdecken, einen Menschen, an den er seine Frage richten könnte. Aber auch hier traten ihm Schwierigkeiten entgegen. Die Frage an sich war schon verdächtig; die Zeit drängte; die Häscher, kaum aus der kleinen Verlegenheit befreit, mußten ohne Zweifel ihrem Flüchtling auf der Spur sein; das Gerücht dieser Flucht konnte schon bis hierher gedrungen sein und in dieser Bedrängniß mußte Renzo vielleicht zehn physiognomische Urtheile fällen, bevor er das Gesicht fand, welches ihm am tauglichsten für seine Frage schien. Endlich sah er Je mand in Eile ankommen und dachte, daß dieser, der wahrscheinlich ein sehr dringendes Geschäft habe, ihm rasch und ohne Umschweife antworten werde; da er ihn mit sich selbst reden hörte, so schloß er daraus auf einen aufrichtigen Menschen. Er trat auf ihn zu und sagte: »Mit Erlaubniß, mein Herr, welchen Weg muß man einschlagen, um nach Bergamo zu kommen?«
»Nach Bergamo? Zum Thore Orientale hinaus.«
»Ich danke Euch; und wenn man zum Thore Orientale will?«
»Schlagt den Weg da zur Linken ein; der führt Euch auf den Domplatz; und dann ...«
»Genug, Herr, das Uebrige weiß ich. Gott lohn' es Euch.« Damit lief er nach der ihm bezeichneten Richtung. Der Wegweiser sah ihm einen Augenblick nach und indem er in Gedanken sich diese Art des Laufens mit der Frage zusammen zu reimen suchte, sagte er zu sich selbst – entweder hast du eine böse That verübt, oder es will ein Anderer an dir eine ausüben.
Renzo erreichte den Domplatz, schritt quer darüber hin, kam an einem Haufen Asche und verglommenen Kohlen vorüber und erkennt die Ueberbleibsel des Freudenfeuers, bei dem er am vorhergehenden Tage mit Zuschauer gewesen war. Er geht längst den Stufen des Domes hin, sieht den halb zerstörten Krückenofen, der noch von Soldaten bewacht ward, wieder, schlägt die Straße ein, durch welche er gestern mit der Volksmasse gekommen war und gelangt zu dem Kapuzinerkloster; er wirft einen flüchtigen Blick auf den Platz und auf die Kirchthüre und denkt seufzend: – der Mönch gestern hatte mir doch einen guten Rath gegeben, denn ich hätte besser daran gethan, in der Kirche zu warten und mein Gebet[281] zu verrichten. – Als er so einen Augenblick still stand und das Thor aufmerksam ins Auge faßte, durch welches er zu gehen hatte, bemerkte er aus der Ferne, daß viele Leute dabei Wache hielten, und da seine Einbildungskraft schon erhitzt war – was seine natürlichen Gründe bei dem Aermsten hatte, – so empfand er eine gewisse Furcht, sich hindurch zu wagen. Dicht ihm zur Seite befand sich die heilige Zufluchtsstätte, wohin er durch seinen Brief empfohlen war, der ihm gewiß eine gute Aufnahme bewirkt hätte; er fühlte sich stark versucht, hinein zu gehen. Aber er schöpfte sogleich wieder Muth und dachte: – frei wie der Vogel im Walde, so lange es geht. – Wer kennt mich? Die Häscher werden sich doch gewiß nicht in Stücke zerrissen haben, um mir an allen Thoren der Stadt aufzulauern. – Um zu sehen, ob sie nicht etwa hinter ihm her kämen, blickte er zurück, sah aber weder sie noch sonst Jemand, der auf ihn zu achten schien. Er macht sich wieder auf den Weg und zwingt die verwünschten Beine, die immer im Galopp rennen möchten, zu einem langsameren Schritt, wie es sich schickt; so kommt er gemächlich, halblaut pfeifend, am Thore an. Hier war der Ausgang von einem ganzen Schwarm von Zolleinnehmern besetzt, die zur Verstärkung noch eine Schaar spanischer Söldlinge hatten; sie richteten aber ihre ganze Aufmerksamkeit nach außen, um von dem Gesindel, welches bei der Nachricht eines Aufruhrs, wie die Raben nach einem Schlachtfelde, herbei eilt, keinen herein zu lassen. So konnte Renzo, der ganz gleichgültig, mit niedergeschlagenen Augen daher kam und halb das Ansehen eines Wanderers, halb das eines Spaziergängers hatte, ruhig die Thorschwelle überschreiten, ohne daß ihm Einer ein Wort sagte; aber das Herz klopfte ihm dabei hörbar. Er bemerkte zur Rechten einen kleinen Fußpfad, schlug ihn ein, um die Landstraße zu vermeiden, und ging, ohne sich umzusehen, eine gute Strecke vorwärts.
Nachdem er ein Stück Weges auf gut Glück gewandert war, sah er sich gezwungen, um Bescheid zu fragen. Wenn er auch eine gewisse Scheu empfand, das Wort Bergamo herauszubringen, als wenn etwas Verdächtiges, oder dessen er sich zu schämen hätte, damit verbunden wäre, so konnte er doch nicht umhin, es zu thun.[282] Er entschloß sich also, wie er es in Mailand gethan, den Ersten, der des Weges käme und dessen Gesicht ihm Zutrauen einflößte, um Auskunft zu fragen; was auch geschah.
»Ihr seid ganz vom Wege ab«, antwortete ihm dieser; und nachdem er eine Weile nachgedacht, beschrieb er ihm, theils mit Worten, theils mit Geberden, welchen Weg er einschlagen müßte, um wieder auf die Landstraße zu gelangen. Renzo dankte für den Bescheid, und that, als ob er sich darnach richtete, denn er schlug wirklich die ihm bezeichnete Richtung ein, in der Absicht, sich der verwünschten Landstraße zu nähern, sie nicht aus dem Gesichte zu verlieren, und sich so viel als möglich immer in ihrer Nähe zu halten, doch ohne sie selbst zu betreten. Dieser Vorsatz war jedoch schneller gefaßt als ausgeführt. Das Ergebniß war, daß unser Flüchtling, indem er so bald rechts, bald links, wie man so sagt, im Zickzack hin und her ging, den Zurechtweisungen, die er unterwegs erhielt, folgte, sie nach seiner Einsicht verbesserte und nach seiner Absicht benutzte, sich auch theils von den Wegen, auf welchen er sich befand, leiten ließ, endlich zwölf Miglien zurückgelegt hatte, ohne mehr als sechs Miglien von Mailand entfernt zu sein; und was Bergamo betraf, so war es schon genug, daß er sich nicht noch weiter davon entfernt hatte. Er sah also ein, daß er auf diese Weise nicht vorwärts käme, und sann auf irgend einen andern Ausweg. Dabei fiel ihm ein, sich auf eine listige Weise den Namen eines Dorfes zu verschaffen, welches nahe an der Grenze läge und ohne Umstände sich erreichen ließe; indem er sich nach diesem erkundigte, wollte er den Weg, den er einzuschlagen hatte, erfahren, ohne bald hier, bald da die Nachfrage nach Bergemo zu thun, die ihm allzu sehr nach Flucht, Verbannung und Verbrechen zu klingen schien.
So darüber grübelnd, wie er alle diese Nachrichten fischen könnte, ohne sich verdächtig zu machen, sah er an einem einsamen Hause, außerhalb eines Dorfes, einen Schenkwisch hangen. Er fühlte schon seit einiger Zeit die Nothwendigkeit, seine ermatteten Kräfte zu stärken, und dachte, daß hier der Ort sei, der ihm beide Dienste auf einmal leisten könne; er trat hinein. Drinnen war Niemand als eine alte Frau mit dem Rocken neben sich und der[283] Spindel in der Hand. Er forderte einen Bissen zu essen; man bot ihm ein wenig Stracchino und guten Wein an; den Käse nahm er an, für den Wein dankte er (denn der war ihm zum Ekel geworden, weil er ihm den Abend vorher einen so garstigen Streich gespielt hatte). Er setzte sich und bat die Frau, ihn schnell zu bedienen. Diese hatte im Nu aufgetischt, und fing sogleich an, ihren Gast mit Fragen über seine Verhältnisse, wie über die großen Ereignisse in Mailand, von denen die Kunde auch schon bis dahin gelangt war, zu bestürmen. Renzo wußte ihren Fragen schlau auszuweichen; und als die Alte wissen wollte, wohin er seinen Weg nähme, benutzte er ihre Neugierde für seine Absicht.
»Ich muß viele Orte besuchen«, antwortete er »und wenn mir noch Zeit übrig bleibt, so hätte ich auch Lust, einen Abstecher nach dem großen Dorfe zu machen, auf der Straße nach Bergamo, hart an der Grenze, aber noch im Mailändischen ... wie heißt es doch?« – Irgend eins wird doch wohl da herum liegen – dachte er bei sich.
»Gorgonzola meint Ihr«, versetzte die Alte.
»Gorgonzola!« wiederholte Renzo, gleichsam um sich das Wort besser ins Gedächtniß zu prägen. »Ist es sehr weit von hier?« fuhr er fort.
»Ich kann es nicht so genau sagen; es können zehn, auch wohl zwölf Miglien sein. Wäre einer von meinen Söhnen hier, so könntet Ihrs genau erfahren.«
»Was meint Ihr, kann man wohl auf den hübschen Feldwegen hinkommen, ohne die Landstraße einzuschlagen? denn da hat man Staub über Staub! Es ist so lange her, daß es nicht geregnet hat!«
»Ich sollte glauben, ja«, sagte die Alte, »fragt nur in dem ersten Dorfe nach, das rechts auf eurem Wege liegt.« Sie nannte es ihm.
»Schon gut«, sagte Renzo; er stand auf, nahm ein Stück Brod, das ihm von der magern Mahlzeit übrig geblieben war (ein sehr verschiedenes Brod von dem, das er Tags zuvor an der Säule des heiligen Dionysius gefunden), bezahlte die Zeche, ging hinaus und schlug den Pfad rechts ein. Um sich den Weg nicht[284] unnöthig länger zu machen, so fragte er sich von Dorf zu Dorf durch, bis er endlich eine Stunde vor Sonnenuntergang in Gorgonzola anlangte.
Schon unterwegs hatte er beschlossen, hier eine Weile auszuruhen und eine kräftigere Mahlzeit zu sich zu nehmen. Dem ermüdeten Körper wäre auch ein Bett sehr willkommen gewesen, aber ehe Renzo sich diese Ruhe gönnte, wäre er lieber auf der Landstraße todt niedergesunken. Er hatte vor, sich in dem Wirthshause nach der Entfernung der Adda zu erkundigen und wollte bestimmte Nachrichten einziehen, wie man über den Fluß hinüber gelangen könnte, um sich gleich nach der Erholung auf den Weg dahin zu machen.
Kaum hatte er einige Schritte in Gorgonzola gethan, so gewahrte er ein Wirthshausschild; er trat hinein, und forderte von dem Wirth, der ihm entgegen kam, eine Mahlzeit und ein halbes Maß Wein; die vielen Miglien, die er in der Zwischenzeit gemacht, hatten seinen heftigen Widerwillen gegen den Wein gemildert. »Ich bitte Euch, mich schnell zu bedienen«, fuhr er fort, »denn ich muß gleich wieder weiter.« Er sagte dies nicht nur, weil es die Wahrheit war, sondern auch aus Furcht, der Wirth könne sich denken, er wolle die Nacht über in seinem Hause bleiben und würde ihm dann mit Fragen über Namen und Zunamen, Herkunft und Gewerbe auf den Leib rücken.
Der Wirth versprach, ihn gleich zu bedienen und Renzo setzte sich, wie ein armer Sünder, an das Ende des Tisches, dicht an der Thüre.
Im Zimmer befanden sich einige Leute aus dem Dorfe. Sie hatten sich über die wichtigen Neuigkeiten aus Mailand vom vorigen Tage unterhalten und brannten jetzt darauf, zu erfahren, wie die Sache wohl an diesem Tage abgelaufen sei. Die Begier war um so größer, je lebhafter die ersten Nachrichten die Neugierde weckten und reizten; ein Aufstand, der weder unterdrückt, noch siegreich, durch die Nacht mehr ausgesetzt als beendigt worden; eine unterbrochene Sache, eher das Ende eines Aktes als eines Dramas. Einer von diesen Leuten machte sich an den neuen Ankömmling und fragte ihn, ob er von Mailand käme.[285]
»Ich?« sagte Renzo erstaunt, um Zeit zur Antwort zu gewinnen.
»Ja, wenns erlaubt ist zu fragen.«
Renzo schüttelte den Kopf, kniff die Lippen zusammen und stieß einen unartikulirten Laut aus. »Mailand«, sagte er, »nachdem, was ich sagen hörte ... so soll es kein Ort sein, wo Einer jetzt hingehen sollte; wenn ihn nicht etwa die größte Noth dazu zwingt.«
»Also dauert auch heute der Lärm noch fort?« fragte der Neugierige immer zudringlicher.
»Man müßte dort gewesen sein, um es zu wissen«, sagte Renzo.
»Ihr kommt also nicht von Mailand?«
»Ich komme von Liscate«, antwortete der Jüngling kurz hin, der indessen seine Antwort überlegt hatte. Er sagte darin keine Lüge, denn er war durch das Dorf durchgegangen und den Namen hatte er unterwegs von einem Wandersmann erfahren, der ihm dieses Dorf als das erste bezeichnet hatte, durch welches er gehen müsse, um nach Gorgonzola zu kommen.
»Oh!« rief der zudringliche Freund aus, als ob er sagen wollte: du würdest besser daran gethan haben, von Mailand zu kommen, doch Geduld. »Und in Liscate wußte man nichts von Mailand?« fragte er weiter.
»Es ist sehr leicht möglich, daß man dort von der Sache etwas wußte«, antwortete der Bergbewohner, »aber ich habe nichts davon gehört.«
Er äußerte diese Worte auf eine Weise, als wollte er sagen: jetzt ist mirs genug. Der Neugierige kehrte zu seiner Gesellschaft zurück; einen Augenblick später kam der Wirth und trug auf.
»Wie weit ists von hier bis zur Adda?« fragte ihn Renzo halblaut mit scheinbarer Gleichgültigkeit, wie wir diese schon bei verschiedenen Gelegenheiten an ihm bemerkt haben.
»Bis zur Adda, um hinüber zu kommen?« sagte der Wirth.
»So ists ... ja ... bis zur Adda.«
»Wollt Ihr über die Brücke von Cassano, oder meint Ihr die Fähre von Canonica?«[286]
»Wo es ist ... ich frage nur so ... aus Neugierde.«
»Eh, ich wollte es nur wissen, weil das die Stellen sind, wo die ehrlichen Leute hinübergehen, die Leute, die sich ausweisen können.«
»Sehr schön; und wie weit ists bis dahin?«
»Ihr könnt rechnen, daß es zu dem einen, wie bis zu dem andern Punkt ungefähr sechs Miglien sein werden.«
»Sechs Miglien! für so weit hielt ich es nicht!« sagte Renzo, und fuhr gleichgültig fort: »wenn nun Einer schneller hinkommen möchte, giebt es da keinen kürzern Weg?«
»Es wird wohl einen geben«, antwortete der Wirth und sah Renzo mit einem neugierigen und boshaften Blick fest ins Gesicht. Dies reichte hin, daß unserm Jüngling jede andere Frage, die er noch thun wollte, auf der Zunge erstarb. Er zog die Schüssel nach sich, und indem er den Wein ansah, den der Wirth gleichfalls auf den Tisch gestellt hatte, sagte er: »Ist er auch rein?«
»Wie Gold«, sagte der Wirth, »fragt alle Leute im Dorfe und in der Umgegend, die sich darauf verstehen; kostet ihn nur.« Mit diesen Worten trat er zu den andern Gästen hin.
– Die verdammten Wirthe! – dachte Renzo bei sich – je mehr ich ihrer kennen lerne, desto schlimmer finde ich sie. – Nichtsdestoweniger ließ er sich das Essen schmecken und horchte zugleich, ohne es sich merken zu lassen, wie man hier über die Ereignisse dächte, bei welchen er selbst nicht wenig betheiligt war; auch wollte er sich überzeugen, ob unter den Schwätzern hier sich nicht vielleicht ein rechtschaffener Mann befände, den ein armer ehrlicher Junge vertrauensvoll um Auskunft des Weges angehen könne, ohne daß er zu fürchten brauchte, erst seine ganze Lebensgeschichte beichten zu müssen.
»Aber!« hub Einer an, »diesmal scheint es doch, als hätten die Mailänder Ernst machen wollen. Nun, morgen spätestens werden wir etwas mehr wissen.«
»Mich reut es sehr, daß ich heute Morgen nicht nach Mailand gegangen bin«, sagte ein Anderer.
»Wenn du morgen gehen willst, so gehe ich mit«, sprach ein Dritter; »ich auch, ich auch«, sagten mehrere Andere.[287]
»Was ich wissen möchte«, nahm der Erste wieder das Wort, »ob die Herrschaften in Mailand auch wohl an die armen Landleute denken, oder ob sie die Gesetze nur für sich machen. Ihr kennt sie doch, he? die stolzen Bürger, die da denken, sie seien allein auf der Welt.«
»Wir haben auch unsern Mund, nicht bloß um zu essen, sondern auch um unsere Meinung zu sagen«, äußerte ein Anderer mit einer Stimme, die um so bescheidener klang, je verwegener der Ausspruch war; »und wenn die Sache einmal im Gange ist ...« Er hielt es für gerathener, den Satz nicht zu vollenden.
»Verstecktes Getreide liegt nicht bloß in Mailand«, fing ein Mensch an, der finster und tückisch drein schaute. In demselben Augenblick vernahm man den Hufschlag eines nahenden Pferdes. Alle laufen nach der Thür, und kaum haben sie den Herannahenden erkannt, so eilen sie ihm Alle entgegen. Es war ein Kaufmann aus Mailand, der mehrere Male des Jahres in Geschäften nach Bergamo reiste und gewöhnlich die Nacht in diesem Wirthshause zubrachte; da er fast immer dieselbe Gesellschaft dort fand, so war er mit Allen bekannt geworden. Alle machten sich um ihn zu schaffen; der Eine faßt den Zügel, der Andere den Steigbügel. »Willkommen, willkommen!«
»Gott grüß euch.«
»Ist die Reise gut abgelaufen?«
»Recht gut; und ihr hier, wie geht es euch?«
»Gut, gut. Was bringt Ihr Neues aus Mailand?«
»Eh, seht mir doch die Neugierigen!« sagte der Kaufmann, stieg ab und übergab das Pferd einem jungen Burschen. »Und am Ende«, fuhr er fort, indem er mit der Gesellschaft in das Haus trat, »und am Ende wißt ihr vielleicht schon mehr davon als ich.«
»Nein, wahrhaftig, wir wissen noch gar nichts«, sagte mehr als Einer und legte die Hand dabei auf die Brust.
»Ist es möglich?« sagte der Kaufmann. »Nun ihr werdet Gutes ... und Schlimmes zu hören bekommen. Heda, Wirth, mein Bett steht doch leer? Gut, einen Becher Wein, und mein gewohntes Abendessen; geschwind, denn ich will mich zeitig niederlegen, um morgen mit dem Frühsten wieder fort zu kommen,[288] damit ich zu Mittag in Bergamo bin. Und ihr«, fuhr er fort und ließ sich am andern Ende des Tisches nieder, Renzo gegenüber, der ruhig da saß, »ihr habt also gar nichts von den Teufelsgeschichten gehört, die gestern ausgeübt sind?«
»Von gestern, ja, davon haben wir gehört.«
»Nun da wißt ihr ja, was es Neues giebt!« versetzte der Kaufmann. »Ich sagte es gleich; ihr steht hier immer auf der Lauer und mustert Jeden, der hier durch muß ...«
»Aber heute, wie ist es heute hergegangen?«
»Ah heute. Von heute wißt ihr nichts?«
»Nicht das Mindeste; es ist noch Niemand hier durchgekommen.«
»Laßt mich erst die Lippen anfeuchten; und dann will ich euch die heutigen Geschichten erzählen. Ihr werdet staunen.« Er füllte den Becher, nahm ihn in die rechte Hand, hob mit den beiden ersten Fingern der linken den Schnauzbart in die Höhe, trank und fuhr fort, »heute, lieben Freunde, fehlte wenig und der Tag wurde noch stürmischer wie gestern. Es scheint mir fast unglaublich, daß ich jetzt hier sitze und mit euch schwatze, denn ich hatte schon jeden Gedanken an die Reise aufgegeben; ich wollte daheim bleiben, um meine Habseligkeiten zu bewachen.«
»Was Teufel war denn los?« rief einer der Zuhörer.
»Der Teufel war los, hört zu.« Und indem er das Fleisch, das vor ihm stand, schnitt und sich schmecken ließ, fuhr er in seiner Erzählung fort. Die Gesellschaft stand um den Tisch herum und hörte mit offenem Munde zu; Renzo, der eben seine letzten Bissen verzehrte, saß scheinbar theilnahmlos da, und doch hörte er vielleicht mit größerer Aufmerksamkeit zu, als alle Andern.
»Die Schurken also, die gestern den entsetzlichen Lärm gemacht haben, fanden sich heute Morgen auf den verabredeten Posten wieder ein; – sie waren miteinander im Einverständniß und Alles war schon vorbereitet – sie rotteten sich zusammen und fingen dieselbe Geschichte wieder an, zogen von Straße zu Straße und schrien das Volk heran. Als sie glaubten, daß Leute genug beisammen seien, brachen sie nach dem Hause des Herrn Proviantverwalters auf, als ob sie mit den Grausamkeiten, die[289] sie gestern an dem würdigen Herrn verübt, noch nicht genug hätten. O die Schurken! Und was sie für Lügen gegen ihn hervorbrachten! gegen diesen braven, pünktlichen Herrn! ich kann das wohl sagen, denn ich bin ihm ergeben und ich liefere ihm das Tuch für die Livree seiner Dienerschaft. Sie brachen also nach seinem Hause auf; man mußte das schuftige Gesindel sehen, was für Gesichter! denkt euch, sie zogen auch an meinem Laden vorbei; was für Gesichter! ... die Juden in der Via Crusis sind nichts dagegen. Und die Reden, die sie ausstießen! Man hätte sich die Ohren zustopfen mögen, wenn's nicht gefährlich gewesen wäre, die Schelme auf sich aufmerksam zu machen. Sie gingen also mit der guten Absicht um, zu plündern; aber ...« Und hier hob er die linke Hand in die Höhe, spreizte die Finger auseinander und hielt die Spitze des Daumens an die Nasenspitze.
»Aber?« riefen fast alle Zuhörer zugleich aus.
»Aber«, fuhr der Kaufmann fort, »sie fanden die Straßen mit Wagen und Balken verrammelt und hinter der Barricade stand eine schöne Reihe Soldaten mit geladenen Flintenbüchsen, um auf sie los zu feuern, wie sie es verdienten. Als sie diese Vorbereitung gewahr wurden ... Was hättet ihr wohl gethan?«
»Zurückgegangen.«
»Richtig; so machten sie's auch. Aber seht einmal, ob sie nicht vom Teufel besessen waren. Sie stehen auf dem Cordusio, sie sehen den Ofen vor sich, den sie schon gestern hatten plündern wollen; und was geschah in dem Bäckerladen? Man theilte das Brod an die Kunden aus; und es standen Edelleute dabei aus den edelsten Geschlechtern, um darüber zu wachen, daß alles in guter Ordnung bliebe; die Kerle aber ... der Teufel war in sie gefahren, wie ich schon sagte, und der war's auch, der sie anstachelte ... wie wüthende Stiere in den Laden hinein; nimmst du, ich nehme auch und in einem Nu Edelleute, Bäcker, Kunden, Brode, Kasse, Bänke, Backtröge, Kasten, Säcke, Mehlbeutel, Kleie, Mehl, Teig, Alles zu unterst zu oberst.«
»Und die Soldaten?«[290]
»Die Soldaten hatten das Haus des Proviantverwalters zu schützen; Niemand kann zweien Herren dienen. Die Sache war im Nu abgemacht, sage ich euch; sie stahlen, was sie nur stehlen konnten. Darnach machen sie es auch wie gestern, schleppen die Ueberbleibsel auf den Platz und zünden ein Freudenfeuer daraus an. Schon fingen die Hallunken an heraus zu schleppen, als ein noch ärgerer Hallunke, rathet einmal, mit was für einem Vorschlag herausrückte.«
»Nun?«
»Alles zu einem Haufen in dem Laden zusammen zu werfen, und Haus und Haufen in Brand zu stecken. Gesagt, gethan ...«
»Sie haben's wirklich in Brand gesteckt?«
»Geduld. Einem rechtschaffenen Manne, der dabei stand, gab der Himmel einen guten Gedanken ein. Er lief hinauf in die Stuben, suchte ein Crucifix, fand es, hing es an einen Fensterbogen, nahm vom Kopfende eines Bettes zwei geweihte Kerzen, zündete sie an, und stellte sie auf das Fensterbrett, rechts und links vom Crucifix. Das Volk schaut hinauf. – Aber in Mailand, das muß man sagen, ist noch immer Gottesfurcht. – Sie gingen in sich, die Meisten, will ich sagen; es waren zwar Teufelskerle darunter, die aus Raubgier sogar das Paradies in Brand gesteckt hätten; wie sie aber sahen, daß das Volk anders gesinnt war, mußten sie davon abstehen und sich ruhig verhalten. Nun rathet einmal, wer ganz unverhofft dazu kam. Alle Domherren in Prozession, mit dem Kreuze, in Chorkleidern; und der ehrwürdige Herr Erzbischof fing auf der einen Seite an zu predigen und der ehrwürdige Herr Beichtvater auf der andern und nach ihnen wieder Andere: Aber lieben Leute! was habt ihr vor? Ist das das Beispiel, das ihr euren Kindern gebt? geht nach Hause; ihr sollt wohlfeiles Brod haben; geht und seht, die Taxe ist an den Ecken angeschlagen.«
»War es wahr?«
»Teufel! Glaubt ihr, daß die ehrwürdigen Domherren in großem Ornate aufziehen, um Possen zu reißen?«
»Und was that das Volk?«
»Es verlief sich nach und nach; sie traten an die Straßenecken, und, wer lesen konnte, der fand wirklich die Taxe angeschlagen.[291] Stellt euch vor, ein Soldobrod zu acht Unzen Gewicht.«
»Welches Glück!«
»Das Glück blüht, wenn's nur lange dauert. Wißt ihr, wie viel Mehl sie zwischen gestern und heute Morgen vergeudet haben? Zwei Monate hätte das Herzogthum davon erhalten werden können.«
»Und für uns hier außen haben sie gar kein Gesetz gegeben?«
»Was für Mailand geschehen ist, das ist alles auf Kosten der Stadt geschehen. Was soll ich euch sagen: für euch wird geschehen, was Gott will. Ein Glück, daß der Lärm ein Ende hat; noch habe ich euch nicht Alles erzählt; jetzt kommt erst das Gute.«
»Was giebt's denn noch weiter?«
»Gestern Abend oder heute früh, gleichviel, sind viele von den Aufwiegelern festgenommen worden und es ist auch gleich bekannt gemacht, daß sie an den Galgen kommen. Kaum verbreitete sich das Gerücht, so machte Jeder, daß er nach Hause kam, um nicht auch festgenommen zu werden. Als ich Mailand verließ, glich es einem Mönchskloster.«
»Werden sie sie wirklich hängen?«
»Warum nicht! und das gleich«, antwortete der Kaufmann.
»Und was wird das Volk thun?« fragte derselbe, der die vorige Frage gethan hatte.
»Das Volk? das wird zusehen«, sagte der Kaufmann. »Sie hatten so große Lust, einen Christenmenschen unter freiem Himmel sterben zu sehen, daß sie, die Schurken! dem Herrn Proviantverwalter den Garaus machen wollten. Statt seiner werden sie nun vier Schelme haben, mit allen Formalitäten bedient, von den Kapuzinern und von der Brüderschaft ›des guten Todes‹ begleitet; es sind Kerle, die es verdient haben. Ihr seht, es giebt eine Vorsehung; es mußte so kommen. Sie hatten schon eine wahre Lust daran, in die Läden einzubrechen und sich zu nehmen, was da war, ohne in den Geldbeutel zu greifen; hätte man sie schalten und walten lassen, so wäre nach dem Brode der Wein an die Reihe gekommen, und so Eins nach dem Andern ... Ihr könnt euch selbst denken, ob die Schelme einen so bequemen Gebrauch[292] freiwillig hätten abschaffen wollen. Ich kann euch versichern, für einen rechtschaffenen Mann, der ein offenes Geschäft führt, war die Geschichte keine Kleinigkeit.«
»Gewiß«, sagte einer der Zuhörer. »Gewiß, gewiß«, stimmten die Andern mit ein.
»Und die Geschichte war schon seit lange im Werke«, fuhr der Kaufmann fort und wischte sich den Bart mit dem Tischtuch, »es war eine Verschwörung, wißt ihr?«
»Es war also eine Verschwörung?«
»Ja, eine Verschwörung. Lauter Kabalen von den Navarresern angestiftet und von dem Kardinal da in Frankreich, ihr wißt ja, wen ich meine, der so einen halb türkischen Namen hat und der täglich auf neue Streiche sinnt, um die Krone Spaniens zu ärgern. Aber vor allem hat er es auf Mailand abgesehen; denn er weiß recht gut, der Fuchs, daß hier die Stärke des Königs steckt.«
»Wahrhaftig.«
»Wollt ihr den Beweis sehen? Wer das größte Geschrei gemacht hat, das waren Fremde; es trieben sich Gesichter herum, die sich in Mailand noch niemals hatten blicken lassen. Da hätte ich eben bald vergessen, euch noch eine Geschichte zu erzählen, die ich für ganz gewiß gehört habe. Die Gerechtigkeit hatte in einem Wirthshause Einen erwischt.« – Renzo, der nicht eine Sylbe von dem Gespräch verloren, wurde bei der Berührung dieser Seite von Schauder ergriffen und schrak zusammen, ehe er noch daran dachte, sich zu beherrschen. Niemand hatte indessen darauf geachtet, und der Redner sprach weiter, ohne seine Erzählung zu unterbrechen – »man weiß noch nicht recht, aus welcher Gegend er ist, wer ihn abgeschickt hat, oder was für eine Art Kerl er eigentlich ist; auf jeden Fall aber war er ein Aufwiegeler. Schon gestern hatte er im größten Getümmel sich wie der Teufel geberdet und damit noch nicht zufrieden, hatte er noch angefangen zu predigen und auch so einen hübschen Vorschlag auf's Tapet gebracht, denn die vornehmen Herren sollten Alle abgeschlachtet werden. Der Schurke! Wovon sollten die armen Leute wohl leben, wenn sie die hohen Herren todtschlügen? Die Gerechtigkeit, die hinter[293] ihm her war, packte ihn aber auch; sie fanden eine Menge Briefe bei ihm und steckten ihn ins Gefängniß; aber was geschah? Seine Spießgesellen, die bei dem Wirthshause Wache hielten, liefen Alle herbei und befreiten ihn, den Hallunken.«
»Und was ist aus ihm geworden?«
»Man weiß es nicht; er wird sich aus dem Staube gemacht haben; oder sitzt noch in Mailand versteckt. Solche Kerle haben weder Dach noch Fach und finden überall ein Loch, worin sie sich verkriechen können; jedoch nur so lange, als der Teufel ihnen helfen kann und will; ehe sie sich's versehen, laufen sie auch einmal an; denn wenn der Apfel reif ist, fällt er zur Erde. Für jetzt weiß man gewiß, daß die Gerechtigkeit die Briefe an sich genommen hat und daß der ganze Anschlag darin steht; und es heißt, daß Viele darin verwickelt sind, die übel wegkommen werden.«
Unserm Renzo war sein ganzes Abendessen zu Gift geworden. Es däuchten ihm tausend Jahre ehe er aus dem Wirthshause, aus dem Dorfe hinauskam; mehr als zehnmal sagte er zu sich selbst: fort, fort! Aber die Besorgniß, Verdacht zu erregen, die immer mehr zunahm, beherrschte alle seine Gedanken und hielt ihn auf der Bank wie festgenagelt.
»Eben deshalb«, sagte Einer aus dem Haufen, »weil ich schon weiß, wie diese Geschichten ablaufen und daß ehrliche Leute immer schlecht dabei wegkommen, darum habe ich mich nicht von der Neugierde verleiten lassen, sondern bin ruhig zu Hause geblieben.«
»Nun, habe ich mich etwa gerührt?« sagte ein Anderer.
»Ich?« fügte ein Dritter hinzu, »wenn ich zufällig gerade in Mailand gewesen wäre, ich hätte jedes Geschäft im Stich gelassen und würde schnell wieder heim gelaufen sein. Ich habe Weib und Kind; und die Wahrheit zu sagen, ich mache mir aus dem Lärm nichts.«
In diesem Augenblick ging der Wirth, der ebenfalls ein aufmerksamer Zuhörer gewesen, an das andere Ende des Tisches, um nach dem Fremden zu sehen. Renzo ergriff die Gelegenheit, winkte den Wirth zu sich heran, bat um die Rechnung, bezahlte sie, ohne zu knausern, obgleich in seiner Börse Ebbe war, und ging, ohne[294] ein Wort zu sagen, zur Thür hinaus. Unter dem Schutze der Vorsehung schlug er die entgegengesetzte Richtung des Weges ein, auf dem er gekommen.
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