Vierundzwanzigstes Kapitel.

[36] Lucia war noch nicht lange wieder zu sich gekommen; einige Zeit war sie bemüht gewesen, sich völlig zu ermuntern, die trüben Erscheinungen des Schlafes von den Erinnerungen und Bildern der Wirklichkeit zu scheiden, die dem schweren Traum eines Fieberkranken nur allzu ähnlich sah. Die Alte hatte sich ihr aber sogleich genähert und sagte mit erzwungener Freundlichkeit: »Ei, Ihr habt geschlafen? Ihr hättet ja in dem Bette schlafen können; ich habe es Euch gestern Abend doch so oft gesagt.« Und da sie keine Antwort erhielt, fuhr sie in einem halb ärgerlichen, halb bittenden Tone fort: »Eßt doch; nehmt Vernunft an; hu, wie garstig seid Ihr! Ihr müßt essen. Hernach, wenn Er heimkehrt, soll ich's wohl ausbaden?«

»Nein, nein, ich will fort von hier, ich will zu meiner Mutter. Der Herr hat es mir versprochen, er hat gesagt: morgen früh. Wo ist der Herr?«[36]

»Er ist ausgegangen; er hat mir aber gesagt, daß er sehr bald wiederkehren und daß er Alles thun wird, was Ihr wollt.«

»Hat er das gesagt? hat er das gesagt? Nun wohl, ich will zu meiner Mutter, gleich, gleich.«

Und horch! in dem Augenblicke vernimmt man im Nebenzimmer Fußtritte; dann ein Pochen an die Thür. Die Alte läuft hinzu und fragt: »Wer ist da?« »Mach auf«, antwortete leise die bekannte Stimme. Die Alte schiebt den Riegel zurück; der Ungenannte drückt leicht gegen die Thür, öffnet ein wenig, befiehlt der Alten herauszukommen und läßt sogleich Don Abbondio mit der guten Frau hineintreten. Dann lehnt er die Thür wieder an, bleibt nicht weit davon stehen und schickt die Alte nach einem entfernten Theil des Schlosses, wie er auch schon die andere Frau, die draußen Wache hielt, fortgeschickt hatte.

Dieser ganze Vorgang, der Augenblick der Erwartung, das erste Erscheinen neuer Personen verursachten Lucia eine neue heftige Gemüthsbewegung, denn war ihr gegenwärtiger Zustand auch unerträglich, so mußte doch jede Veränderung sie mit neuem Verdacht und Entsetzen erfüllen. Sie blickte hin, sah einen Pfarrer, eine Frau – sie faßte ein wenig Muth – sieht genauer hin – ist er es oder ist ers nicht? Sie erkennt Don Abbondio und sieht ihn, wie verzaubert, mit starren Blicken an. Die Frau tritt zu ihr hin, bückte sich zu ihr nieder, und indem sie sie mitleidig ansah, nahm sie ihre beiden Hände, sowohl um sie zu liebkosen, als sie aufzurichten und sagte zu ihr: »O arme Kleine! kommt, kommt mit uns.«

»Wer seid Ihr?« fragte Lucia. Ohne jedoch die Antwort abzuwarten, wandte sie sich wieder nach Don Abbondio hin, der zwei Schritte davon gleichfalls mit mitleidiger Miene dastand; sie sah ihn abermals fest an und rief: »Sie! Sind Sie es? der Herr Pfarrer? Wo sind wir? .... O ich Arme! ich bin nicht bei Sinnen!«

»Nein, nein«, antwortete Don Abbondio, »ich bin es wirklich; faßt Muth. Seht Ihr? Wir sind hier, um Euch mit uns zu nehmen. Ich selbst, euer Pfarrer, bin ausdrücklich hierher gekommen, geritten ....«[37]

Als hätte sie mit einem Male alle ihre Kräfte wieder erlangt, sprang Lucia plötzlich auf; dann heftete sie die Blicke nochmals auf die beiden Gesichter und sagte: »Es ist also die heilige Jungfrau, die euch gesandt hat.«

»Ich glaube es selbst«, sagte die gute Frau.

»Aber können wir fortgehen, können wir wirklich fortgehen?« fing Lucia mit entmuthigter Stimme und argwöhnischen Blicken wieder an. »Und alle diese Leute ...?« fuhr sie mit vor Angst und Schrecken bebenden Lippen fort: »Und der Herr hier ...! der Mann .... er hatte mir wohl versprochen ....« »Auch er ist mit uns gekommen«, sagte Don Abbondio, »er wartet hier draußen. Eilen wir; einen solchen Mann darf man nicht warten lassen.«

Jetzt aber trat der, von welchem die Rede war, zur Thür herein. Lucia, die kurz zuvor ihn ersehnt hatte, da sie nur auf ihn ihre Hoffnung gesetzt, konnte sich jetzt, nachdem sie befreundete Gesichter gesehen und befreundete Stimmen gehört hatte, eines plötzlichen Schauders nicht erwehren; sie fuhr zusammen, hielt den Athem an, klammerte sich an die gute Frau und verbarg das Gesicht an deren Busen. Bei dem Anblick des Mädchens, welches er schon am Abend vorher nicht zu betrachten vermocht hatte, bei dem Anblick der Unglücklichen, die jetzt durch die Verlängerung ihrer Leiden und durch die Entbehrung noch bleicher, bekümmerter und gebrochener vor ihm stand, blieb der Ungenannte fast an der Thüre stehen, und als er diese Geberde des Schreckens sah, schlug er die Augen nieder und stand noch einen Moment stumm und unbeweglich da; hierauf antwortete er auf Worte, welche die Aermste nicht gesagt hatte: »Es ist wahr«, rief er aus, »verzeiht mir!«

»Er kommt, um Euch zu befreien, er ist nicht mehr derselbe, er ist ein guter Mann geworden; hört Ihr, wie er Euch um Verzeihung bittet?« flüsterte die gute Frau Lucia ins Ohr.

»Kann man noch mehr sagen? Auf, den Kopf in die Höhe; seid kein Kind; laßt uns geschwind gehen«, sagte Don Abbondio zu ihr. Lucia erhob den Kopf, blickte den Ungenannten an, und als sie seine gesenkte Stirn und seinen verwirrten niedergeschlagenen Blick sah, ergriff sie ein Gefühl der Hoffnung, in das sich[38] Dankbarkeit und Mitleid mischte. »Ach, gnädiger Herr«, sagte sie, »Gott lohne es Ihnen mit seiner Barmherzigkeit!«

»Und Euch lohn' er tausend Mal die Wohlthat, die mir diese eure Worte erzeigen.«

Nach diesen Worten wandte der Ungenannte sich um, schritt nach der Thür und ging zuerst hinaus. Neu belebt folgte ihm Lucia am Arm der guten Frau; Don Abbondio ging hinterdrein. Sie stiegen die Treppe hinab und kamen an die Thür, die nach dem Hofe führte. Der Ungenannte schloß sie auf, ging nach der Sänfte, öffnete den Schlag, und mit einer fast ängstlichen Höflichkeit – zwei neue Dinge an ihm – reichte er Lucia den Arm, half ihr hineinsteigen und dann ebenfalls der guten Frau. Darauf band er das Maulthier Don Abbondio's los und war auch ihm behülflich, es zu besteigen.

»O welche Herablassung!« sagte dieser und bestieg sein Thier weit leichter als das erste Mal. Sobald auch der Ungenannte im Sattel saß, setzte sich der Zug in Bewegung. Seine Stirn war nicht mehr zu Boden gesenkt, sein Blick hatte den gewohnten, gebieterischen Ausdruck wieder angenommen. Die Bravi, die sich am Wege befanden, sahen auf seinem Gesicht wohl die Spuren eines heftigen Gedankens, eines ungewöhnlichen Beschlusses, weiter aber vermochten sie nichts davon zu begreifen. Man wußte auf dem Schlosse noch nichts von der großen Umwandlung dieses Mannes; und von selbst würde gewiß Niemand darauf gefallen sein.

Die gute Frau hatte sogleich die Vorhänge der Sänfte zugezogen, und nachdem sie liebevoll Lucia's Hände gefaßt, war sie bemüht, sie durch zärtliche Worte voll Theilnahme zu trösten. Als sie sah, wie außer der Erschöpfung von so vielen erlittenen Drangsalen, die Verwirrung und die Dunkelheit der Begebenheiten die Aermste nicht dazu kommen ließen, sich ganz dem seligen Gefühle ihrer Befreiung hinzugeben, sagte sie ihr, was sie nur irgend Zweckmäßiges ersinnen konnte, um, so zu sagen, ihr schwaches Gedächtniß wieder in Gang zu bringen. Sie nannte ihr das Dorf, wohin sie jetzt gingen.[39]

»Ja?« sagte Lucia, welche wußte, daß es nicht weit von dem ihrigen entfernt lag. »Ach heilige Jungfrau, ich danke dir! Meine Mutter! Meine Mutter!«

»Wir wollen sogleich nach ihr schicken«, sagte die gute Frau, die nicht wußte, daß es bereits geschehen war.

»Ja, ja; möge Gott es Euch lohnen .... Und Ihr, wer seid Ihr? Wie seid Ihr hierher gekommen ....«

»Unser Pfarrer hat mich abgeschickt«, sagte die gute Frau, »denn dem Herrn hier hat Gott das Herz gerührt – Er sei gepriesen – und er ist in unser Dorf gekommen, um mit dem Herrn Kardinal Erzbischof zu sprechen – der heilige Mann besucht uns eben drunten – da hat er seine schweren Sünden bereut und will sein Leben ändern. Er hat dem Kardinal gesagt, er habe ein armes unschuldiges Mädchen, das Ihr seid, rauben lassen, im Einverständnisse mit einem andern gottlosen Menschen, den mir der Pfarrer nicht hat nennen können.«

Lucia erhob die Augen zum Himmel.

»Ihr werdet ihn vielleicht kennen«, fuhr die gute Frau fort, »genug, der Herr Kardinal hat gedacht, da es sich um ein junges Mädchen handele, so bedürfe man einer Frau zu ihrer Begleitung und hat dem Herrn Pfarrer aufgetragen, eine herbeizuschaffen, und der Herr Pfarrer, der gütige Herr, ist zu mir gekommen ....«

»O, der Herr im Himmel vergelte Euch euer Mitleid!«

»Was sagt Ihr dazu, armes Kind? Und der Herr Pfarrer hat mir auch gesagt, ich soll Euch Muth machen, ich solle Euch sogleich wieder aufzurichten suchen und Euch begreiflich machen, wie Gott Euch so wunderbar errettet hat ....«

»Ach ja, sehr wunderbar, auf die Fürbitte der heiligen Jungfrau.«

»Seid also guten Muthes und vergebt dem, der Euch Böses zugefügt hat; seid froh, daß Gott ihm Barmherzigkeit widerfahren läßt, und betet für ihn; Ihr thut ein gutes Werk und euer Herz wird sich dadurch erleichtert fühlen.« Lucia antwortete mit einem Blicke, der ihre Zustimmung beredter ausdrückte, als es Worte vermocht hätten.[40]

»Gutes Mädchen!« rief die Frau, »und da auch euer Pfarrer sich in unserm Dorfe befand – denn es sind ihrer so viele, so viele da aus der ganzen Umgegend, daß man vier Hochämter zugleich mit ihnen abhalten könnte – so hat der Herr Kardinal für gut befunden, auch ihn zur Begleitung mitzuschicken; er hat freilich nicht viel bei der Sache genützt. Ich hatte es auch schon sagen hören, daß er ein Feigling sei, und bei dieser Gelegenheit habe ich es ganz genau gesehen, daß er unbeholfener ist, wie ein Küchlein im Werg.«

»Und der ....« fragte Lucia, »der, welcher gut geworden ist .... wer ist er?«

»Wie? das wißt Ihr nicht?« sagte die gute Frau und nannte ihn. »O Barmherzigkeit!« rief Lucia. Wie oft hatte sie diesen Namen in mehr als einer Geschichte mit Abscheu wiederholen hören, in welcher er immer wie Einer aus der Hölle geschildert wurde. Und jetzt, da sie daran dachte, in der Gewalt dieses Unmenschen gewesen zu sein, durch dessen frommen Schutz sie jetzt gesichert war, da sie an die gräßliche Gefahr und an ihre so wunderbare Rettung dachte, an den Mann, dessen Angesicht ihr erst so finster, dann so bewegt und herablassend erschienen war, saß sie wie verzaubert da und rief nur von Zeit zu Zeit: »O Barmherzigkeit!«

»Wahrhaftig, es ist eine große Barmherzigkeit!« sagte die gute Frau, »es wird eine große Beruhigung für die halbe Welt sein. Wenn man bedenkt, wie viele Leute er in Angst und Schrecken hielt; und jetzt, wie mir unser Pfarrer gesagt hat .... man braucht ihm nur ins Gesicht zu sehen, ist er ein Heiliger geworden! Man sieht es auch schon an seinen Werken.«

Wenn wir sagen wollten, die gute Frau hätte nicht eine gewaltige Neugierde empfunden, das große Abenteuer, in dem sie eine Rolle spielte, ein wenig näher zu kennen, so würde es nicht die Wahrheit sein. Aber wir müssen es ihr zum Ruhme nachsagen, daß sie, von einem achtungsvollen Mitleid mit Lucia ergriffen und gewissermaßen den Ernst und die Würde des ihr anvertrauten Amtes fühlend, nicht einmal daran dachte, eine unbescheidene, müßige Frage zu thun; alles, was sie auf der Reise[41] sprach, waren nur Worte des Trostes und der Theilnahme für das arme Mädchen.

»Gott weiß, seit wie lange Ihr nicht gegessen habt!«

»Ich erinnere mich nicht mehr .... es ist eine Weile her.«

»Armes Kind! Ihr bedürft einer Erquickung« »Ja«, antwortete Lucia mit schwacher Stimme.

»In meinem Hause werden wir, Gott sei Dank! gleich etwas vorfinden. Faßt nur Muth, wir sind bald da.«

Lucia sank matt, wie von Schlaf überwältigt, in den Hintergrund der Sänfte zurück, und die gute Frau störte sie in ihrer Ruhe nicht.

Für Don Abbondio war dieser Rückweg sicherlich nicht so angstvoll, als der Hinweg kurz zuvor; nichtsdestoweniger war auch dieser keine Vergnügungsreise. Sobald die erste gräßliche Furcht ein wenig nachgelassen, war ihm zuerst ganz leicht zu Muthe gewesen; es dauerte jedoch nicht lange, so begannen hundert verschiedene Verdrießlichkeiten in seiner Seele aufzusteigen, gleich wie da, wo ein großer Baum ausgerissen worden, das Erdreich einige Zeit frei bleibt, bald aber sich ganz und gar mit Unkraut bedeckt. Er war überdies für alles empfindlicher geworden, und es fehlte ihm sowohl in der Gegenwart, wie in den Gedanken an die Zukunft durchaus nicht an Stoff, sich zu quälen. Er empfand jetzt weit mehr als auf dem Hinritt das Unbequeme dieser Art zu reisen, an die er nicht gewohnt war; besonders im Anfange, wo es von dem Schlosse in das Thal hinunter ging. Der Sänftenführer ließ auf einen Wink des Ungenannten seine Thiere tüchtig vorwärts traben; die beiden Maulthiere, die hinterdrein gingen, hielten gleichen Schritt mit ihnen, woraus folgte, daß an gewissen steileren Stellen der arme Don Abbondio, wie von hinten in die Höhe gehoben, nach vornhin überfiel; um sich zu erhalten, mußte er sich mit der Hand am Sattel fest klammern, und doch wagte er nicht darum zu bitten, daß es langsamer ginge; andererseits wünschte er auch, so bald als möglich aus der Gegend heraus zu sein. Ueberdies schien das Maulthier, nach Gewohnheit dieser Thiere, wie zum Trotze, wo der Weg an einem Abhange hinlies sich immer nach der Außenseite[42] hin zu halten und die Füße gerade auf den Rand zu setzen, und Don Abbondio sah fast senkrecht unter sich einen Sprung, oder, wie er meinte, einen Abgrund. Auch du – sagte er für sich zu dem Thiere – hast die verwünschte Lust, Gefahren aufzusuchen, wo wir einen so breiten Weg haben! – Er zog den Zügel nach der andern Seite, doch vergebens, so daß er, nachdem er sich heimlich genug geärgert und geängstigt hatte, sich wie gewöhnlich von der Willkür anderer leiten ließ. Die Bravi jagten ihm jetzt keinen so großen Schrecken mehr ein, da er genauer wußte, wie der Gebieter gesinnt war. Aber – überlegte er trotzdem – wenn die Kunde von dieser großen Bekehrung sich unter ihnen verbreitet, während wir noch hier sind, wer weiß, wie sie dieselbe aufnehmen werden? Wer weiß, was geschieht! Können sie nicht auf den Gedanken fallen, ich sei gekommen, den Heidenbekehrer zu spielen? O ich Aermster! sie machen mich zum Märtyrer! – Das finstere Gesicht des Ungenannten beruhigte ihn nicht. – Um diese Fratzen hier im Zaume zu halten – dachte er – dazu gehört etwas mehr, das begreife sogar ich; aber warum mußte es gerade mich treffen, unter diese Kerle zu gerathen? –

Genug; man erreichte den Fuß der Anhöhe und kam endlich auch aus dem Thale hinaus. Die Stirn des Ungenannten glättete sich nach und nach. Auch Don Abbondio nahm eine natürlichere Haltung an; reckte den Kopf etwas mehr über die Schultern hinaus, rührte Arme und Beine und fing an ein wenig gerader im Sattel zu sitzen, was ihm ein ganz anderes Ansehn gab, er holte tiefere Athemzüge und mit beruhigterem Gemüthe machte er sich daran, andere noch entferntere Gefahren zu überdenken. – Was wird das Vieh, der Don Rodrigo, sagen? So mit langer Nase abziehen zu müssen, mit Schimpf und Spott, man kann sich denken, ob ihm das bitter schmecken wird. Jetzt wird er ganz und gar des Teufels werden. Laß sehen, ob er nicht auch mit mir anbinden wird, weil ich mich mit bei dieser Ceremonie befunden habe. Hat er früher den Muth gehabt, jene beiden Teufelskerle loszulassen, daß sie mir einen solchen Streich spielten, so weiß der Himmel, was er nun thun wird! Mit Seiner Gnaden kann er es nicht aufnehmen, denn der steht gar zu hoch über ihm, gegen den wird er[43] seinen Aerger herunterschlucken müssen. Hat er aber das Gift erst im Leibe, so wird er seinen Zorn auch gegen irgend Jemand auslassen wollen. Und was kommt bei solchen Geschichten heraus? Es setzt Hiebe, daß die Fetzen fliegen. Lucia wird natürlich von Seiner Gnaden in Sicherheit gebracht werden; der andere arme, übelberathene Kerl ist aus der Schußlinie und hat auch schon sein Theil weggekriegt; ich würde also das Bad ausbaden müssen. Es wäre doch aber eine Grausamkeit, wenn ich nach so vielen Unbequemlichkeiten, so vielen Gemüthsbewegungen, unverdienterweise die Strafe dafür erleiden sollte. Was wird Seiner Gnaden jetzt wohl zu meiner Vertheidigung thun, nachdem er mich so in die Dinte gebracht hat? Kann er mir dafür bürgen, daß mir der verdammte Mensch nicht einen noch schlimmern Streich spielt, als den ersten? Er hat so viele Dinge im Kopf! Läßt sich auf so viele Händel ein! Wie kann man da auf alles Acht haben? Man läßt dann oftmals die Dinge in der Verworrenheit stecken. Wer Gutes thut, der thut es um des Guten willen, hat er diese Befriedigung erreicht, so ist er befriedigt und mag sich nicht weiter um alle die Folgen bekümmern. Wer hingegen seine Lust am Bösen hat, der verwendet mehr Ausdauer darauf, ist bis zuletzt hinterher, gönnt sich keine Ruhe, weil der Wurm einmal an ihm nagt. Darf ich aber wohl aussagen, daß ich auf ausdrücklichen Befehl Seiner Gnaden und nicht aus freiem Antriebe hierher gekommen bin? Es würde scheinen, als wollte ich es mit der Ruchlosigkeit halten. O heiliger Himmel! Ich es mit der Ruchlosigkeit halten! Sie belustigt mich auch so sehr! Genug; das Beste wird sein, ich erzähle Perpetua die Sache, wie sie ist und lasse dann Perpetua sorgen, sie in Gang zu bringen. Wenn nur dem hochwürdigen Herrn nicht etwa die Grille ankommt, von der Sache etwas in die Oeffentlichkeit zu bringen, ohne Noth irgend ein öffentliches Schauspiel daraus zu machen und auch mich mit hineinzuziehen. Nun, wenn er bei unserer Ankunft aus der Kirche schon wieder zurück ist, so gehe ich hin und mache ihm Hals über Kopf meinen Bückling; ist er noch nicht zurück, so hinterlasse ich meine Entschuldigungen und gehe schnurstracks nach Hause. Lucia ist gut aufgehoben; man bedarf meiner hier nicht mehr, und nach[44] so vielem Ungemach kann ich wohl Ansprüche auf Ruhe machen. Und dann .... könnte nicht vielleicht auch den hochwürdigen Herrn die Neugierde plagen, die ganze Geschichte zu erfahren, und an mir ist's dann, von der Heirathsangelegenheit Rechenschaft abzulegen! Weiter fehlte nichts. Und wenn er nun gar auf meinem Kirchspiele einen Besuch macht? .... O was wird das werden! Doch ich will mich nicht vor der Zeit ängstigen; ich habe schon genug gewehklagt. Für jetzt schließe ich mich in meinem Hause ein. So lange der hochwürdige Herr in dieser Gegend verweilt, wird Don Rodrigo nicht so dreist sein, Tollheiten zu begehen. Und dann .... Und dann? Ach! ich sehe, ich werde meine letzten Lebensjahre schlecht verbringen! –

Der Zug kam an, als der Gottesdienst noch nicht zu Ende war; er ging mitten durch dieselbe Menge, welche nicht weniger bewegt war, als das erste Mal; darauf trennte man sich. Die beiden Reiter wendeten sich seitwärts nach einem kleinen Platze, in dessen Hintergrunde das Haus des Pfarrers stand; die Sänfte nahm ihren Weg nach dem Hause der guten Frau.

Don Abbondio that, wie er sich vorgenommen hatte. Kaum von seinem Thiere herabgestiegen, bezeigte er dem Ungenannten die allergebensten Höflichkeiten und bat, ihn bei dem hochwürdigen Herrn zu entschuldigen; er müsse stehenden Fußes, dringender Geschäfte wegen, nach seiner Pfarrei zurückkehren. Darauf holte er das, was er seinen Gaul nannte, das heißt, seinen Stock, den er in einer Ecke des Vorzimmers hatte stehen lassen, und machte sich auf den Weg. Der Ungenannte wartete, bis der Kardinal aus der Kirche zurückkehrte.

Die gute Frau ließ Lucia auf den besten Platz in ihrer Küche niedersetzen, beeilte sich, ihr etwas Erquickendes zu bereiten, indem sie mit einer gewissen herzlichen Derbheit die Danksagungen und Entschuldigungen ablehnte, welche diese alle Augenblicke hervorbrachte.

In aller Geschwindigkeit legte sie trockene Reiser unter einen Kessel, worin ein fetter Kapaun schwamm, ließ ihn in der Brühe kochen, goß sie in einen Napf, worein sie schon Brodscheiben geschnitten, und setzte sie dann Lucien vor. Indem sie das arme[45] Mädchen mit jedem Löffel mehr und mehr zu Kräften kommen sah, wünschte sie sich mit lauter Stimme selber Glück, daß die Sache gerade an einem Tage vorgefallen, an dem, wie sie sagte, die Katze nicht auf dem Herde sitze. »Heute beeifert sich ein Jeder, eine Kleinigkeit zu machen«, fügte sie hinzu, »nur die armen Leute nicht, die sich kümmerlich von Wickenbrod und Polenta sättigen müssen; indessen hoffen sie heute von einem so menschenfreundlichen Herrn Alle etwas zu erhaschen. Wir sind, Dank dem Himmel, nicht in diesem Fall; bei dem Handwerk meines Mannes und mit dem Wenigen, was wir haben, schlagen wir uns durch. Laßt es Euch nur schmecken, der Kapaun wird auch gleich so weit sein, und daran sollt Ihr Euch noch besser stärken.« Mit diesen Worten besorgte sie das Mittagsessen und deckte den Tisch.

Als Lucia wieder etwas bei Kräften und ruhigeren Gemüthes war, schickte sie sich an, aus Gewohnheit, aus einem natürlichen Hange zur Sauberkeit und Sittsamkeit, ihren Anzug in Ordnung zu bringen; sie befestigte die aufgegangenen und losen Flechten und zog ihr Tuch auf der Brust und um den Hals herum zurecht. Indem sie dies that, verwickelten sich ihre Finger in dem Rosenkranze, den sie in der Nacht vorher umgehängt hatte; ihr Blick fiel darauf; ein augenblicklicher Aufruhr entstand in ihrem Gemüthe – die Erinnerung an das Gelübde, bisjetzt von so vielen neuen Eindrücken unterdrückt und erstickt, erwachte plötzlich wieder und trat klar und bestimmt hervor. Da wurden alle kaum wieder belebten Kräfte ihrer Seele auf einmal von neuem überwältigt, und wäre diese Seele nicht durch ein Leben in Unschuld, voll Ergebung und Vertrauen so gerüstet gewesen, so würde die Niedergeschlagenheit, die sie in diesem Augenblick empfand, in Verzweiflung übergegangen sein. Nach einem Sturm von solchen Gedanken, die keine Worte finden, waren die ersten, die sich in ihrem Geiste bildeten – O ich Aermste, was hab' ich gethan! –

Kaum aber hatte sie diese Worte gedacht, so empfand sie eine Art Schrecken darüber. Alle Umstände des Gelübdes fielen ihr wieder ein, die unerträgliche Todesangst, die Verzweiflung an aller menschlichen Hülfe, die Inbrunst des Gebets, die Fülle der Empfindung, mit welcher das Gelübde gethan war. Und das[46] Gelübde bereuen, nachdem ihr die erflehte Gnade zu Theil geworden, kam ihr wie eine Entheiligung, eine Undankbarkeit, wie ein Treubruch an Gott und der Jungfrau vor; es schien ihr, als müßte eine solche Treulosigkeit ein neues, noch schrecklicheres Mißgeschick ihr zuziehen, in welchem sie auch sogar vom Gebete nichts mehr hoffen könnte; und so verleugnete sie schnell diese augenblickliche Reue. Andächtig nahm sie den Rosenkranz vom Halse, hielt ihn in der zitternden Hand empor, bestätigte und erneuerte das Gelübde und bat zugleich mit inbrünstiger Demuth, es möge ihr die Kraft verliehen werden, es zu erfüllen; es mögen ihr die Gedanken und die Veranlassungen erspart werden, die ihr Gemüth, wenn auch nicht erschüttern, doch allzu sehr quälen würden. Renzo's Entfernung, ohne irgend eine Wahrscheinlichkeit der Rückkehr, diese Entfernung, die sie bisher so bitter empfunden hatte, schien ihr jetzt eine Fügung der Vorsehung zu sein, die beide Ereignisse zu einem einzigen Zwecke hätte geschehen lassen, und so bemühte sie sich, in dem Einen Trost für das Andere zu finden. Hinterher bildete sie sich auch noch ein, daß dieselbe Vorsehung, um ihr Werk zu vollbringen, auch die Mittel zu finden wüßte, daß auch Renzo sich darin ergebe, nicht mehr daran dächte .... Aber kaum hatte eine solche Vorstellung in ihrer Seele Eingang gefunden, so kehrte sie darin das Unterste zu oberst. Die arme Lucia fühlte, daß ihr Herz von neuem bereuen wollte, und sie nahm ihre Zuflucht zum Gebet, zu neuen Bestätigungen; sie erhob sich aus diesem Kampfe, wenn man uns diesen Ausdruck durchgehen läßt, wie der müde, verwundete Sieger über einen niedergeworfenen Feind, ich sage nicht einen getödteten.

Plötzlich lassen sich Fußtritte und ein Lärm von fröhlichen Stimmen hören. Es war die kleine Familie, die aus der Kirche zurückkehrte; zwei kleine Mädchen und ein Knabe sprangen herein; sie standen einen Augenblick still und warfen einen neugierigen Blick auf Lucia, dann liefen sie zu der Mama und stellten sich um sie herum. Die Eine fragt nach dem Namen des unbekannten Gastes, wie und warum; die Andere will von den gesehenen Wunderdingen erzählen; die gute Frau antwortet ihnen auf alles mit einem »stille, stille.«[47]

Darauf tritt mit ruhigerem Schritte, aber mit fröhlichem Gesichte der Hausherr herein. Er war, wenn wir es noch nicht gesagt haben, der Schneider des Dorfes und der Umgegend; ein Mann, der lesen konnte, der wirklich mehr als einmal die Legenden der Heiligen und die Geschichte der Könige von Frankreich durchgelesen hatte, und der in diesen Dingen für einen begabten und gelehrten Mann galt, welches Lob er jedoch sehr bescheiden zurückwies, indem er nur sagte, er habe seine Bestimmung verfehlt; denn wenn er, statt so vieler Anderer, sich an das Studiren gemacht hätte ....! Dabei der beste Mensch von der Welt. Er war zugegen gewesen, als der Pfarrer seine Frau zu der menschenfreundlichen Reise aufforderte, und hatte nicht nur sogleich seine Einwilligung dazu gegeben, sondern er würde ihr auch noch Muth dazu gemacht haben, wenn es nöthig gewesen wäre. Jetzt, als der Gottesdienst, die festlichen Aufzüge, das Hinzuströmen der vielen Menschen und vor Allem die Predigt des Kardinals alle seine guten Gefühle, so zu sagen, noch erhöhten, kehrte er voller Erwartung schnell nach Hause zurück und war begierig, zu erfahren, wie die Sache abgelaufen und ob die arme Unschuldige gerettet wäre.

»Seht einmal da«, sagte bei seinem Eintritte die gute Frau zu ihm, indem sie auf Lucia deutete, welche über und über roth ward, aufstand und eine Entschuldigung hervorstammelte. Er aber ging auf sie zu, begrüßte sie sehr herzlich, und rief: »Willkommen, willkommen! Ihr seid ein Segen des Himmels für dieses Haus. Wie froh bin ich, Euch hier zu sehen! Ich dachte mir schon, daß Ihr glücklich im Hafen angekommen wäret; denn ich habe noch nie gefunden, daß der Herrgott ein Wunder angefangen hat, ohne es gut zu enden; aber ich bin froh, Euch hier zu sehen! Armes Mädchen! Es ist aber doch eine große Sache, durch ein Wunder erhalten zu sein!«

Man glaube nicht, daß der Schneider der Einzige war, der dies Ereigniß dafür hielt, weil er die Legendensammlung gelesen hatte; im ganzen Dorfe und in der ganzen Umgegend sprach man, so lange das An denken sich daran erhielt, in keinen andern Ausdrücken davon; und, die Wahrheit zu sagen, mit den Nebenumständen,[48] die sich daran knüpften, gebührte ihm auch kein anderer Name.

Indem er sich bedächtig seiner Frau näherte, die eben den Kessel vom Feuerherde nahm, sagte er heimlich zu ihr: »Ist alles gut gegangen?«

»Vortrefflich; hernach will ich dir alles erzählen.«

»Ja, ja, mit Muße.«

Nachdem die Hausfrau schnell aufgetischt hatte, holte sie Lucia, führte sie an den Tisch, ließ sie niedersitzen und legte ihr einen Flügel von dem Kapaun vor; sie und der Mann nahmen gleichfalls Platz und Beide nöthigten ihren niedergeschlagenen und verschämten Gast, dreist zuzuessen. Der Schneider fing schon bei den ersten Bissen an mit großer Begeisterung das Wort zu führen, nicht ohne Unterbrechung der Kinder, die, um den Tisch herumstehend, ihr Mittagsessen verzehrten, und die in Wahrheit zu viel ungewöhnliche Dinge gesehen hatten, um auf die Dauer nur die Rolle der Zuhörer zu spielen. Er beschrieb die Feierlichkeiten und sprang darauf im Gespräche zu der wunderbaren Bekehrung über. Was aber den meisten Eindruck auf ihn gemacht hatte und worauf er immer wieder zurückkam, war die Predigt des Kardinals.

»Wenn man ihn so vor dem Altare stehen sieht«, sagte er, »einen solchen Herrn, gleich einem Pfarrer ....«

»Und das goldene Ding, das er auf dem Kopfe hatte ....« sagte eines von den kleinen Mädchen.

»Schweig still. Wenn man bedenkt, sage ich, daß ein solcher Herr und ein so gelehrter Mann, der, wie sie sagen, alle Bücher gelesen hat, die es giebt, was noch kein Anderer fertig gebracht hat, auch sogar in Mailand nicht; wenn man bedenkt, daß ein solcher Mann sich herabläßt, in einer Weise zu reden, daß ihn Alle verstehen ....«

»Ich habe ihn auch verstanden«, sagte die andere kleine Schwätzerin.

»Schweig still! Was willst denn du verstanden haben?«

»Ich habe verstanden, daß er das Evangelium an Stelle des Herrn Pfarrers erklärt hat.«[49]

»Schweig still. Ich rede nicht von dem, der etwas gelernt hat, denn da ist's Schuldigkeit; aber auch die beschränktesten Köpfe, die Unwissendsten konnten der Rede folgen. Geht jetzt einmal hin und fragt, ob sie die Worte wiederholen können, die er gesprochen; ja wohl, auch nicht ein einziges können sie wieder herausfischen; aber den Sinn, den haben sie behalten. Und ohne, daß er jenen Herrn nannte, konnte man's doch sehr gut verstehen, daß er von ihm reden wollte! Man brauchte ihn nur zu beobachten, wie ihm die Thränen in den Augen standen. Da fingen alle Leute an zu weinen ....«

»Es ist wirklich wahr«, brach der Kleine los, »aber warum weinten sie denn Alle so wie die Kinder?«

»Schweig still. Und trotzdem, daß es harte Herzen in diesem Dorfe giebt. Und er hat recht klar gezeigt, wie man bei aller Theuerung noch dem lieben Herrgott zu danken hat; ein Jeder müsse thun, was er kann, fleißig sein, Einer dem Andern helfen und dann zufrieden sein. Denn das Unglück bestehe nicht im Leiden und in der Armuth, sondern im Bösesthun. Und das sind nicht blos schöne Redensarten; denn man weiß, daß er selber wie ein armer Mann lebt und sich den Bissen Brod vom Munde abspart, um ihn den Hungrigen zu geben, obgleich er das Leben besser als sonst Jemand genießen könnte. Ja, so ein Mann weiß zu erbauen, wenn man ihn reden hört; nicht wie so viele Andere: Thut nach meinen Worten, aber nicht nach meinen Thaten. Und dann hat er auch so recht gezeigt, daß auch diejenigen, die nicht zu den Vornehmen gehören, sobald sie mehr haben als sie brauchen, ebenfalls verpflichtet sind, es mit dem Nothleidenden zu theilen.«

Hier unterbrach er sich selbst in seiner Rede wie von einem Gedanken überrascht. Er sann einen Augenblick nach, legte dann von den Speisen, die auf dem Tische standen, auf einen Teller, fügte ein Brod hinzu, that den Teller in eine Serviette, nahm diese bei den vier Zipfeln und sagte zu dem älteren Mädchen: »Hier nimm.« In die andere Hand gab er ihr ein Fläschchen Wein und fügte hinzu: »Geh zur Wittwe Maria, bring' ihr diese Sachen und sag' ihr, sie solle sich's mit ihren Kinderchen gut schmecken lassen. Aber mit guter Manier, verstehst du? damit es[50] nicht aussieht, als gäbst du ihr ein Almosen. Und sage nichts davon, wenn dir Jemand begegnet, und gieb Acht, daß du nichts zerbrichst.«

Lucia traten die Thränen in die Augen, und sie empfand in ihrem Herzen eine wohlthuende Rührung; auch hatte sie schon durch das Gespräch vorher eine solche Erleichterung erhalten, als ihr eine eigentliche Trostrede niemals hätte geben können. Von den Beschreibungen, von der Vorstellung des festlichen Zuges, von der Gewalt der Frömmigkeit und der Bewunderung angezogen und von der Begeisterung des Erzählers selbst mit fortgerissen, riß sich ihre Seele von den eigenen schmerzlichen Gedanken los, und wenn sich diese ihrer auch wieder bemächtigten, so fühlte sie sich stärker gegen sie. Selbst der Gedanke an das große Opfer hatte zwar von seiner Bitterkeit noch nichts verloren, aber es mischte sich in diese zugleich eine gewisse ernste, feierliche Freude.

Kurz darauf trat der Pfarrer des Dorfes ein und sagte, er sei vom Kardinal geschickt, um sich nach Lucia zu erkundigen und ihr anzuzeigen, daß Seine Hochwürden sie an diesem Tage noch sehen wolle; dem Schneider und dessen Frau sagte er in dessen Namen vielen Dank. Gerührt und verwirrt fanden alle Drei keine Worte, um auf die Herablassung eines solchen Mannes etwas zu erwiedern.

»Und eure Mutter ist noch nicht angekommen?« sprach der Pfarrer zu Lucia.

»Meine Mutter!« rief Lucia aus. Als ihr der Pfarrer darauf sagte, daß er auf den Befehl des Erzbischofs nach ihr geschickt habe, nahm sie die Schürze vor die Augen und brach in lautes Weinen aus, das noch eine Weile fortdauerte, nachdem der Pfarrer sich schon wieder entfernt hatte. Als endlich die stürmischen Gefühle, welche bei dieser Nachricht in ihr erregt worden waren, ruhigeren Gedanken wieder Platz machten, erinnerte sich die Arme, daß dieser jetzt so nahe Trost, ihre Mutter wiederzusehen, ein noch vor wenig Stunden kaum gehoffter Trost, gleichfalls in den Stunden der Angst inbrünstig von ihr erfleht und gleichsam wie eine Bedingung bei dem Gelübde gestellt worden war. Laß mich gerettet zu meiner Mutter zurückkehren,[51] hatte sie gesagt, und diese Worte kamen ihr jetzt deutlich wieder ins Gedächtniß zurück. Sie befestigte sich jetzt mehr denn je in dem Vorsatze, ihr Versprechen zu halten, und machte sich von neuem bittre Vorwürfe über jenes »O ich Aermste!« das ihr im ersten Augenblicke entschlüpft war.

Agnese war wirklich, als man von ihr sprach, nicht mehr weit entfernt. Man kann sich leicht denken, wie der armen Frau bei der so unerwarteten Aufforderung und bei der unvollständigen und verworrenen Nachricht von einer, man kann sagen, vorübergegangenen, aber doch entsetzlichen Gefahr zu Muthe wurde, bei einem so fürchterlichen Ereigniß, welches der Bote weder umständlicher zu erzählen, noch zu erklären vermochte, und für dessen Verständniß sie selbst nichts hatte, woran sie sich halten konnte. Nachdem sie sich mit den Händen in die Haare gefahren, nachdem sie ein Mal über das andere »Ach Herrgott! Ach heilige Jungfrau!« ausgerufen hatte, nachdem sie an den Boten die mannichfachsten Fragen gethan, auf welche dieser nichts zu antworten wußte, war sie Hals über Kopf in den Wagen gestiegen, indem sie auch unterwegs nicht aufhörte, laut zu jammern und vergeblich zu fragen. Aber an einer gewissen Stelle war sie Don Abbondio begegnet, der sehr bedächtig näher kam, indem er bei jedem Schritt seinen Stock vorsetzte. Nach einem Ausrufe des Erstaunens von beiden Seiten war er stehen geblieben, ließ sie anhalten, und sie war ausgestiegen; beide waren dann abseits in ein Kastanienwäldchen getreten, das dicht am Wege lag.

Don Abbondio hatte ihr von Allem, was er erfahren und gesehen, Bescheid gegeben. Aufgeklärt war die Sache damit noch nicht, Agnese aber war wenigstens über Lucia's Rettung in keinem Zweifel mehr und athmete wieder auf.

Don Abbondio war darauf zu einem andern Gespräche übergegangen, in welchem er ihr viele gute Lehren gab: wie sie sich gegen den Erzbischof zu benehmen hätte, wenn dieser, wie es zu erwarten stand, sie und ihre Tochter zu sprechen wünschte, und daß sie vor Allem kein Wort von der Trauung fallen lassen sollte .... Da Agnese aber merkte, daß der gute Mann nur um seines eigenen Vortheils willen redete, hatte sie ihn stehen lassen,[52] ohne ihm etwas zu versprechen, oder zu beschließen, denn ihr lagen ganz andere Dinge im Sinn; und sie hatte sich wieder auf den Weg gemacht.

Endlich langte der Wagen an und hielt vor dem Hause des Schneiders still. Lucia springt auf, Agnese steigt aus und stürzt hinein; beide liegen einander in den Armen. Die Frau des Schneiders, die allein sich gegenwärtig befand, spricht ihnen Muth zu, beruhigt sie, freut sich mit ihnen und läßt sie dann, bescheiden wie sie war, allein, indem sie sagt, sie wolle ihnen ein Bett zurecht machen. »Ich habe Betten«, sagte sie im Hinausgehen, »wenn das aber auch nicht wäre, so wollte ich sowohl als mein Mann lieber auf der Erde schlafen, als daß wir unsere lieben Gäste für die Nacht sich ein anderes Unterkommen suchen ließen.«

Als die erste Freude des Wiedersehens sich durch Umarmungen und Schluchzen Luft gemacht hatte, wollte Agnese die Begebenheiten Lucia's wissen, und diese schickte sich ängstlich an, sie zu erzählen. Aber es war eine Geschichte, wie der Leser weiß, über die Niemand im Klaren war, denn sie enthielt selbst für Lucia dunkle, durchaus unerklärliche Thatsachen. Und hauptsächlich das verhängnißvolle Zusammentreffen mit der schrecklichen Kutsche, die sich gerade in dem Augenblicke dort auf der Straße befand, als Lucia in einem so ungewöhnlichen Falle vorüberging. Mutter und Tochter stellten hundert Vermuthungen darüber an, ohne der Wahrheit auch nur im geringsten auf die Spur zu kommen.

Was den Urheber des schändlichen Anschlages betraf, so konnte die Eine wie die Andere nicht umhin zu glauben, daß es Don Rodrigo sei.

»O die schwarze Seele! der Höllenbrand!« rief Agnese aus, »aber auch seine Stunde wird kommen. Gott der Herr wird ihm nach Verdienst lohnen und dann wird auch er erfahren .....«

»Nein, nein, liebe Mutter, nein!« fiel ihr Lucia ins Wort, »wünscht ihm keine Leiden, wünscht sie Niemand! Wenn Ihr wüßtet, was leiden heißt! Wenn Ihr es erfahren hättet! Nein, nein! Wir wollen lieber zu Gott und der Jungfrau für ihn beten, daß Gott ihm das Herz rühre, wie er es dem andern armen[53] Herrn gerührt hat, der schlimmer als er war, und der jetzt ein Heiliger ist.«

Der Schauder, den Lucia empfand, zu so frischen und grausamen Erinnerungen sich zurückzuwenden, ließ sie mehr als einmal mitten im Erzählen inne halten; mehr als einmal gestand sie, sie habe den Muth nicht, fortzufahren und kam nach vielen Thränen erst mit Mühe wieder zu Worten. Aber eine ganz andere Empfindung ließ sie bei einer gewissen Stelle in ihrer Erzählung inne halten, nämlich als sie an das Gelübde kam. Die Furcht, von der Mutter als unbesonnen und übereilt gescholten zu werden, oder daß diese, wie sie es bei der Trauungsangelegenheit gethan, mit irgend einem guten, nicht allzugewissenhaften Rathe zum Vorschein käme und ihn durchsetzen wollte, oder daß die gute Frau irgend einem Andern die Sache im Vertrauen erzählte, wenn auch nur um sich Licht und Rath zu verschaffen, und sie so unter die Leute brächte, woran schon der bloße Gedanke Lucien das Blut in die Wangen trieb, außerdem ein gewisses Schamgefühl, ein unerklärlicher Widerwille, sich selbst gegen die Mutter darüber auszulassen; alle diese Dinge zusammen bewirkten, daß sie diesen wichtigen Umstand ganz und gar verschwieg, indem sie sich vornahm, sich erst dem Pater Cristoforo anzuvertrauen. Aber wie ward ihr, als sie auf die Frage nach ihm die Antwort erhielt, daß er nicht mehr da sei, daß man ihn sehr, sehr weit fortgeschickt habe, an einen Ort, der Gott weiß wie heiße!

»Und Renzo?« sagte Agnese. »Ist in Sicherheit, nicht wahr?« fragte Lucia ängstlich.

»Das ist gewiß, denn Alle sagen es; man nimmt an, daß er sich nach dem Bergamaskischen begeben habe; aber den eigentlichen Ort weiß Niemand anzugeben, und bis jetzt hat er noch nichts von sich hören lassen. Gewiß hat sich noch keine Gelegenheit dazu gefunden.«

»Ach, wenn er nur gerettet ist, so sei der Herr gelobt!« sagte Lucia und suchte das Gespräch auf etwas Anderes zu bringen, als dasselbe durch eine unerwartete Neuigkeit unterbrochen ward, durch die Erscheinung des Kardinal-Erzbischofs.[54]

Aus der Kirche zurückgekehrt, wo wir ihn verlassen haben, hörte Federigo von dem Ungenannten Lucia's glückliche Ankunft. Man ging zu Tische und der Bekehrte saß zur Rechten des Bekehrers, rings von Priestern umgeben, die nicht satt werden konnten, das so ohne Schwäche gezähmte, ohne Erniedrigung gedemüthigte Antlitz zu betrachten und mit der Vorstellung zu vergleichen, die sie sich seit langer Zeit von dieser Persönlichkeit gemacht hatten.

Als die Tafel zu Ende war, hatten sie sich Beide wieder zurückgezogen. Nach einer Unterredung, die weit länger als die erste währte, war der Ungenannte auf demselben Maulthiere, das ihn am Morgen getragen, nach seinem Schlosse zurückgeritten; und der Kardinal hatte den Pfarrer rufen lassen und ihm gesagt, er wünsche nach dem Hause geführt zu werden, wo Lucia untergebracht worden sei.

»O, hochwürdiger Herr«, hatte der Pfarrer geantwortet, »bemühen Sie sich nicht; ich will sogleich hinschicken und das Mädchen holen lassen, nebst der Mutter, wenn sie schon angekommen ist; auch die Wirthsleute, wenn es Euer Hochwürden wollen; Alle, die Euer Gnaden wünschen.«

»Ich wünsche sie selbst aufzusuchen«, hatte der Kardinal erwiedert.

»Euer Gnaden dürfen sich durchaus nicht bemühen, ich schicke auf der Stelle zu ihnen hin, es ist im Augenblick geschehen«, hatte der unbedachtsame Pfarrer – sonst ein braver Mann – darauf bestanden, indem er nicht einsah, daß der Kardinal mit diesem Besuche dem Unglücke, der Unschuld, der Gastfreundschaft und seinem eigenen Amte zugleich eine Ehre erzeigen wollte. Da aber der Vorgesetzte den nämlichen Wunsch nochmals zu erkennen gab, so verbeugte sich der Untergebene und ging ab.

Als die beiden Personen sich auf der Straße sehen ließen, lief Alles, was da stand, nach ihnen hin und in wenig Augenblicken strömten von allen Seiten Leute herbei, die sie umringten und ihnen in dichtgedrängter Menge folgten. Der Pfarrer stand still und rief: »Fort da, zurück, entfernt euch, schnell! schnell!« Federigo aber sagte zu ihm: »Laßt, laßt sie« und schritt weiter,[55] bald die Hand erhebend, um die Leute zu segnen, bald sie niedersenkend, um die kleinen Kinder zu liebkosen, die ihm zwischen die Füße kamen. So langten sie bei dem Hause an und traten hinein; die Menge blieb dicht aufgepflanzt draußen stehen. Unter ihr befand sich auch der Schneider, der ebenfalls, wie die Andern mit unverwandten Augen und offenem Munde hinterher gelaufen war, ohne zu wissen, wohin es ginge. Sowie er aber sah, wohin es ging, machte er sich Platz, man denke sich mit welchem Lärm, indem er ein Mal über das andere schrie: »Laßt durch, wer durch muß« und trat ein.

Agnese und Lucia hörten ein Gesumse auf der Straße, das immer näher kam; während sie noch darüber nachdachten, was es sein könnte, sahen sie die Thür weit aufgehen und den Herrn in Purpur mit dem Pfarrer erscheinen.

»Ist es diese?« fragte der Erste den Zweiten, und auf ein bejahendes Zeichen ging er auf Lucia zu, die, wie die Mutter, vor Ueberraschung und Scham sprachlos und unbeweglich dastand. Aber der Ton der Stimme, das Antlitz, der Anstand und vor Allem die Worte Federigo's hatten sie bald wieder ermuthigt. »Armes Mädchen,« begann er, »Gott hat zugelassen, daß Ihr eine schwere Prüfung zu bestehen hattet; zugleich aber hat er Euch gezeigt, daß er sein Auge nicht von Euch abgewendet, Euch nicht vergessen. Er hat Euch errettet; zu einem großen Werke hat er sich eurer bedient, um Einem eine große Gnade angedeihen zu lassen und zugleich Viele aufzurichten.«

Hier erschien die Hausfrau in der Stube, welche auch bei dem Geräusch an das Fenster oben getreten war, und da sie sah, wer zu ihr in das Haus trat, lief sie Hals über Kopf, nachdem sie ihren Anzug ein wenig zurechtgerückt hatte, die Treppe hinab; fast in demselben Augenblick trat auch der Schneider zu einer andern Thür herein. Da sie sahen, daß das Gespräch im Gange war, traten sie Beide seitwärts in eine Ecke, wo sie mit großer Ehrfurcht stehen blieben. Der Kardinal begrüßte sie sehr artig, fuhr fort mit den Frauen zu sprechen und ließ unter die Tröstungen hin und wieder eine Frage mit einfließen, um zu sehen, ob sich aus ihren Antworten nicht irgend etwas über ihre Lage erfahren ließe,[56] um der Armen, die so viel gelitten hatte, eine Wohlthat zu erweisen.

»Alle Priester müßten wie Euer Gnaden sein, müßten es ein wenig mit den armen Leuten halten, nicht aber mithelfen, sie in schlimme Händel zu bringen, um sich selber herauszuziehen«, sagte Agnese, von dem herablassenden, liebreichen Benehmen Fede rigo's ermuthigt und in ihrem Innern aufgebracht, daß der Herr Don Abbondio, nachdem er die Andern immer aufgeopfert hatte, sie auch noch verhindern wollte, ihrem Aerger über ihn in einer Klage gegen einen Höhern Luft zu machen, da ein seltener Zufall die Gelegenheit dazu bot.

»Sagt nur Alles, was Ihr denkt«, ermuthigte sie der Kardinal, »sprecht frei heraus.«

»Ich wollte blos sagen, wenn unser Herr Pfarrer seine Pflicht gethan hätte, so wäre die Sache nicht so gekommen.«

Da jedoch der Kardinal von neuem in sie drang, sich deutlicher zu erklären, gerieth sie nach und nach in Verlegenheit, indem sie nun eine Geschichte erzählen sollte, in welcher auch sie eine Rolle gespielt hatte, wie dieselbe, besonders einem solchen Manne, nicht gut mitgetheilt werden konnte. Es gelang ihr indessen, auf gutem Wege damit zurecht zu kommen; sie erzählte von der festgesetzten Trauung, von der Weigerung Don Abbondio's, verschwieg den Vorwand dem Vorgesetzten nicht, welchen er zum Vorschein gebracht hatte – o Agnese! – und sprang dann zu dem Anschlage Don Rodrigo's über, und wie sie, davor gewarnt, hätten entfliehen können. »Ei ja«, fügte sie schließlich hinzu, »entfliehen, um von neuem in die Falle zu gerathen. Wenn dagegen der Herr Pfarrer aufrichtig mit uns umgegangen wäre und meine armen Kinder gleich getraut hätte, so wären wir gleich alle zusammen heimlich auf die Reise gegangen, weit fort, an einen Ort, wo es sogar die Luft nicht einmal verrathen hätte. So haben wir die Zeit verloren und es ist draus entstanden, was entstanden ist.«

»Der Herr Pfarrer wird mir Rechenschaft von diesem Vorfalle geben«, sagte der Kardinal.

»Nein, nein, Herr, nein«, rief Agnese schnell, »deswegen hab ich's nicht gesagt: schelten Sie ihn nicht, denn was geschehen ist,[57] ist geschehen; und es könnte auch nichts mehr helfen; es ist einmal so seine Art, und wenn der Fall wieder einträte, würde er es gerade ebenso machen.«

Lucia aber, nicht zufrieden mit dieser Art, die Geschichte zu erzählen, fügte hinzu, »auch wir haben Unrecht gethan; man sieht, es war nicht der Wille des Herrn, daß die Sache gelingen sollte.«

»Welches Unrecht habt Ihr thun können, armes Mädchen?« sagte Federigo.

Ungeachtet der finstern Blicke, die ihr die Mutter verstohlen zuzuwerfen suchte, erzählte Lucia die Geschichte von dem Versuche, den sie in Don Abbondio's Haus gemacht hatten, und schloß mit den Worten: »Wir haben Unrecht gethan, und Gott hat uns gezüchtigt.«

»Nehmt aus seiner Hand die Leiden, die Ihr erduldet habt, und seid getrost«, sagte Federigo, »denn wer hat Ursache sich zu freuen und zu hoffen, als wer gelitten hat und darauf denkt, sich selbst anzuklagen?«

Er fragte darauf, wo der verlobte Bräutigam sich befände, und da er von Agnese hörte – Lucia stand stumm mit gesenktem Kopfe und niedergeschlagenen Augen – daß er aus seiner Heimat vertrieben sei, bezeigte der Kardinal sein Erstaunen und seinen Unwillen und verlangte den Grund zu wissen.

Agnese erzählte, so gut es ging, das Wenige, was sie von Renzo's Geschichte wußte.

»Ich habe von diesem jungen Menschen schon sprechen gehört«, sagte der Kardinal; »aber wie konnte ein Mensch, der in solche Händel verwickelt war, der Mann von einem solchen Mädchen werden wollen?«

»Er war ein rechtschaffener Jüngling«, sagte Lucia erröthend, aber mit fester Stimme.

»Er war ein nur zu ruhiger Bursche«, fügte Agnese hinzu, »und darnach können Sie fragen, wen Sie wollen, auch den Herrn Pfarrer. Wer weiß, was für Kabalen sie ihm dort unten gespielt haben? Es gehört nicht viel dazu, arme Leute als Schurken hinzustellen.«[58]

»Das ist nur zu wahr«, sagte der Kardinal, »ich werde mich ganz gewiß nach ihm erkundigen.« Er ließ sich Vor- und Zuname des Jünglings nennen und schrieb sie sogleich in ein Büchelchen auf. Dann setzte er hinzu, er gedächte sich in wenig Tagen nach ihrem Dorfe zu begeben, Lucia könnte dann ohne Furcht hinkommen, unterdessen würde er auf eine sichere Zufluchtsstätte für sie bedacht sein, bis Alles wieder, so gut als möglich, ausgeglichen wäre.

Hierauf wandte er sich zu den Hausleuten, die sogleich näher kamen, wiederholte den Dank, welchen er ihnen schon durch den Pfarrer hatte sagen lassen, und fragte sie, ob sie geneigt wären, die Gäste, die ihnen Gott gesandt, für diese wenigen Tage zu beherbergen.

»O gewiß, Herr«, antwortete die Frau mit einem Tone und mit einer Miene, welche viel mehr ausdrückten, als diese trockene, von der Scham erstickte Antwort. Der Schneider aber, von der Gegenwart eines solchen Fragers ganz außer sich gebracht und darauf brennend, bei einer Gelegenheit von solcher Wichtigkeit Ehre einzulegen, studirte ängstlich auf irgend eine schöne Antwort. Er runzelte die Stirn, verdrehte die Augen, kniff die Lippen zusammen, strengte seinen Verstand mit aller Gewalt an, durchsuchte und durchstöberte ihn, fühlte darin einen Wust von verstümmelten Gedanken und halben Worten; aber der Augenblick drängte, der Kardinal deutete schon an, das Stillschweigen sich ausgelegt zu haben, der gute Mann that den Mund auf und sagte: »Versteht sich«, etwas Anderes wollte ihm nicht einfallen. Er ärgerte sich nicht blos für den Augenblick darüber, daß ihn sein Kopf so im Stiche gelassen, die lästige Erinnerung vergällte ihm auch später noch die Freude an der ihm widerfahrenen hohen Ehre. So oft er darauf zu sprechen kam, und sich in Gedanken in diese Lage wieder versetzte, fielen ihm, wie zum Hohne, hundert Worte ein, die alle besser gewesen wären, als jenes läppische Versteht sich! Aber ein altes Sprüchwort sagt: Allemal nach der That ist wohlfeil guter Rath.

»Der Segen des Herrn sei über diesem Hause«, sagte der Kardinal und entfernte sich.[59]

Am Abend fragte er dann den Pfarrer, wie man wohl diesem Mann, der nicht reich sein konnte, für seine bereitwillige, besonders in diesen Zeiten kostspielige Gastfreundschaft auf schickliche Weise lohnen könnte. Der Pfarrer antwortete, daß wahrhaftig weder der Verdienst des Handwerks, noch der Ertrag einiger kleiner Aecker, die der gute Schneider besäße, hinreichten, um ihn in den Stand zu setzen, bei dieser Theuerung gegen Andere freigebig zu sein; da er aber in früheren Jahren etwas zurückgelegt, so gehöre er mit zu den wohlhabendsten Leuten in der Gegend und könnte, ohne sich Schaden zu thun, schon ein kleines Opfer bringen, wie er es gewiß auch herzlich gern thäte; übrigens würde er es als eine Kränkung ansehen, wenn man ihm irgend eine Entschädigung an Geld anböte.

»So wird er wahrscheinlich«, sagte der Kardinal, »bei Leuten, die nicht bezahlen können, Schulden ausstehen haben?«

»Ohne Zweifel, Euer Gnaden; diese armen Leute zahlen von dem Ueberschuß der Ernte; vergangenes Jahr war kein Ueberschuß und in diesem mangelt es Allen sogar am Nöthigsten.«

»Wohlan«, sagte Federigo, »so übernehme ich alle die Schulden; Ihr thut mir einen großen Gefallen, wenn Ihr Euch ein Verzeichniß der ausstehenden Posten von ihm geben laßt und sie alle bezahlt.«

»Es wird eine schöne Summe herauskommen.«

»Desto besser; es wird hier Nothleidende genug geben, die nicht einmal Schulden haben, weil ihnen Niemand etwas borgt.«

»Ach, nur all zu Viele! Man thut, was man kann; aber wie soll man in so schweren Zeiten allen helfen?«

»Laßt ihn auf meine Rechnung Kleider für dieselben machen, und bezahlt ihn gut. Wahrhaftig, in diesem Jahre kommt mir alles wie ein Raub vor, was nicht für Brod ausgegeben wird; aber dies ist ein besonderer Fall.«

Wir wollen jedoch die Geschichte dieses Tages nicht beschließen, ohne kurz zu erzählen, wie ihn der Ungenannte beschloß.

Diesmal war die Kunde von seiner Bekehrung ihm in das Thal vorausgeeilt; schnell hatte sie sich darin verbreitet und alles in Bestürzung, in Angst und Wuth versetzt. Den ersten Bravi[60] oder Dienern – es war Alles einerlei – denen er begegnete, gab er einen Wink, ihm zu folgen; und so fort und fort. Alle kamen voll banger Ungewißheit, aber mit gewohnter Unterwürfigkeit, hinter ihm drein, bis er mit einem immer mehr zunehmenden Gefolge bei dem Schlosse ankam; auch denen, die am Thore standen, winkte er mit hinein zu kommen. Er trat in den ersten Hof, ging nach der Mitte und hier, noch immer auf dem Maulthiere sitzend, ließ er einen donnernden Ruf erschallen; es war das gewohnte Zeichen, auf welches alle die Seinen, die es gehört hatten, herbeiliefen. In einem Moment eilten auf den Ruf dieser Stimme Alle herbei, die sich in dem Schlosse zerstreut befanden, gesellten sich zu den schon Versammelten und blickten erwartungsvoll auf den Gebieter.

»Geht und erwartet mich in dem großen Saale«, sprach er zu ihnen und sah von seinem Thiere herab zu, wie sie sich entfernten. Dann stieg er von ihm ab, führte es selbst in den Stall und begab sich dort hin, wo er erwartet wurde. Bei seinem Erscheinen verstummte sogleich das laute Geflüster, was hier war; alle zogen sich nach einer Seite hin zurück, indem sie für ihn einen großen Raum im Saale frei ließen; es konnten ihrer dreißig sein.

Der Ungenannte erhob die Hand, als wollte er die Stille, die schon herrschte, erhalten; richtete das Haupt empor, das über alle Köpfe des Haufens hervorragte, und sagte: »Hört Alle zu und Keiner rede, wenn ich ihn nicht frage. Kinder! Der Weg, auf dem wir bis jetzt gegangen sind, führt in den Abgrund der Hölle. Es ist kein Vorwurf, den ich euch machen will, ich, der ich allen vorangegangen, der ich der Schlimmste von Allen bin; aber hört, was ich euch zu sagen habe. Der barmherzige Gott hat mir zugerufen, mein Leben zu ändern; und ich will es ändern; ich habe es schon geändert; mache er es mit euch ebenso. Wisset also und seid überzeugt, daß ich entschlossen bin, eher zu sterben, als noch irgend Etwas gegen sein heiliges Gesetz zu thun. Ich entbinde einen Jeden der ruchlosen Befehle, die ich euch gegeben; ihr versteht mich; ja, ich gebiete euch nichts von dem zu thun, was ich euch früher befohlen habe. Und seid ebenso überzeugt, daß von jetzt Keiner unter euch in meinem Dienste, unter meinem Schutze[61] eine Uebelthat begehen darf. Wer unter diesen Bedingungen hier bleiben will, den will ich wie meinen Sohn halten, und ich würde am Ende des Tages zufrieden sein, an welchem ich selbst nichts gegessen hätte, um nur den letzten Bissen Brod mit dem letzten unter euch zu theilen. Wer nicht hier bleiben will, der soll den Sold erhalten, den er zu fordern hat und noch ein Geschenk mit auf den Weg; er kann gehen, aber niemals setze er den Fuß wieder hierher, es sei denn, daß er sein Leben ändern will; in diesem Falle soll er mit offenen Armen empfangen werden. Bedenkt euch diese Nacht; morgen werde ich euch, Einen nach dem Andern, rufen, um mir Antwort zu geben; und dann will ich euch neue Befehle geben. Für jetzt begebe sich Jeder auf seinen Posten zurück. Und Gott, der an mir so viel Barmherzigkeit geübt hat, verleihe auch euch einen guten Entschluß.«

Hier schwieg er, und kein Laut ließ sich vernehmen. Wie verschieden und stürmisch auch die Gedanken waren, die in diesen wunderlichen Köpfen kochten, sie verriethen sich durch keine Miene. Sie waren gewohnt, die Stimme ihres Herrn als die Erklärung eines Willens zu nehmen, mit welchem sich nicht rechten ließ, und indem diese Stimme verkündigte, daß der Wille sich verändert habe, deutete sie durchaus nicht an, daß er schwächer geworden sei. Keinem von ihnen fiel es ein, daß man ihm, weil sein Wille sich umgewandelt habe, Trotz bieten könne und ihm widersprechen dürfe wie einem andern Menschen. Sie sahen in ihm einen Heiligen, aber einen von jenen Heiligen, die man mit erhobenem Haupte und mit dem Schwerte in der Faust abbildet. Außer der Furcht hatten sie – besonders die unter seiner Herrschaft Geborenen, deren eine große Anzahl war – auch eine Anhänglichkeit für ihn wie Unterthanen. Alle waren ihm voll Bewunderung zugethan, und in seiner Gegenwart empfanden sie eine gewisse Art, ich möchte es geradezu Schamhaftigkeit nennen, wie sie auch die rohsten und muthwilligsten Gemüther vor einer schon erkannten Ueberlegenheit empfinden. Wenn auch die Dinge, die sie so eben aus diesem Munde vernommen hatten, ihren Ohren verhaßt waren, so begriffen sie doch die Wahrheit derselben sehr gut, und der Inhalt war ihnen durchaus nicht fremd; wenn sie[62] auch tausend Mal ihren Spott damit getrieben, so war dies nicht geschehen, weil sie ihnen keinen Glauben schenkten, sondern nur, um mit dem Gespötte der Furcht zuvorzukommen, die bei ernsterem Nachdenken sie überschlichen hätte. Und jetzt, da sie die Wirkung der Furcht auf ein Gemüth, wie das ihres Gebieters sahen, war nicht ein Einziger, der Eine mehr, der Andere weniger, der nicht für eine Zeitlang davon wäre mitergriffen worden. Dazu kam, daß Diejenigen unter ihnen, die zuerst, außerhalb des Thales, die große Neuigkeit zu erfahren bekommen, zugleich auch die Freude, den Jubel der Bevölkerung mitangesehen und auch weiter erzählt hatten, die Liebe und Verehrung für den Ungenannten, welche an die Stelle des früheren Hasses und Schreckens getreten war. So sahen sie in dem Manne, zu dem sie gewissermaßen nur mit Zittern und Zagen emporgeblickt, obgleich seine Macht zum großen Theil aus ihnen selbst bestand, jetzt das Wunder, den Abgott der Menge; sie sahen ihn, wie vorher, alle Andern überragen, aber in einer ganz verschiedenen Weise: immer außerhalb des gewöhnlichen Haufens, immer noch der Erste.

So standen sie bestürzt da, Einer über den Andern und Jeder über sich selbst ungewiß. Dieser ärgerte sich heimlich, Jener machte Pläne, wohin er sich nun wenden sollte, um Schutz und Unterkommen zu suchen; ein Anderer prüfte sich, ob er sich wohl darein finden würde, ein rechtschaffener Mensch zu werden; Mancher fühlte, von jenen Worten gerührt, eine gewisse Neigung dazu.

Andere nahmen sich vor, ohne etwas zu beschließen, vor der Hand alles zu versprechen, und wollten bei der theuren Zeit das Brod, welches ihnen mit so gutem Willen angeboten worden, sich schmecken lassen, um Zeit zu gewinnen; Keiner muckste. Und als der Ungenannte am Schlusse seiner Rede von neuem die gebietende Hand erhob und ihnen winkte, sich zu entfernen, zogen sie alle zusammen ganz stille, wie eine Heerde Schafe ab. Auch er ging hinaus, hinter ihnen, und indem er sich zuerst mitten in den Hof stellte, beobachtete er in der Dämmerung, wie sie sich trennten, und ein Jeder sich auf seinen Posten begab. Nachdem er dann hinauf gegangen und eine Laterne geholt, machte er die Runde durch die Höfe, durch die Hallen, durch die Säle, untersuchte alle[63] Zugänge, und da er Alles in Ruhe sah, ging er endlich schlafen. Wirklich schlafen, denn er fand Schlaf.

Wie sehr er auch von verwickelten und dringenden Geschäften immer überhäuft war, so hatten doch niemals so viele auf ihm gelastet als jetzt, und dennoch fand er Schlaf. Die Gewissensbisse, die ihm in der vorhergehenden Nacht keine Ruhe gelassen, waren noch nicht beschwichtigt, sie klagten ihn vielmehr noch lauter, noch strenger an, und dennoch fand er Schlaf. Die Ordnung, die Art von Herrschaft, die seit so vielen Jahren, mit so vieler Mühe, mit einer so besondern Vereinigung von Kühnheit und Beharrlichkeit hier innen von ihm eingeführt worden war, hatte er jetzt selbst mit wenigen Worten ins Ungewisse gesetzt. Die grenzenlose Ergebenheit der Seinen, die für ihn zu allem bereit waren, die schurkische Treue, auf die er seit so langer Zeit gewohnt war sich zu verlassen, hatte er jetzt selbst erschüttert; alle seine Mittel hatte er sich zu einem Berge von Verlegenheiten umgeschaffen. Er hatte sich Verwirrung und Unsicherheit ins Haus gebracht und dennoch fand er Schlaf.

Er begab sich also in sein Gemach, trat an dasselbe Bett, in welchem er die Nacht vorher wie auf Dornen gelegen hatte, und kniete, mit dem Vorsatze zu beten, neben demselben nieder. Er fand wirklich tief versteckt in einem Winkelchen seines Innern die Gebete wieder, die er als Kind auswendig gelernt hatte. Er fing an sie herzusagen, und diese Worte, die so lange Zeit da zusammengeknäult gelegen, fielen ihm jetzt, gleich als ob sich eines nach dem andern abwickelte, wieder ein. Er empfand dabei ein Gemisch von unbestimmten Empfindungen, eine gewisse Freudigkeit an dieser Rückkehr zu den Gewohnheiten der kindlichen Unschuld, einen brennenden Schmerz bei dem Gedanken an die Kluft, die ihn von dieser Zeit der Unschuld trennte, ein glühendes Verlangen, durch Werke der Buße zu einem reinen Bewußtsein, in einen Zustand zu gelangen, der ihn der Unschuld, zu der er nicht mehr zurückkehren konnte, so nahe als möglich brächte; eine Dankbarkeit, ein Vertrauen auf die Barmherzigkeit, die ihn dahin geleiten konnte, und die ihm schon so viele Beweise gegeben hatte, es zu[64] wollen. Darauf erhob er sich, legte sich nieder und schlief sogleich ein.

So endete dieser Tag, den man damals so viel pries, als unser Anonymus schrieb, und von dem man jetzt, wenn dieser nicht war, nichts mehr wüßte, wenigstens nichts Näheres; denn Ripamonti und Rivola, die wir früher angeführt, sagen nur, daß der erwähnte Tyrann, nach einer Unterredung mit Federigo, wunderbarerweise für immer sein Leben änderte. Und wie Viele werden die Bücher dieser Beiden gelesen haben? Noch Wenigere als das unsere lesen werden. Und wer weiß, ob in dem Thale selbst irgend eine alte dunkle Sage von dem Ereigniß für den, der Lust sie zu suchen und das Geschick sie zu finden hätte, jetzt noch vorhanden ist? Es sind seit jener Zeit so viele Dinge geschehen!

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2, S. 36-65.
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