Zwanzigstes Kapitel.

[338] Das Schloß des Ungenannten lag hoch über einem engen, schattigen Thale, auf dem Gipfel einer Anhöhe, die einsam aus einer rauhen Gebirgskette emporragt und mit derselben durch angehäufte Felsmassen, durch Irrgänge von Höhlen und Abgründen theils zusammenhing, theils getrennt ist. Die Seite, die nach dem Thale zu liegt, ist die einzig zugängliche, ein ziemlich steiler Abhang, der aber gleichmäßig fortläuft; hier auf der Höhe sind Wiesen, am Fuße Ackerland, hie und da einzelne Hütten. Der Grund ist ein Lager von Kieselsteinen, worin ein kleiner Bach fließt, der je nach der Jahreszeit reißend anschwillt; damals war er die Grenze von zwei Staaten. Die gegenüberliegenden Gebirge, die gleichsam die andere Thalwand bilden, zeigen auch hie und da einen bebauten Abhang; sonst nichts als steile Felsenabhänge, unwegsam und nackt, bis auf einiges Gesträuch, zwischen den Felsenspalten und aus der hie und da aufliegenden Erde.

Von der Höhe dieser Felsenburg beherrschte der wilde Herr, wie der Adler von seinem Raubneste, rings umher die Gegend, wo nur ein menschlicher Fuß treten konnte, und sah Niemanden höher und mächtiger als sich. Mit einem einzigen Blick durchflog er die ganze Oede bis in das Thal hinab und alle gangbaren Wege darin. Der Pfad, welcher sich durch Krümmungen und Windungen zu dem furchtbaren Wohnsitze hinauf zog, lag vor dem Hinunterblickenden wie ein geschlängeltes Band; von den Fenstern, von den Schießscharten aus konnte der Gebieter die Schritte eines Jeden, der sich nahte, gemächlich zählen und ihn wohl hundertmal aufs Korn nehmen. Und selbst wenn ein ganzer Haufen von[338] Angreifern heran gerückt wäre, konnte er mit der Besatzung von Bravi, die er sich oben hielt, schon viele auf dem Fußpfade niederstrecken, oder in die Abgründe stürzen, ehe noch ein Einziger den Gipfel erreichte. Uebrigens hatte es keine Noth, denn wer mit dem Herrn des Schlosses nicht gut stand, der wagte sich gar nicht hinauf, wagte den Fuß nicht einmal in das Thal zu setzen, oder auch nur flüchtig hindurch zu gehen. Der Häscher aber, der sich dort hätte blicken lassen, wäre wie ein feindlicher Spion, den man in einem Lager aufgefangen, behandelt worden.

Eine solche Beschreibung macht uns der Anonymus von dem Wohnsitze; den Namen verräth er nicht; um uns jede Gelegenheit abzuschneiden, ihn zu entdecken, sagt er über Don Rodrigo's Reise gar nichts, sondern versetzt ihn mit einem Sprunge mitten in das Thal, an den Fuß der Anhöhe, wo der rauhe, steile Fußpfad sich hinauf windet. Hier befand sich eine Schenke, die man eben so gut ein Wachthaus nennen konnte. Ein altes Schild, das über dem Eingang hing, zeigte auf beiden Seiten eine gemalte Sonne; die öffentliche Stimme aber, welche zuweilen die Namen wiederholt, wie sie ihr vorgesagt werden, zuweilen sie aber auch nach ihrer Weise verdreht, bezeichnete diese Schenke gewöhnlich mit dem Namen der Schlechten Nacht.

Bei dem Geräusch einer Reitertruppe, welche sich näherte, erschien an der Schenkthür ein junger Bursche, bewaffnet wie ein Saracen; und nachdem er einen Blick auf dieselbe geworfen, ging er wieder hinein, um drei Mordgesellen davon zu unterrichten, die an einem Tische saßen und mit schmutzigen, wie Dachziegel zusammengerollten Karten spielten. Derjenige, welcher das Oberhaupt zu sein schien, stand auf, begab sich nach der Thür; und einen Freund seines Gebieters erkennend, grüßte er ihn ehrfurchtsvoll. Don Rodrigo erwiederte mit vieler Artigkeit den Gruß und fragte, ob der Herr sich im Schlosse befände; nachdem der schuftige Häuptling ihm geantwortet, er glaube wohl, stieg er vom Pferde und warf dem Treffer, einem Bravo seines Gefolges, den Zügel zu. Darauf nahm er die Flinte von der Schulter und übergab sie dem Bergläufer, einem andern Bravo, als wollte er sich einer unnützen Last entledigen, um schneller hinauf zu[339] kommen: in der That aber, weil er wohl wußte, daß es nicht erlaubt war, den Berg mit einer Schußwaffe zu besteigen. Dann zog er einige Berlinghen aus der Tasche und gab sie dem Lochstoßer, einem dritten Bravo, und sagte zu ihm: »Bleibt hier und erwartet mich; macht euch so lange mit den braven Leuten da ein wenig lustig.« Endlich zog er einige Goldscudi hervor und drückte sie dem Häuptling in die Hand, hieß ihn die eine Hälfte für sich behalten, die andere Hälfte unter seine Leute vertheilen. Darnach begann er mit dem Grauen, der gleichfalls die Flinte abgelegt hatte, den Weg hinauf zu steigen. Unterdessen blieben die drei Bravi und die Nachteule, welcher der vierte war, (schöne Namen, die werth sind, daß man sie so sorgfältig aufbewahrt) mit den Dreien des Ungenannten und dem jungen Burschen, der gleichfalls zum Galgenstrick erzogen wurde, zurück, um zu spielen, zu zechen und einander ihre Heldenthaten zu erzählen.

Ein anderer Raufer des Ungenannten, der hinaufstieg, holte Don Rodrigo bald ein; er sah ihn an, erkannte ihn, gesellte sich zu ihm und überhob dadurch Don Rodrigo der Unannehmlichkeit, seinen Namen sagen und allen Andern, denen er begegnet wäre, Auskunft über sich geben zu müssen. Bei dem Schlosse angelangt, ließ man ihn hinein, während der Graue an der Thür zurückblieb; er ward durch dunkle Gänge und durch verschiedene Säle geführt, deren Wände mit Säbeln, Flinten und Partisanen behängt waren und in denen immer ein Bravo Wache stand; nachdem er eine Weile gewartet hatte, wurde er in das Gemach geführt, wo sich der Ungenannte befand.

Dieser ging ihm entgegen, erwiederte seinen Gruß, maß ihn mit einem Blicke von oben bis unten, wie er es aus Gewohnheit, die ihm jetzt schon fast zur zweiten Natur geworden, mit Jedem that, der zu ihm kam, selbst mit den besten und bewährtesten Freunden. Er war von hoher Gestalt, sonnenverbrannt; fast kahlköpfig; die wenigen Haare, die ihm geblieben, waren weiß; das Gesicht voller Runzeln; auf den ersten Blick würde man ihm ein Alter weit über die Sechzig hinaus gegeben haben, die er jedoch kaum überschritten hatte; die Haltung und die Bewegungen, die harten Gesichtszüge und ein unheimliches Feuer, welches aus[340] seinen Augen sprühte, verriethen einen kräftigen Körper und eine starke Seele, die sogar bei einem Jüngling etwas Außerordentliches gewesen wären.

Don Rodrigo sagte, daß er komme, um sich Rath und Hülfe bei ihm zu holen; er sei in ein Unternehmen verwickelt, von dem er nicht zurücktreten könne, ohne seine Ehre aufs Spiel zu setzen, und habe sich jetzt der Versprechungen des Mannes erinnert, der niemals verspricht, ohne sein Wort zu halten; darauf setzte er ihm sein schändliches Vorhaben auseinander. Der Ungenannte, der schon so halb und halb etwas davon wußte, hörte ihm aufmerksam zu; theils weil er solche Geschichten liebte, theils weil ein Name darin verwickelt war, ihm ebenso bekannt als verhaßt, der Name des Bruder Cristoforo, dieses erklärten Feindes aller Tyrannen, nicht allein mit Worten, sondern auch mit der That, soviel er konnte. Don Rodrigo übertrieb absichtlich die Schwierigkeiten des Unternehmens; die Entfernung des Ortes, ein Kloster und eine so hohe Beschützerin! ....

Bei diesen Worten fiel ihm der Ungenannte plötzlich, wie von einem bösen Dämon getrieben, in die Rede und sagte, er wolle die Sache in die Hand nehmen. Er merkte sich den Namen unserer armen Lucia und verabschiedete Don Rodrigo mit den Worten. »Binnen Kurzem werde ich Euch Nachricht geben, was Ihr zu thun habt.«

Wenn sich der Leser jenes unseligen Egidio erinnert, welcher dicht neben dem Kloster zu Monza wohnte, in welchem die arme Lucia eine Zufluchtsstätte gefunden hatte, so wisse er jetzt, daß dieser einer der vertrautesten Schandgenossen des Ungenannten war; aus diesem Grunde hatte derselbe auch so schnell und bereitwillig sein Wort gegeben. Kaum jedoch sah er sich wieder allein, als er auch schon, ich will nicht gerade sagen, es bereute, wohl aber sich ärgerte, es gegeben zu haben.

Seit einiger Zeit schon fing er an, wenn auch nicht gerade Gewissensbisse, doch einen gewissen Ueberdruß an seinem verbrecherischen Lebenswandel zu empfinden. Die vielen Schandthaten, die sich mehr in seinem Gedächtniß, als in seinem Gewissen angehäuft hatten, stellten sich seiner Seele, bei jedem neuen Verbrechen,[341] das er begehen wollte, in ihrer ganzen Scheußlichkeit dar; es war, als wenn eine schon beschwerliche Last noch immer mehr beschwert wird. Ein gewisser Widerwille, den er bei seinen ersten Verbrechen empfunden, nachher besiegt und fast gänzlich verloren hatte, stellte sich jetzt wieder ein. In jener ersten Zeit hatte das Bild einer langen ungewissen Zukunft, das Gefühl üppiger Lebenskraft sein Gemüth mit einem sorglosen Vertrauen erfüllt; jetzt waren es gerade die Gedanken an die Zukunft, die ihm die Vergangenheit noch widriger machten. – Alt werden! sterben! und dann? – das ist zu bedenken! Die Vorstellung des Todes, die in einer nahen Gefahr, einem Feinde gegenüber die Lebensgeister dieses Mannes zu erhöhen und ihm einen muthvollen Zorn einzuflößen pflegte, versetzte ihn in Angst und Schrecken, so oft sie ihm in der Stille der Nacht, auf seiner einsamen Feste überkam. Es war nicht der Tod, mit dem ihm ein gleichfalls sterblicher Gegner drohte, den er mit bessern Waffen, oder mit gewandterem Arm abwehren konnte; der Tod stand allein, nur in seiner Vorstellung vor ihm; er war vielleicht noch fern, aber er kam jeden Augenblick näher; und während der Geist noch ängstlich den Gedanken an ihn bekämpfte, trat er schon heran. In früheren Zeiten hatten ihn die so vielfachen Beispiele der Gewaltthätigkeit, das so zu sagen, unaufhörliche Schauspiel der Rache und des Mordes mit einem wilden Racheifer beseelt, der ihm zugleich eine Art von Herrschaft über sein Gewissen gegeben hatte; jetzt aber erwachte in seiner Seele nach und nach der verworrene aber schreckliche Gedanke an ein ewiges Gericht, das einen Jeden, ohne Ausnahme zur Rechenschaft zieht; der Gedanke, daß er aus dem gemeinen Haufen der Bösewichter hervorgetreten sei, daß er Alle überrage, gab ihm jetzt oftmals das Gefühl einer entsetzlichen Einsamkeit. Der Gott, von dem er reden gehört und den zu leugnen oder zu bekennen er sich niemals gesorgt hatte, indem er nur darauf dachte zu leben, als ob er gar nicht da wäre, diesen Gott glaubte er jetzt in gewissen Momenten der Niedergeschlagenheit ohne Grund, des Schreckens ohne Gefahr, in seinem Innern rufen zu hören: Und ich bin doch. In der ersten Hitze der Leidenschaften war ihm das Wort Gottes, das er verkündigen gehört, nur verhaßt erschienen;[342] jetzt aber, wenn es ihm unvermuthet in den Sinn kam, begriff es wider Willen sein Verstand wie Etwas, das seine Erfüllung hat. Er sprach sich aber gegen Niemand über diese neue Sorge aus, sondern er verschloß sie vielmehr tief in seinem Innern und suchte sie unter dem Scheine einer noch heftigern Wildheit zu verbergen. Auf diese Weise suchte er diese Stimme in seinem Innern zu ersticken. Da er die Zeiten, in denen er seine Ruchlosigkeiten ohne Gewissensbisse zu verüben gewohnt war, weder vernichten noch vergessen konnte, so beneidete er sie jetzt und strebte mit allen Kräften darnach, sie zurückzurufen, die alte Willenskraft in ihrer sorglosen Kühnheit wieder herbei zu ziehen, um wieder Vertrauen zu sich selbst zu fassen.

Darum hatte er auch bei dieser Gelegenheit so rasch an Don Rodrigo sein Wort verpfändet, um sich selbst gegen jedes Bedenken zu verschließen. Kaum jedoch war dieser zur Thür hinaus, so fühlte er die Entschlossenheit, mit der er sich zu dem Versprechen gezwungen hatte, auch schon wieder schwächer werden. Um jedem peinlichen Kampf sogleich ein Ende zu machen, rief er den Geier, einen der gewandtesten und verwegensten Diener seiner Abscheulichkeiten, durch welchen er gewöhnlich sein Verständniß mit jenem Egidio unterhielt. Mit entschlossener Miene gebot er ihm, sofort ein Pferd zu besteigen, nach Monza zu reiten, Egidio von seiner übernommenen Verpflichtung zu unterrichten, und ihn um Hülfe zu deren Ausführung zu bitten.

Der verruchte Bote kehrte schneller als sein Herr ihn erwartete, mit der Antwort von Egidio zurück; das Unternehmen sei leicht und sicher; der Ungenannte solle sogleich eine Kutsche schicken, mit zwei oder drei wohlvermummten Bravi; im Uebrigen nehme Egidio die Sorge auf sich und würde die Sache leiten. Was auch bei diesem Bericht in der Seele des Ungenannten vorging, er gab sogleich dem Geier den Befehl, alles nach Egidio's Absicht ins Werk zu setzen und mit zweien Andern, die er ihm selbst bezeichnete, zu dem Unternehmen aufzubrechen.

Hätte Egidio, um den schändlichen Dienst zu leisten, welcher von ihm gefordert wurde, nur auf seine gewöhnlichen Hülfsmittel rechnen dürfen, so würde er gewiß nicht so schnell ein so bestimmtes[343] Versprechen gegeben haben. Aber in jenem Zufluchtsorte selbst, wo nichts ohne Hinderniß zu sein schien, hatte der zügellose Jüngling ein Hülfsmittel, das nur ihm allein bekannt; und was für andere die größte Schwierigkeit gewesen wäre, war für ihn eine Kleinigkeit. Wir haben berichtet, wie die unglückliche Signora einst seinen Worten Gehör gegeben, und der Leser wird sich wohl gedacht haben, daß es bei diesem einen Male nicht geblieben ist; es war nur der erste Schritt auf einem blutigen, abscheulichen Wege. Dieselbe Stimme, welche bereits die Macht, ich möchte fast sagen das Recht erworben hatte, Verbrechen zu befehlen, verlangte jetzt die Aufopferung der Unschuldigen von der Signora, die man ihrem Schutze anvertraut hatte.

Der Antrag erfüllte Gertrud mit Entsetzen. Sie würde es schon als ein Unglück, eine schwere Strafe angesehen haben, hätte sie Lucia durch einen unvorhergesehenen Fall, ohne ihre Schuld, verlieren müssen, und jetzt gebot man ihr, sich des Mädchens mit einer schändlichen Treulosigkeit zu entledigen, das Mittel zur Sühnung in eine neue Gewissensqual zu verwandeln. Die Unglückliche versuchte alle Wege, um sich dem entsetzlichen Gebote zu entziehen; nur dem einzigen nicht, auf dem es ihr unfehlbar gelungen wäre, und der ihr doch offen stand. Die Sünde ist eine strenge, unerbittliche Gebieterin, gegen welche nur derjenige stark ist, der sich gänzlich von ihr lossagt. Dazu wollte sich Gertrud nicht entschließen; sie gehorchte also.

Der Tag war festgesetzt; die bestimmte Stunde nahte; Gertrud hatte sich mit Lucia in ihr geheimes Sprechzimmer zurückgezogen und überhäufte sie mit mehr Liebkosungen als gewöhnlich, die Lucia sich gefallen ließ und mit steigender Zärtlichkeit erwiederte, wie ein Lamm, welches ohne Furcht unter der Hand des Schäfers freudig erzittert, der es leise streichelt und sanft mit sich zieht, das sich umwendet und diese Hand leckt; es weiß nicht, daß draußen vor dem Schafstalle der Schlächter wartet, dem es der Schäfer so eben verkauft hat.

»Ich bedarf einer großen Gefälligkeit; du allein kannst sie mir erweisen. Unter all den Leuten, die mir zu Diensten stehen, ist Niemand, dem ich mich anvertrauen könnte. In einer sehr[344] wichtigen Angelegenheit, die ich dir später erzählen will, habe ich so schnell wie möglich mit dem Pater Guardian der Kapuziner zu sprechen, demselben, arme Lucia, der dich hierher gebracht hat; Niemand aber darf erfahren, daß ich nach ihm geschickt habe. Ich habe Niemand als dich, um diesen Auftrag ganz heimlich auszurichten.«

Lucia war bestürzt über eine solche Forderung, und mit all ihrer Blödigkeit, doch nicht ohne ihr großes Erstaunen zu verbergen, brachte sie, um sich von dem Auftrage zu befreien, augenblicklich die Gründe vor, welche die Signora billigen mußte und gewiß auch schon vorhergesehen hatte: ohne die Mutter, ohne Begleitung auf einem einsamen Wege, in einer unbekannten Gegend .... Doch Gertrud, die in einer höllischen Schule gebildet worden, bezeigte ebenfalls ihr Erstaunen und ihr Mißfallen, auf eine solche Widerspenstigkeit bei einem Wesen zu stoßen, dem sie so viele Wohlthaten erzeigt hatte. Sie bewies wie grundlos Lucia's Entschuldigungen seien: am hellen Tage, eine kurze Strecke, einen Weg, auf dem Lucia vor wenig Tagen erst gekommen war und den man schon auf die bloße Beschreibung hin, ohne ihn jemals gesehen zu haben, nicht verfehlen konnte .... Sie sprach so eindringlich, daß die Aermste, gerührt und zugleich beschämt, sich die Worte entschlüpfen ließ: »Nun wohl, was muß ich thun?«

»Geh nach dem Kapuzinerkloster;« sie beschrieb ihr den Weg noch einmal, »laß dir den Pater Guardian rufen und sag' ihm, aber ganz heimlich, er möchte auf der Stelle zu mir kommen; es darf aber Niemand erfahren, daß ich dich abgeschickt habe.«

»Was soll ich aber der Schaffnerin sagen, die mich noch niemals hinausgehen sah und die mich fragen wird, wohin ich gehe?«

»Du mußt suchen hinaus zu kommen, ohne gesehen zu werden; gelingt es dir nicht, so sage ihr, du gingest nach der und der Kirche, du habest gelobt dein Gebet dort zu verrichten.«

Lügen – eine neue Schwierigkeit für das arme junge Mädchen; doch die Signora zeigte sich abermals so empört über ihren Widerspruch, sie stellte es ihr so abscheulich dar, daß ihr eine nichtige Bedenklichkeit über die Dankbarkeit ginge, daß Lucia mehr betäubt als überzeugt und mehr als je von den Worten der[345] Signora gerührt, antwortete: »Nun wohl, ich gehe. Gott helfe mir!« So machte sie sich auf den Weg.

Gertrud folgte ihr vom Gitter aus mit starrem, finsterm Blicke; als sie Lucia den Fuß über die Schwelle setzen sah, bewegte sie die Lippen, wie von einem unwiderstehlichen Gefühle überwältigt und rief: »Höre Lucia!«

Diese wandte sich um und kehrte nach dem Gitter zurück. Aber schon hatte wieder ein anderer Gedanke in Gertrudens unseligem Geiste das Uebergewicht gewonnen. Sie that, als wäre sie mit den schon gegebenen Anweisungen noch nicht zufrieden, beschrieb ihr nochmals den Weg, den sie zu nehmen habe, und entließ sie dann mit den Worten: »Thue Alles, wie ich dir gesagt habe, und komm gleich wieder.« Lucia ging ab.

Sie trat unbemerkt aus der Pforte des Klosters und schlug mit gesenktem Blick den Weg längs der Mauer ein, fand nach den erhaltenen Angaben und mit der eigenen Erinnerung das Thor des Fleckens und ging hinaus; schüchtern und ängstlich wanderte sie auf der Landstraße hin und gelangte bald auf den Seitenweg, der nach dem Kloster führte; sie erkannte ihn sogleich wieder. Dieser Weg lag und liegt noch jetzt, wie das Bette eines Flusses, zwischen zwei hohen Uferwänden mit Bäumen, deren Zweige so ineinander gehen, daß sie gleichsam wie eine Decke sich über ihm wölben. Als Lucia diesen Weg betrat und ihn so ganz einsam und menschenleer sah, wurde sie noch ängstlicher und beeilte ihre Schritte noch mehr; nach einer kurzen Strecke jedoch faßte sie wieder Muth; sie sah eine stillhaltende Reisekutsche und daneben vor dem offenen Schlage zwei Reisende, die sich nach allen Seiten hin umsahen, als wären sie des Weges unkundig. Näher gekommen, hörte sie den Einen von beiden sagen: »Da kommt ein junges Mädchen, die wird uns zurechtweisen können.« Und als sie sich bei der Kutsche befand, wandte sich auch wirklich derselbe Mann, höflicher, als sein Aussehen es erwarten ließ, nach ihr hin und sagte: »Liebes Mädchen, könnt ihr uns vielleicht den Weg nach Monza zeigen?«

»Sie fahren nach der unrechten Seite zu«, antwortete das arme Mädchen, »Monza liegt dort ....« Indem sie sich umwandte,[346] um mit dem Finger dahin zu deuten, umschlang sie der andere Geselle (es war der Geier) plötzlich um den Leib und hob sie vom Boden auf. Lucia wandte entsetzt den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus; der Räuber hob sie mit Gewalt in die Kutsche; ein Anderer, der drinnen saß, packte sie und zwang sie, so sehr sie sich auch sträubte, ihm gegenüber nieder zu sitzen; noch ein Anderer stopfte ihr ein Tuch in den Mund, um ihr Schreien zu ersticken. Während dessen warf sich auch der Geier schnell in die Kutsche; der Schlag wurde zugeworfen, und in vollem Laufe ging es davon. Derjenige der Banditen, welcher die verrätherische Frage an sie gethan hatte, blieb auf dem Wege zurück, blickte sich überall um, ob sich vielleicht Jemand auf Lucia's Geschrei sehen ließe; Niemand ließ sich sehen; dann faßte er einen Baumzweig, schwang sich mit einem Satze zu der einen Uferwand hinauf und verschwand. Dieser war einer von Egidio's Raufern, der auf der Lauer gestanden hatte, um Lucia aus dem Kloster herauskommen zu sehen; nachdem er sie genau ins Auge gefaßt hatte, war er auf einem Umwege vorausgelaufen, um sie an dem verabredeten Orte zu erwarten.

Wer könnte Lucia's Schrecken, wer ihre Angst beschreiben, oder ausdrücken, was in ihrer Seele vorging? Um ihre schreckliche Lage zu erkennen, riß sie entsetzt die Augen auf und schloß sie sogleich wieder, beim Anblick der fürchterlichen Gesichter zusammen schaudernd; sie wollte sich loswinden, ward aber von allen Seiten gehalten; sie raffte alle ihre Kräfte zusammen und drängte gewaltsam nach dem Kutschenschlage hin; zwei nervige Arme hielten sie jedoch wie angenagelt auf dem Hintersitze der Kutsche fest; vier andere grobe Fäuste kamen ihnen dabei zu Hülfe. So oft sie versuchte einen Schrei auszustoßen, wurde er sogleich durch das Tuch erstickt. Nach einigen Minuten eines so angstvollen Kampfes schien sie ruhiger zu werden, die Arme wurden schlaff, sie ließ den Kopf zurück sinken, hielt mühsam die Augen auf und starrte unbeweglich vor sich hin; die scheußlichen Fratzen vor ihr schienen zu einem einzigen Schreckbilde zusammen zu fließen; aus ihrem Gesichte schwand die Farbe; ein kalter Schweiß bedeckte es; sie sank in Ohnmacht.[347]

»Auf, auf, Muth«, sagte der Geier. »Muth, Muth«, wiederholten die andern beiden Schurken; aber die Betäubung aller Sinne bewahrte Lucia in diesem Momente davor, die Tröstungen dieser fürchterlichen Stimmen zu hören.

»Teufel! sie sieht wie der Tod aus«, sagte einer der Schurken, »sollte sie wirklich todt sein?«

»Ach was todt!« sagte der Andere, »es ist so eine Ohnmacht, wie sie den Frauenzimmern jeden Augenblick ankommt. Ich muß doch wissen, daß mehr dazu gehört einen in die andere Welt zu schicken.«

»Genug!« sagte der Geier, »thut eure Schuldigkeit und kümmert euch um nichts weiter. Nehmt die Gewehre unterm Sitz hervor und haltet sie bereit. Denn in dem Gehölze, wo wir jetzt hineinkommen, sitzen immer Schelme.«

Unterdessen war die Kutsche, die schnell zufuhr, in das Gehölz gekommen.

Nach einiger Zeit kam Lucia wie aus einem schweren Traume wieder zum Bewußtsein und öffnete die Augen. Sie bemühte sich die schrecklichen Gegenstände, welche sie umgaben, zu unterscheiden und ihre Gedanken wieder zu sammeln; endlich erkannte sie von Neuem ihre schreckliche Lage. Sie fing wieder an zu schreien; doch der Geier hob die Faust mit dem Tuche in die Höhe und sagte so sanft er nur konnte: »Seid ruhig, es ist zu Eurem Besten; wir thun Euch nichts zu Leide; aber wenn Ihr nicht schweigt, so müssen wir Euch zum Schweigen bringen.«

»Laßt mich gehen! Wer seid Ihr? Wohin bringt Ihr mich? Laßt mich gehen, laßt mich gehen!«

»Ich sage Euch, seid ohne Furcht, seid kein Kind und seht endlich ein, daß wir Euch nichts zu Leide thun wollen. Hätten wir Euch nicht hundertmal umbringen können, wenn wir schlechte Absichten mit Euch im Schilde führten? seid also ruhig.«

»Nein, nein, laßt mich meines Weges gehen; ich kenne Euch nicht.«

»Aber wir kennen Euch.«

»O heilige Jungfrau! Wer seid Ihr? Laßt mich gehen, aus Barmherzigkeit! Warum habt Ihr mich ergriffen?«[348]

»Weil es uns befohlen worden ist

»Wer? Wer? Wer kann Euch das befohlen haben?«

»Still!« sagte der Geier mit drohender Miene, »mit solchen Fragen darf man uns nicht kommen.«

Lucia versuchte nochmals sich nach dem Kutschenschlage hin zu werfen; als sie aber sah, daß es ihr nichts half, nahm sie von Neuem ihre Zuflucht zu Bitten; mit gesenktem Kopfe, thränennassen Wangen rief sie mit von Schluchzen unterbrochener Stimme, die gefalteten Hände vor den Lippen: »ich beschwöre Euch bei Gott und der heiligen Jungfrau, laßt mich gehen! Was habe ich Euch zu Leide gethan? Ich bin ein armes unschuldiges Geschöpf. Laßt mich gehen!«

»Wir können nicht.«

»Ihr könnt nicht? O Gott! warum könnt Ihr nicht? Wohin wollt Ihr mich führen? Warum ....?«

»Ihr fleht vergebens, wir können nicht; seid ohne Furcht, denn wir wollen Euch nichts thun; wenn Ihr ruhig seid, wird Euch Niemand anrühren.«

Da Lucia sah, daß alle ihre Worte nichts halfen, wandte sie sich in ihrer Angst und Noth zu Dem, welcher die Herzen der Sterblichen in seiner Hand hält, und der auch die härtesten erweichen kann, sobald er will. Keine Beschreibung weiter. Ein nur zu schmerzliches Mitleid treibt uns an das Ziel dieser Reise, welche länger als vier Stunden dauerte; und nach welcher wir auch noch angstvolle Stunden zu überstehen haben werden. Versetzen wir uns also nach dem Schlosse, wo die Unglückliche erwartet wurde.

Sie wurde von dem Ungenannten mit ungewöhnlicher Unruhe und Ungeduld erwartet.

Seltsam! Dieser Mann, der mit kaltem Blute über so manches Leben verfügt, der bei so vielen seiner Handlungen die Angst und Pein seiner Opfer für nichts geachtet hatte, der nur eine grausame Rachelust sich darin ergötzen ließ, derselbe empfand jetzt bei den Leiden, die er über diese Lucia, eine Unbekannte, eine arme Bäuerin verhängte, eine Art Reue, ja fast einen Schauder. Von einem hohen Fenster seiner Burg aus blickte er schon lange nach[349] einer Oeffnung des Thales hin; plötzlich zeigte sich die Kutsche und kam langsam näher; das schnelle Fahren hatte den Muth der Pferde gedämpft und ihre Kräfte geschwächt. Von dem Punkte aus gesehen, wo er stand, erschien die Kutsche wie ein Wägelchen, welches die Kinder als Spielzeug ziehen; dennoch erkannte er sie sogleich und fühlte sein Herz stärker schlagen.

Wird sie darin sein? – dachte er sogleich; welchen Verdruß macht mir dies Mädchen! Wir wollen sie uns vom Halse schaffen. –

Er wollte so eben einen der Mordgesellen rufen, um ihn der Kutsche entgegen zu schicken und dem Geier sagen zu lassen, daß er umkehre und das Mädchen nach Don Rodrigo's Palast brächte; aber ein gebieterisches Nein, das plötzlich in seinem Innern ertönte, ließ ihn diesen Vorsatz sogleich wieder aufgeben. Da ihn jedoch das Bedürfniß, irgend einen Befehl zu geben, quälte und es ihm unerträglich, fast wie eine Strafe schien, die langsam näher kommende Kutsche müßig zu erwarten, so ließ er eine alte Dienerin rufen.

Dieselbe war als die Tochter eines alten Schloßwächters in diesem Schlosse geboren, und hatte ihr ganzes Leben darin zugebracht. Was sie von ihrer frühsten Kindheit an hier gehört und gesehen, hatte in ihrem Kopfe eine sehr hohe und schreckliche Vorstellung von der Macht ihrer Gebieter erzeugt; der vorzüglichste Grundsatz aber, den sie sich aus Lehre und Beispiel gemerkt, bestand darin, daß man den Gebietern in Allem gehorchen müsse, weil sie viel Gutes und viel Böses vollbringen könnten. Sie war auf keinen besondern Dienst angewiesen, aber in dieser Räuberbande machte ihr bald der Eine, bald der Andere zu schaffen, was ihr Ingrimm war. Bald mußte sie Lumpen flicken, bald einem Raufbold, der von einem Raubzuge heimkehrte, in aller Eile das Essen zubereiten, dann wieder Verwundeten beistehen. Die Befehle dieser Menschen, ihre Vorwürfe wie ihr Dank waren mit Spott und mit Schimpfreden gewürzt; Alte war der gewöhnliche Name, bei dem man sie rief; die Zusätze, die sonst noch angehängt wurden, wechselten nach den Umständen und der Laune des Anredenden. Die Alte aber, in ihrer Faulheit gestört und zum Zorn gereizt,[350] denn dies waren ihre beiden vorherrschenden Leidenschaften, vergalt diese Höflichkeiten oftmals mit Worten, in denen der Teufel sich noch besser wieder erkannt haben würde, als in denen ihrer Verhöhner.

»Du siehst da unten die Kutsche!« sagte der Herr zu ihr.

»Ich sehe sie«, antwortete die Alte, indem sie das spitze Kinn vorstreckte und die hohlen Augen so weit aufriß, als sollten sie ihr aus dem Kopfe heraustreten.

»Laß augenblicklich eine Sänfte zurecht machen, setze dich hinein und laß dich zur ›Schlechten Nacht‹ hinunter tragen. Geschwind, geschwind, damit du noch vor der Kutsche dort ankommst; schon kommt sie wie ein Leichenwagen näher. In der Kutsche ist .... muß ein junges Mädchen sein. Wenn sie drin ist, so sage dem Geier, er solle sie in die Sänfte packen und selber gleich zu mir heraufkommen. Du bleibst bei dem jungen Mädchen und läßt sie nach deiner Stube bringen. Wenn sie dich fragt, wohin du sie führst, wem das Schloß gehört, so hüte dich wohl ....«

»O!« sagte die Alte.

»Aber«, fuhr der Ungenannte fort, »laß es nicht fehlen ihr Muth zuzusprechen.«

»Was soll ich ihr sagen?«

»Muth sollst du ihr zusprechen, sage ich dir. Bist du so alt geworden und weißt nicht, wie man einem solchen Geschöpfe Muth zuspricht, wenn es sein muß? Hast du niemals Furcht gehabt? Hast du niemals Herzensangst ausgestanden? Weißt du nicht was für Worte in solchen Augenblicken am besten wirken? Sage ihr solche Worte, ersinne welche, wenn du noch länger leben willst. Pack dich!«

Sobald sie fort war, blieb der Ungenannte noch eine Weile am Fenster stehen, starrte nach der Kutsche, die sich schon viel größer darstellte; dann sah er nach der Sonne, welche in diesem Augenblick hinter dem Gebirge verschwand.

Er schloß das Fenster, trat zurück und fing an mit hastigen Schritten im Zimmer auf und nieder zu wandern.[351]

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 1, S. 338-352.
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