|
[39] Man erzählt, daß der Prinz von Condé die Nacht, welche dem Tage von Rocroi voran gegangen, sehr fest geschlafen habe; aber erstens war er sehr ermüdet, zweitens hatte er schon alle nöthigen Vorkehrungen getroffen und angeordnet, was am Morgen geschehen sollte. Don Abbondio aber wußte weiter noch nichts, als daß am andern Morgen ein Schlachttag sein würde; ein großer Theil der Nacht wurde daher in bangen Ueberlegungen zugebracht. Sollte er die ruchlose Ankündigung, die Drohungen nicht beachten und die Ehe doch schließen, dies war ein Entschluß, den er nicht fassen mochte. Renzo den Vorfall anvertrauen und mit ihm irgend einen Ausweg suchen .... Gott behüte! »Lassen Sie sich nicht ein Wort entschlüpfen .... sonst ... eh!« hatte einer der Bravi gesagt; und wenn er aus seinem Gedächtniß jenes »Eh« wiederschallen hörte, dachte Don Abbondio durchaus nicht daran, ein solches Gesetz zu übertreten, er bereute es sogar schon, mit Perpetua darüber geschwätzt zu haben. Fliehen? wohin? und dann! Wie viele Hindernisse! wie oft Rechenschaft abzulegen! Bei jedem Entschluß, den der Arme aufgab, wühlte er sich in seinem Bette herum. Das, was ihm noch das Beste schien oder das am wenigsten Schlimme, war, Zeit zu gewinnen, um Renzo hinzuhalten. Plötzlich fiel ihm ein, daß an der Zeit, in der die Heirathen verboten waren, nur noch wenige Tage fehlten – und wenn ich den Burschen diese wenigen Tage hinhalten kann, dann kann ich zwei Monate aufathmen und in zwei Monaten kann viel geschehen. Er erwog alle Ausflüchte, die ihn befreien sollten,[39] und obwohl sie ihm ein wenig leicht erschienen, tröstete er sich doch mit dem Gedanken, daß sein Ansehn denselben scheinbar das rechte Gewicht und seine lange Erfahrung ihm einen großen Vortheil über den unwissenden Jüngling geben würde. Wir wollen sehen, sagte er für sich, er denkt an seine Liebste, und ich denke an meine Haut, der meist Leidende bin ich, lassen wir es auch dabei, daß ich der Schlauste bin. Mein lieber Sohn! und wenn dir's zu Muthe ist, als verbrennst du vor Liebe, ich kann dir nicht helfen, denn ich will dabei nicht zu Grunde gehen. Nachdem er so ein wenig Muth zu einem Entschlusse gefaßt hatte, konnte er endlich die Augen schließen; aber welch ein Schlaf! welche Träume! die Bravi, Don Rodrigo, Renzo, Fußsteige, Felsen, Flucht, Verfolgung, Geschrei und Flintenschüsse.
Das erste Erwachen nach einem Unglück und in einer Verlegenheit ist ein sehr bitterer Augenblick. Kaum wieder zu sich gekommen, kehrt die Seele zu den gewohnten Vorstellungen des vorigen ruhigen Lebens zurück; aber der Gedanke an den veränderten Zustand der Dinge berührt sie plötzlich sehr unfreundlich, und das Unbehagen ist in diesem augenblicklichen Vergleiche um so lebhafter und verletzender. Nachdem Don Abbondio diesen schmerzlichen Augenblick gekostet hatte, wiederholte er sogleich seine nächtlichen Beschlüsse, befestigte sich darin, ordnete sie mehr, erhob sich und erwartete Renzo zugleich mit Furcht und Ungeduld.
Lorenzo oder Renzo, wie ihn alle nannten, ließ nicht lange auf sich warten. Kaum erschien die Stunde, wo er glaubte, sich dem Pfarrer vorstellen zu können, ohne unbescheiden zu sein, als er sogleich mit dem frischen Ungestüm eines Menschen von zwanzig Jahren, der noch an demselben Tage diejenige, welche er liebt, heirathen soll, zu ihm eilte. Seit seinen Jünglingsjahren war er elternlos und trieb das Gewerbe eines Seidenspinners, das, so zu sagen, in seiner Familie erblich war; ein in früheren Jahren sehr einträgliches Gewerbe, welches auch jetzt noch nicht so in Verfall gerathen war, daß es nicht einen geschickten Arbeiter sehr anständig ernährt hätte. Die Arbeit nahm freilich von Tag zu Tag ab; aber die fortwährende Auswanderung der Arbeiter, die sich durch Versprechungen, durch Vorrechte und durch hohen Lohn nach den[40] benachbarten Ländern ziehen ließen, bewirkte doch, daß es auch denen, die im Lande geblieben waren, noch nicht daran fehlte. Ueberdies besaß Renzo ein Gütchen, welches er beackern ließ und, wenn das Spinnrad still stand, auch selbst beackerte, so daß er sich unter diesen Umständen wohlhabend nennen konnte. Obgleich dieses Jahr noch dürftiger war und man schon anfing, eine wahre Theuerung zu empfinden, so war doch unser Jüngling, seitdem er die Augen auf Lucia geworfen, sparsam geworden; er war hinreichend mit dem Nöthigen versehen und hatte nicht mit der Theuerung zu kämpfen.
Renzo erschien vor Don Abbondio in großem Staate, mit verschiedenfarbigen Federn auf dem Hute, seinen Dolch mit einem schönen Griff in der Hosentasche, mit einem gewissen festlichen und zugleich kecken Ansehn, das damals auch den friedlichsten Menschen eigen war.
Der unsichere, geheimnisvolle Empfang Don Abbondio's bildete einen eigenthümlichen Contrast zu dem fröhlichen, entschlossenen Wesen des Jünglings. Dem muß irgend etwas im Kopfe stecken, dachte Renzo und sagte dann: »Herr Pfarrer, ich bin gekommen, um zu erfahren, zu welcher Stunde Sie befehlen, daß wir uns in der Kirche einfinden.«
»Von welchem Tage sprecht Ihr?«
»Wie, von welchem Tage? Erinnern Sie sich nicht, daß heute der festgesetzte Tag ist?«
»Heute?« erwiederte Don Abbondio, als ob er zum ersten Male davon reden hörte. »Heute, heute .... Ihr müßt Geduld haben, heute kann ich nicht.«
»Heute können Sie nicht? was ist denn vorgefallen?«
»Zuerst befinde ich mich nicht wohl, Ihr seht es.«
»Das thut mir leid; aber was Sie zu thun haben, ist so schnell abgemacht und so wenig anstrengend ....«
»Und dann, dann, dann ....«
»Und was ist dann?«
»Und dann die Verwirrung!«
»Verwirrung? Welche Verwirrung kann dabei sein?«[41]
»Ihr müßtet Euch an unsrer Stelle befinden, um einzusehen, wie viele Verwickelungen in diesen Dingen vorkommen, was für Rechenschaft man davon ablegen muß. Ich bin zu weichherzig, ich sinne immer nur auf Mittel, alle Hindernisse hinwegzuräumen, alles zu erleichtern, und um Andern einen Gefallen zu thun, versäume ich meine Pflicht und ziehe mir darüber Vorwürfe und noch schlimmere Dinge zu.«
»Aber in des Himmels Namen, spannen Sie mich nicht auf die Folter, sagen Sie mir klar und offen heraus, was es giebt.«
»Kennt Ihr alle die Förmlichkeiten, die uns vorgeschrieben sind und nach denen wir uns richten müssen, um eine Ehe abzuschließen?«
»Ich muß wohl etwas davon kennen«, sagte Renzo, der schon anfing aufgebracht zu werden, »denn Sie haben mir die Tage her schon genug den Kopf damit verdreht. Ist jetzt noch nicht alles geschehen? ist noch nicht alles gethan, was zu thun war?«
»Alles, alles, Ihr sollt gleich sehen; doch habt nur Geduld, der Dummkopf bin wieder ich, der seine Pflicht hinten ansetzt, um den Leuten keinen Verdruß zu machen. Aber jetzt ... genug, ich weiß, was ich sage. Wir armen Pfarrer stehen zwischen Amboß und Hammer. Ihr Ungeduldigen; ich bedaure Euch, armer Junge; aber die Vorgesetzten ... genug, man kann nicht alles sagen, denn wir sind diejenigen, die übel dabei wegkommen.«
»Aber erklären Sie mir nur, welche andere Förmlichkeit noch abzumachen ist, wie Sie sagen, und sie wird gleich abgemacht werden.«
»Wißt Ihr, wie viele Hindernisse uns entgegenstehen?«
»Was soll ich von den Hindernissen wissen?«
»Error, conditio, votum, cognatio, crimen,
Cultus disparitas, vis, ordo, ligamen, honestas,
Si sis affinis ....«
fuhr Don Abbondio fort, sie an den Fingerspitzen herzählend.
»Sie scherzen mit mir?« unterbrach ihn der Jüngling. »Was soll ich mit Ihrem latinorum anfangen?«
»Also, wenn Ihr die Dinge nicht versteht, so seid geduldig und überlaßt es dem, der sie versteht.«[42]
»Nun also?«
»Wohlan, lieber Renzo, werdet nicht zornig, denn ich bin bereit, alles zu thun .... alles, was von mir abhängt. Ich, ich würde Euch gern zufrieden stellen; ich will Euch wohl. Ei, wenn ich bedenke, wie es Euch so wohl erging; was fehlte Euch? da fangt Ihr die Grille, Euch zu verheirathen ......«
»Was sind das für Reden, Herr?« brach Renzo halb erstaunt, halb aufgebracht los.
»Ich sage Euch nur, habt Geduld. Ich möchte Euch gern zufrieden sehen.«
»Und schließlich .....«
»Und schließlich, mein lieber Sohn, ich bin nicht Schuld daran, ich habe das Gesetz nicht gemacht. Ehe wir eine Ehe abschließen, sind wir erst verpflichtet, viele, viele Nachforschungen anzustellen, um uns zu versichern, daß keine Hindernisse entgegenstehen.«
»Aber sagen Sie mir doch nur einmal, welches Hinderniß dazwischen gekommen ist?«
»Habt Geduld, diese Dinge lassen sich nicht so schnell erklären. Es wird nichts weiter sein, hoffe ich, aber demungeachtet müssen wir doch diese Nachforschungen anstellen. Der Text ist klar und einleuchtend: antequam matrimonium denunciet ....«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich will kein Latein.«
»Ich muß Euch doch aber erklären ...«
»Haben Sie denn diese Nachforschungen noch nicht gethan?«
»Ich habe sie nicht alle so gemacht, wie ich gemußt hätte, sage ich Euch.«
»Warum haben Sie sie nicht bei Zeiten gemacht? warum sagten Sie mir, daß alles geschehen sei? warum damit warten ...«
»Seht! Nun werft Ihr mir meine allzu große Gefälligkeit noch vor. Ich habe Euch alles erleichtert, um Euch um so schneller zu helfen ... aber ... aber jetzt ist mir eingefallen ... genug, ich weiß schon.«
»Und was soll ich thun?«
»Geduldet Euch noch einige Tage, lieber Sohn. Einige Tage sind keine Ewigkeit. Habt Geduld.«[43]
»Bis wie lange?«
»Wir sind glücklich im Hafen«, – dachte Don Abbondio bei sich und sagte artiger als je: »Nun, ich werde suchen in vierzehn Tagen ...«
»Vierzehn Tage! O das ist wirklich eine Neuigkeit. Es ist Alles geschehen, was Sie gewollt haben; der Tag ist festgesetzt; der Tag erscheint; und nun sagen Sie mir, daß ich noch vierzehn Tage warten soll!«
»Vierzehn ...« wiederholte er lauter und zornig, den Arm ausstreckend und mit der Faust in der Luft herum schlagend; und wer weiß, welche Verwünschung er dieser Zahl noch angehängt haben würde, wenn ihn Don Abbondio nicht unterbrochen hätte, indem er ihn mit schüchterner Freundlichkeit bei der andern Hand nahm: »Ei, ei, ereifert Euch nicht, um des Himmels willen. Ich will sehen, ich werde versuchen, ob ich in einer Woche ...«
»Und was soll ich Lucia sagen?«
»Daß es mein Versehen gewesen ist.«
»Und das Gerede der Leute?«
»Sagt nur, daß ich mich geirrt habe, aus Uebereilung, aus zu gutem Herzen; macht mich zum Sündenbock. Kann ich besser zu Euch reden? Frisch auf denn! noch eine Woche.«
»Und hernach werden wir keine Hindernisse mehr haben?«
»Wenn ich Euch sage ....«
»Nun gut: ich will mich eine Woche gedulden; aber merken Sie sich wohl, daß Sie mich dann nicht mehr durch Geschwätz befriedigen werden. Bis dahin empfehle ich mich Ihnen.« Dies gesagt, entfernte er sich, indem er vor Don Abbondio einen weniger tiefen Bückling als gewöhnlich machte und ihm einen mehr ausdrucksvollen als ehrerbietigen Blick zuwarf.
Als er heraustrat und zum ersten Male ungern nach dem Hause seiner Verlobten wanderte, fuhr ihm bei allem Aerger immer wieder die Unterhandlung durch den Sinn, die er immer seltsamer fand. Der kalte Empfang Don Abbondio's, sein verlegenes, zugleich ungeduldiges Sprechen, die grauen Augen, welche, während er sprach, ängstlich umher schweiften, als ob sie die Worte fürchteten, das Sichstellen, als wisse er von der bestimmt verabredeten[44] Ehe gar nichts und vor allem die beständige Anspielung auf etwas Wichtiges, worüber er sich aber nicht klar ausdrückte: alle diese Umstände zusammengestellt, brachten Renzo auf den Gedanken, daß ein anderes Geheimniß dahinter stecke, als Don Abbondio habe zu verstehen geben wollen. Der Jüngling überlegte einen Augenblick, ob er nicht wieder umkehren sollte, ihn in die Enge zu treiben, damit er sich deutlicher erkläre; aber als er die Augen erhob, sah er Perpetua, die an ihm vorüberschritt und in ein Küchengärtchen ging, einige Schritte vom Hause entfernt. Er rief ihr zu, während sie die Thür aufschloß, beeilte seine Schritte, erreichte sie, hielt sie am Eingang auf, und in der Absicht, sie auszuhorchen, band er ein Gespräch mit ihr an.
»Guten Tag, Perpetua: ich hoffte, daß wir heute lustig miteinander sein würden.«
»Wie es Gott gefällt, mein armer Renzo.«
»Thut mir einen Gefallen: der ehrwürdige Herr Pfarrer hat mich aus gewissen Gründen mit schönen Worten abgespeist, die ich nicht recht habe verstehen können; erklärt Ihr mir doch deutlicher, warum er uns heute nicht trauen kann oder will.«
»O! denkt Ihr, daß ich die Geheimnisse meines Herrn weiß?«
Ich habe es gesagt, es ist ein Geheimniß dahinter, dachte Renzo, und um es ans Licht zu ziehen, fuhr er fort: »Frisch, Perpetua! wir sind Freunde; sagt mir, was Ihr wißt, helft einem armen Jungen.«
»Es ist eine üble Sache, arm geboren zu sein, mein lieber Renzo.«
»Das ist wahr«, erwiederte dieser, der in seinem Verdacht immer mehr bestärkt wurde und auf die Hauptsache zu kommen suchte. »Das ist wahr, aber kommt es den Priestern zu, mit armen Leuten schlecht umzugehen?«
»Hört, Renzo; ich kann nichts sagen ... warum ... ich weiß nichts; aber ich kann Euch versichern, daß mein Herr weder Euch noch sonst Jemandem Unrecht thun will; er ist nicht Schuld daran.«
»Wer aber ist Schuld daran?« fragte Renzo, mit einer gewissen[45] arglosen Miene, aber mit pochendem Herzen und mit gespitzten Ohren.
»Wenn ich Euch sage, daß ich nichts weiß .... Zur Vertheidigung meines Herrn darf ich reden, denn es thut mir weh, wenn ich höre, daß man ihm Schuld giebt, irgend wen kränken zu wollen. Der arme Mann! wenn er fehlt, so geschieht es, weil er zu gut ist. Es giebt aber auf dieser Welt Schurken, gewaltthätige Menschen ohne Gottesfurcht ...«
Gewaltthätige Menschen! Schurken! – dachte Renzo: – das sind nicht die Vorgesetzten. »Wohlan«, sprach er, seine wachsende Unruhe mühsam verbergend, »wohlan, sagt mir, wer es ist.«
»Ah! Ihr möchtet mich gern zum Reden bringen, aber ich kann nichts sagen, weil ... ich nichts weiß; wenn ich nichts weiß, so ist es, als ob ich geschworen hätte zu schweigen. Ihr könntet mich auf die Folter spannen, Ihr würdet nicht ein Wort aus mir heraus bringen. Lebt wohl; es ist verlorne Zeit für uns Beide.« So sprechend, trat sie schnell in den Garten und schloß die Thür. Renzo erwiederte ihren Gruß und kehrte leise und behutsam wieder zurück, um sie nicht merken zu lassen, welchen Weg er nahm; aber sowie er der guten Frau aus der Schußlinie war, beeilte er seine Schritte; in einem Augenblick war er an Don Abbondio's Thür, trat ein, stürmte nach dem Zimmer, wo er ihn verlassen hatte, fand ihn noch darin und schritt kühn mit wüthenden Blicken auf ihn zu.
»He! he! was bringt Ihr?« sagte Don Abbondio.
»Wer ist der Gewaltthätige?« fragte Renzo mit der Stimme eines Menschen, der entschlossen ist, eine bestimmte Antwort zu erlangen, »wer ist der Gewaltthätige, der nicht will, daß ich Lucia heirathe?«
»Was? was? was?« stotterte der arme Ueberraschte hervor, und sein Gesicht wurde plötzlich so weiß und zusammengefallen, wie ein aus der Wäsche gezogener Lappen, und immer noch vor sich hin murmelnd, sprang er von seinem Lehnstuhl mit einem Satze nach der Thür. Aber Renzo, der diese Bewegung erwarten konnte,[46] stand auf der Lauer, sprang vor ihm hin, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche.
»Ei, ei, Herr Pfarrer, werden Sie nun reden? Alle Welt weiß, wie es mit mir steht, nur ich nicht. Potztausend! ich will es auch wissen, ich auch. Wie heißt er?«
»Renzo! Renzo! Aus Menschlichkeit! Bedenket, was Ihr thut! Denkt an eure Seele!«
»Ich denke, daß ich es sogleich auf der Stelle wissen will.« So sprechend legte er, vielleicht ohne es gewahr zu werden, die Hand an den Griff seines Dolches, der ihm aus der Tasche hervorkam.
»Barmherzigkeit!« rief Don Abbondio mit schwacher Stimme.
»Ich will es wissen.«
»Wer hat Euch gesagt ....«
»Nein, nein, keine Ausflüchte mehr. Sprechen Sie deutlich und klar und jetzt gleich.«
»Wollt Ihr meinen Tod?«
»Ich will wissen, was ich zu wissen mit Recht fordern kann.«
»Aber wenn ich rede, so bin ich des Todes. Soll mir an meinem Leben nichts gelegen sein?«
»Darum reden Sie.«
Diese letzten Worte wurden mit einer solchen Kraft ausgesprochen, das Gesicht Renzo's wurde so drohend, daß Don Abbondio durchaus nicht an die Möglichkeit denken konnte, ihm nicht zu gehorchen.
»Gelobt mir, schwört mir«, sagte er, »mit Niemand davon zu sprechen, niemals zu sagen ....«
»Ich gelobe Ihnen, daß ich einen tollen Streich begehe, wenn Sie mir nicht auf der Stelle den Namen sagen.«
Auf diese wiederholte Beschwörung stammelte Don Abbondio mit dem Gesicht und dem Blick eines Menschen, der schon die Zange des Zahnbrechers im Munde hat: »Don« .... »Don« wiederholte Renzo, als wollte er dem Patienten helfen, das Uebrige herauszubringen; er stand gebückt, das Ohr über seinen Mund gebeugt, mit straffen Armen und geballten Fäusten.[47]
»Don Rodrigo!« sprach der Gequälte, die wenigen Silben hastig herausstürzend, als wollte er das Wort in demselben Augenblick, wo er gezwungen war, es herauszubringen, wieder verschlucken, theils vor Bestürzung, theils weil er die wenige Besinnung, die ihm übrig blieb, dazu anwandte, einen Vergleich zwischen seiner doppelten Furcht zu machen.
»O der Hund!« brüllte Renzo. »Und wie hat er es angefangen? Was hat er Ihnen gesagt, um ....«
»Wie? Was?« erwiederte mit fast trotziger Stimme Don Abbondio, der nach einem so großen Opfer in gewisser Art der Gläubiger geworden zu sein meinte. »Ha! ich wollte, daß es Euch geschehen wäre, so wie es mir geschehen ist, dem es gar nichts angeht; es würden Euch dann gewiß nicht so viele Grillen im Kopfe stecken geblieben sein.« Und nun schilderte er mit schrecklichen Farben den schändlichen Vorfall; und so durcheinander redend, fühlte er immer mehr, welchen ungeheueren Grimm er im Leibe hatte, der bis dahin nur durch die Furcht versteckt und unterdrückt gewesen war; und wie er jetzt sah, daß Renzo zwischen Furcht und Verwirrung, unbeweglich, mit gesenktem Kopfe dastand, da fuhr er immer dreister fort: »Ihr habt eine schöne Geschichte angerichtet! Ihr habt mir einen schönen Dienst erwiesen. Einem ehrlichen Manne solch einen Streich zu spielen. Eurem Seelsorger! in seinem Hause, an geweihtem Orte! Ja, Ihr habt eine schöne Tapferkeit bewiesen. Zu meinem Unglück, zu eurem Unglück habt Ihr mir den Mund gebrochen. Ich verbarg es Euch aus Klugheit, zu eurem Besten. Und nun, da Ihr es wißt? Ich möchte doch sehen, was Ihr mir anhaben könntet .... Um des Himmels willen! es ist kein Spaß. Es handelt sich hier nicht um Recht oder Unrecht; es handelt sich um Gewalt, um Zwang. Und wenn ich Euch diesen Morgen einen guten Rath gab ... he! gleich aufgebracht. Ich hatte den Kopf für mich und für Euch; aber was hilft's? .... Oeffnet wenigstens, gebt mir meinen Schlüssel wieder.«
»Ich kann gefehlt haben«, warf Renzo Don Abbondio mit milderer Stimme ein, der man aber noch die Wuth gegen den entdeckten Feind anhörte; »ich kann gefehlt haben; aber wenn Sie[48] die Hand aufs Herz legen und bedenken, ob Sie an meiner Stelle ...«
Indem er so sprach, hatte er den Schlüssel aus der Tasche gezogen und schickte sich an aufzuschließen. Don Abbondio ging hinter ihm her und während er den Schlüssel im Schlosse herumdrehte, näherte er sich ihm, und die drei ersten Finger der rechten Hand vor seinen Augen erhebend, sagte er ernst und ängstlich: »Schwöret wenigstens ...«
»Ich kann gefehlt haben, verzeiht mir«, antwortete Renzo, die Thür öffnend, indem er hinausgehen wollte.
»Schwört ....« wiederholte Don Abbondio, mit zitternder Hand seinen Arm festhaltend.
»Ich kann gefehlt haben«, rief Renzo und entsprang ihm eiligst, so den Streit abbrechend, der gleich literarischen, philosophischen oder andern Streitereien wohl hätte Jahrhunderte dauern können, weil jede der beiden Parteien nur immer ihre eigenen Argumente wiederholte.
»Perpetua! Perpetua!« schrie Don Abbondio, nachdem er vergebens den Flüchtling zurück gerufen hatte. Perpetua antwortete nicht; Don Abbondio wußte nicht mehr, wo er war.
Es ist wohl mehr als einmal Personen von weit höherer Bedeutung als Don Abbondio widerfahren, in so unangenehmen Verlegenheiten, in solcher Unschlüssigkeit sich zu befinden, daß ihnen kein besserer Ausweg erschien, als sich fieberkrank zu Bett zu legen. Er brauchte diesen Ausweg nicht erst zu suchen; er bot sich ihm von selbst dar. Die Furcht vom vorigen Tage, das angstvolle Wachen in der Nacht, die jetzt eben durchlebte Furcht, die Besorgniß um die Zukunft thaten diese Wirkung. Bekümmert und betäubt sank er in seinen Lehnstuhl; er fing an, kalte Schauer in seinen Gliedern zu fühlen, betrachtete seufzend seine Nägel und rief von Zeit zu Zeit mit zitternder und zürnender Stimme: »Perpetua!«
Sie kam endlich, einen großen Kohlkopf unter dem Arm, mit geschäftiger Miene, als ob nichts vorgefallen wäre. Ich verschone den Leser mit den Wehklagen, den Beileidsbezeigungen, Anklagen und Vertheidigungen, mit dem »nur Ihr allein könnt geschwätzt[49] haben« und den »ich habe Nichts gesagt«, kurz mit allen Verwickelungen dieser Unterredung. Es genügt zu sagen, daß Don Abbondio Perpetua befahl, die Hausthür gut zu verriegeln, für Niemand zu öffnen, und wenn Jemand anklopfe, solle sie vom Fenster aus antworten, daß der Pfarrer fieberkrank zu Bett liege. Dann stieg er langsam die Treppe herauf und sagte bei jeder dritten Stufe: »ich habe genug.« Er legte sich wirklich zu Bett, dem wir ihn überlassen wollen.
Renzo wanderte indessen mit raschen Schritten nach Hause, noch nicht entschlossen, was er thun sollte, aber voll innerer Wuth, etwas Außerordentliches und Schreckliches zu vollbringen. Alle, die Andere aufreizen und beleidigen, und ihnen Unrecht zufügen, in welcher Weise es auch sei, sind strafbar, nicht allein um des Bösen willen, das sie begehen, sondern auch für die Bosheit, welche sie in die Seele des Gekränkten bringen.
Renzo war ein friedlicher, durchaus nicht blutdürstiger junger Mensch, ein reiner, offenherziger Jüngling, der jede Hinterlist verabscheute; aber in diesem Augenblicke schlug sein Herz nur für Mord, sein Gemüth sann nur auf Verrath. Er hätte nach dem Hause Don Rodrigo's rennen mögen, ihn bei der Gurgel packen und ... aber es fiel ihm ein, daß dieser sich wie in einer durch Bravi besetzten und bewachten Festung befand, in die nur Freunde und zuverlässige Diener frei hineingingen, ohne von Kopf bis zu Füßen gemustert zu werden; ein unbekannter, gewöhnlicher Handwerker durfte ohne Untersuchung gewiß nicht eintreten, und besonders er nicht ... er, der vielleicht nur zu gut gekannt war. Dann wieder dachte er seine Büchse zu nehmen, sich hinter einer Hecke zu verbergen und abzuwarten, bis jener endlich einmal vorüberginge; und indem er sich mit wilder Lust in diese Vorstellung vertiefte, bildete er sich ein, Fußtritte zu hören, und erhob bei diesem Geräusch behutsam den Kopf: er erkannte den Verruchten, legte die Büchse an, zielte, schoß, traf ihn, sah ihn sterbend niedersinken, schleuderte ihm noch eine Verwünschung nach und entfloh auf die Landstraße der Grenze zu, um sich in Sicherheit zu bringen. – Und Lucia? – Kaum hatte dieses Wort die verwirrten Sinne berührt, so zogen auch schon alle guten, besseren Gedanken in das Gemüth Renzo's ein.[50] Er erinnerte sich der letzten Ermahnungen seiner Eltern, er dachte an Gott, an die Madonna, an die Heiligen, an die Zufriedenheit, die er so oft in dem Bewußtsein seiner Unschuld empfunden hatte; er gedachte des Schauders, der ihn stets bei der Erzählung eines Mordes erfaßt hatte, und er erwachte aus seinem blutigen Traume mit Entsetzen und mit Gewissensbissen, aber auch zugleich mit einer gewissen Freude, daß er das Entsetzliche nur in der Einbildung begangen hatte. – Doch wie viele Gedanken drehten sich um den Gedanken an Lucia. Wie viele Hoffnungen, wie viele Verheißungen! Wie lieblich hatte ihnen die Zukunft gelächelt, auf die sie so fest gebaut hatten! Der so heiß ersehnte Tag, der sie vereinigen sollte, er war nun endlich da, und nun? Wie, mit welchen Worten sollte er ihr diese Nachricht verkünden? und dann, welchen Entschluß sollte er fassen? Wie sollte er sie jenem mächtigen Schurken zum Trotze zu der Seinigen machen? Zugleich fuhr ihm, wenn auch kein gegründeter Argwohn, doch ein qualvoller Zweifel durch die Seele. Der Schurkenstreich Don Rodrigo's konnte nur aus einer niedrigen Leidenschaft für Lucia hervorgehen. Und Lucia? daß sie ihm nur den kleinsten Anlaß, die leiseste Hoffnung könnte gegeben haben, ein solcher Gedanke kam Renzo keinen Augenblick in den Sinn. Aber, wußte sie darum? Konnte er diese schändliche Leidenschaft gefaßt haben, ohne daß sie etwas davon gemerkt hätte? Würde er die Sache so weit getrieben und sie nicht erst auf andere Weise versucht haben? Und Lucia hatte ihm niemals ein Wort davon gesagt! ihrem Verlobten! Von diesen Gedanken beherrscht, ging er an seinem Hause, das mitten im Dorfe lag, vorüber und eilte zu Lucia, die am entgegengesetzten Ende, fast außerhalb des Dorfes wohnte. Das Häuschen hatte einen kleinen Vorhof, der es von der Straße schied, und war mit einer niedrigen Mauer umgeben. Renzo trat in den Hof und hörte ein verworrenes, anhaltendes Gesumse von Stimmen, das aus einem oberen Zimmer kam. Er glaubte, es würden Freundinnen und Gevatterinnen sein, die zu Lucia's Brautgefolge gekommen seien, und auf diesem Weibermarkt wollte er sich mit seiner Neuigkeit, die ihm schon auf dem Gesichte lag, nicht sehen lassen.[51]
Ein kleines Mädchen, das sich im Hofe befand, lief ihm entgegen und rief: »Der Bräutigam! der Bräutigam!«
»Still, Bettina, still!« rief Renzo. »Komm her, geh hinauf zu Lucia, nimm sie bei Seite und sag' ihr ins Ohr .... aber daß es Niemand hört, noch gewahr wird, wer .... sage ihr, ich müsse sie sprechen, ich erwarte sie unten in der Stube, sie soll sogleich kommen.« – Die Kleine stieg eilig die Treppe hinauf, stolz und vergnügt, daß sie einen geheimen Auftrag ausführen durfte.
Lucia kam eben völlig geschmückt aus den Händen der Mutter; die Freundinnen rissen sich um die Braut, und alle wollten sie mit Gewalt sehen; sie erwehrte sich ihrer mit der etwas derben Züchtigkeit der Bäuerinnen; mit dem Ellenbogen das Gesicht deckend, bückte sie sich, und indem sie die langen schwarzen Augenbrauen finster zusammenzog, öffnete sich auch schon der Mund zu einem Lächeln. Das schwarze üppige Haar, über der Stirn durch einen weißen schmalen Scheitel geschieden, war auf dem Kopf in vielfachen Flechten zusammengesteckt, mit langen silbernen Nadeln, die rings umher vertheilt waren und gleichsam wie ein Heiligenschein strahlten, so wie die mailänder Bäuerinnen sich noch jetzt zu tragen pflegen. Um den Hals hatte sie eine Schnur von Granaten, die mit goldenen Knöpfen von Drahtarbeit abwechselten; sie trug ein schönes mit Blumen durchwirktes Mieder, dessen offene Aermel mit schönen Bändern verschnürt waren; ein kurzes Röckchen von floretseidenem Zeuche mit dichten, kleinen Falten, rothe Strümpfe und gestickte seidene Pantöffelchen. Was Lucia aber über all diesen hochzeitlichen Schmuck besonders zierte, war ihre alltägliche Sittsamkeit und Schönheit, heute noch mehr hervorgehoben und erhöht durch die verschiedenen Gemüthsbewegungen, die sich auf ihrem Gesichte abmalten, die durch eine leichte Unruhe gedämpfte Freude und jene sanfte Bekümmerniß, die sich zuweilen in den Zügen der Bräute zeigt und ihnen etwas Eigenthümliches giebt, ohne die Schönheit zu beeinträchtigen. Die kleine Bettina drängte sich unter die Schwätzerinnen, näherte sich Lucia, gab ihr vorsichtig zu verstehen, daß sie ihr etwas mitzutheilen habe, und sagte ihr ihr Wörtchen ins Ohr.[52]
»Ich kehre im Augenblick wieder«, sagte Lucia zu den Frauen und ging eiligst hinunter. Als sie Renzo's verändertes Gesicht und sein unruhiges Betragen gewahr wurde, sagte sie nicht ohne ein Vorgefühl des Schreckens: »Was giebt es?«
»Lucia!« erwiderte Renzo, »für heute ist alles zu Wasser; und Gott weiß, wann wir Mann und Frau werden!«
»Was?« rief Lucia ganz bestürzt.
Renzo erzählte ihr kurz die Geschichte von diesem Morgen; ängstlich hörte sie ihm zu, und als sie den Namen Don Rodrigo's vernahm, rief sie zitternd und erröthend aus: »Ach, mußt' es so weit kommen!«
»Du wußtest also ...?« fragte Renzo.
»Nur zu viel!« antwortete Lucia; »aber daß es so weit kommen mußte!«
»Was wußtest Du?«
»Laß mich jetzt nicht reden, laß mich nicht weinen. Ich will geschwind die Mutter rufen und die Frauen fortschicken; wir müssen allein sein.«
»Du hast mir nie etwas gesagt«, murmelte Renzo, indem sie abging.
»Ach, Renzo!« sagte Lucia und wendete sich einen Augenblick um, ohne stehen zu bleiben. Renzo fühlte sehr wohl, daß sein, in diesem Augenblicke, mit diesem Tone von Lucien ausgesprochener Name sagen sollte: kannst du zweifeln, daß ich nur aus richtigen, klaren Gründen geschwiegen habe?
Unterdessen war die gute Agnese, so hieß Lucia's Mutter, durch das Wörtchen, das der Tochter ins Ohr gesagt war, und durch ihr plötzliches Verschwinden argwöhnisch und neugierig geworden, heruntergekommen, um zu sehen, was es Neues gebe. – Die Tochter ließ sie bei Renzo zurück, eilte zu den versammelten Frauen und sagte, Gesicht und Stimme, so gut sie nur konnte, zur Ruhe zwingend: »Der Herr Pfarrer ist krank geworden; es kann heute nichts daraus werden.« Schnell dankte sie allen und ging wieder hinunter.[53]
Die Frauen zogen eine nach der andern ab, um den Vorfall weiter zu erzählen. Zwei oder drei gingen nach dem Hause des Pfarrers, um sich zu überzeugen, ob er wirklich krank sei.
»Ein heftiges Fieber«, rief Perpetua vom Fenster aus. Dieses schlaue Wort, den Andern hinterbracht, schlug alle Vermuthungen nieder, die schon anfingen sich in ihren Köpfen zu regen und sich in abgebrochenen und geheimnißvollen Reden ankündigten.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
|
Buchempfehlung
Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.
48 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro