[101] Er schug ohne weiteres den am Fichtengehölz hinlaufenden Weg ein. Seine Vorsätze, aus eigenem Antrieb das Vorwerk nicht wieder aufzusuchen, waren verweht wie die leichten Staubwölkchen, welche die dicke, heiße, träge dahinstreichende Nachmittagsluft von dem ausgedörrten Feldweg aufnahm und vor seinen Augen zerblies. – Er scheute sich auch nicht, nachdem er die linke Flanke des Gehöftes umschritten, vor den geschlossenen Thorflügeln Halt zu machen und in den Hof durch dieselben Bretterspalten zu sehen, vor welchen zwei Tage früher der Bettler gekauert, dem die Armut ein paar Zehrpfennige hingeworfen hatte.
Ueber dem weißgebleichten Pflaster des öden Hofes, das seit vielen Tagen kein fallender Regentropfen benetzt, flimmerte die brütende Sonnenglut. Das Federvieh mochte sich von den glühenden Steinen in dunkle Stallecken zurückgezogen haben, und der angekettete Hund, der jenseits der Mauer bei den nahenden Schritten des Gutsherrn einen schwachen Kläffversuch gemacht, hatte es auch wieder aufgegeben, bei der Hitze zu rebellieren. In dem Zimmer der alten Leute dagegen, die das alte feuchte Gemäuer des niederen Wohnhauses Tag und Nacht anfröstelte, schien der heiße Brodem willkommen zu sein – zwei Fenster standen weit offen. An dem einen saß lesend der Amtmann, und durch das andere sah Herr Markus die Kranke mit gefalteten Händen still in ihren Kissen liegen. Die beiden Alten waren allein; hinter den gardinenlosen Fenstern zur Rechten der geschlossenen Hausthür rührte und regte sich nichts, und das Mansardenfenster streifte der Blick des Suchenden nur flüchtig – es war ihm sehr gleichgültig, ob Fräulein Gouvernante hinter den Rosenstöcken sitze oder nicht; er hatte nur einen Gedanken, nur den einen! Und der trieb ihn an, nun auch nach rechts das Gehöft zu umgehen und das Küchenfenster zu inspizieren. Aber auch hier war es still und einsam,[101] wie im Garten, den er gleich darauf durchschritt, wie auf dem ganzen, zum Vorwerk gehörenden Gelände, das er über den Weißdorn hinweg übersehen konnte.
Er nagte zornig an der Unterlippe – sollte er wirklich nach dem Grafenholz gehen, um zu erfahren, daß er ein Narr sei, daß er demütigenderweise das Nachsehen habe? ... Wenn sie das zu Hause gewußt hätten! – Das Triumphgeschrei seiner Bekannten, die er so oft mit ihrem »Liebesfieber« gehänselt, die Entrüstung seiner Stiefmutter, die eine Geheimratstochter war, das boshafte Gekicher der jungen Damen, denen gegenüber er oft genug den ganzen Uebermut eines Unbesiegten geltend gemacht, er malte sich das alles in den lebhaftesten Farben; aber dabei durcheilte er immer hastiger sein eigenes Waldrevier und arbeitete sich schließlich durch das Gestrüpp nach dem Schlupfwinkel hinter der Buche, von welchem aus er das Forstwärterhaus beobachten konnte.
Er begriff, daß es stets wie eine Art Rettung des Leibes und der Seele empfunden werden müsse, das wüste, staubumwirbelte Gehöft am Fichtenhölzchen mit dem roten Hause da, wenn auch nur für Stunden, zu vertauschen. Wie ein schmucker, rotglänzender Würfel lag es da auf grüner Rasendecke, die kein sonnenversengtes Hälmchen entstellte, mitten im dunkelnden Buchengrün, hinter sich die himmelhohe, steile, quellenreiche Waldwand, die strotzendes Leben in rieselnden Wasseradern zu Thale schickte.
Heute hatte es seine Physiognomie in etwas verändert; die Vogelkäfige mit ihren lärmenden Insassen hingen nicht am oberen Giebelfenster, und alle Fenster der Eckstube, welche der Forstwärter für die Kranke auf dem Vorwerk reservieren wollte, waren durch niedergelassene Rouleaus verdunkelt – eine tiefe Ruhe webte um das Haus, eine so behütete Stille, daß man hätte meinen können, die nervenleidende alte Dame sei bereits hierher übergesiedelt.
Jedenfalls lag die Wohnung unter festem Verschluß – es war niemand daheim, und deshalb verließ der Gutsherr nach kurzem Verweilen seinen Observationsposten, um zurückzukehren – in diesem Augen blick machte ein plötzliches, schallendes Gelächter seinen Fuß stocken. Es kam von der Hausecke mit den verhüllten Fenstern her – ein anhaltendes, tolles, ausgelassenes Lachen, das, in die tiefe Waldruhe hineinklingend, roh und verletzend das Ohr berührte. – Darauf folgte erregtes Stimmengemurmel, und der eine Rollvorhang flog ein wenig auf, als bewege ihn ein unruhiges Treiben im Inneren der Stube ... Der Herr Forstwärter[102] hatte Besuch, eine Gesellschaft guter Freunde, die es sich im kühlen Zimmer wohl sein ließen. Wie Herr Markus meinte, mochten da drüben in der traulichen Ecke Tabaksqualm und Bierdunst die Luft erfüllen, und über dem Kartenspiel wurden die lachenerregenden Späße nicht vergessen.
Nun, es war ihm unmöglich, sich das Mädchen in einer solchen Umgebung zu denken – hier war sie nicht! Ihrem stolzen Blick gegenüber wagte sich gewiß kein solch brutales Männerlachen hervor, und doch – gerade in diesem Moment wurde die Hausthür geöffnet, und die Magd trat heraus.
Sie hatte einen irdenen Krug in der Hand und stieg die Stufen herab, die Arme lässig am Leibe niederhängend, mit gesenkten Augen und die Brauen schmerzhaft zusammengezogen – das Bild eines traurigen Insichgekehrtseins.
Der junge Mann hinter der Buche hatte in seiner Empörung auf sie zustürzen wollen; allein er blieb unwillkürlich stehen, als gehe von dieser still herabschreitenden Mädchengestalt ein Schein aus, der die herandrängende dunkle Leidenschaft abwehre ... Sie schritt um die Hausecke nach der Quelle am Abhang, welche, in die primitivste Holzrinne gefaßt, ihr kristallhelles Wasser in einen Brunnentrog goß.
Herr Markus ging dem Mädchen nach, und als sie seine Schritte hinter sich hörte, wandte sie sich nach ihm um. Er war ihr bereits so nahe, daß er sehen konnte, wie sie sich verfärbte, wobei aber auch die Schmerzensfalte zwischen den Brauen so plötzlich verschwand, als sei sie weggewischt.
»Wollen Sie sich mit einem frischen Trunk erquicken?« fragte sie, den Krug auf ein Brett unter den rauschenden Wasserstrahl stellend. »Ich werde ein Trinkglas aus dem Hause holen –«
»In der Bibel steht: ›Und eilend ließ sie den Krug hernieder auf ihre Hand und gab ihm zu trinken‹«, versetzte er sarkastisch, indem er ihr den Weg nach dem Hause vertrat. »Wenn Sie Rebekka sein wollen, dann müssen Sie sich auch bibelfest zeigen. Aber ich danke Ihnen, ich mag auch aus dem Kruge nicht trinken ... Klares Brunnenwasser!« höhnte er. »Sollte es wirklich nur dieser ›frische Trunk‹ sein, den Sie auch da drüben in der Eckstube der lachenden Gesellschaft kredenzen?«
Sie erschrak heftig, das sah er mit grimmiger Schadenfreude. »Hört man den Lärm draußen?« fragte sie stockend.
»Ei, wundert Sie das – Ich sollte doch meinen, es wären[103] recht ausgiebige Stimmen, die sich dort vergnügen! Ich hoffte schon, die Herren sollten nun auch ein fröhliches Trinklied anstimmen –«
»Sie irren sich,« warf sie mit erblaßten Lippen ein – ein feuchter Glanz verschleierte den Blick, der ihn unsicher streifte.
»Nun denn – ich irre mich! Es sind vielleicht Betbrüder, die dort in der Eckstube zusammenkommen – möglich ist's ja!« – Er zuckte die Achseln. – »Was geht es im Grunde auch mich an? ... Aber eins möchte ich Sie doch fragen: ›Weiß Ihre Herrschaft um diesen Ihren Verkehr im Forstwärterhause?‹«
Sie hob ängstlich abwehrend die Hände. »O nein, nein – die alten Leute haben keine Ahnung, und sie dürfen es auch nicht erfahren –«
»So – damit wollen Sie wohl auch mir ein Schloß vor den Mund legen?« fragte er an sich haltend, scheinbar gleichmütig.
»Ich muß Sie allerdings inständigst bitten, falls Sie noch einmal vor Ihrer Abreise auf das Vorwerk kommen sollten, nicht davon zu sprechen. – Ich bitte Sie, Herr –«
»Mein Gott, ja, wenn es denn durchaus sein muß! Ich kann auch schweigen, obschon ich mich sonst nicht zum Beschützer unlauterer Geheimnisse qualifiziere –«
»Unlauter?!« – Sie trat von ihm weg, und er mußte sich fragen, ob dieses Mädchen, das mit einem einzigen Wort, einer einzigen Bewegung eine ganze Skala aufgestürmter Empfindungen zum Ausdruck brachte, entweder eine vollendete Komödiantin, oder eine durchaus reine, unter der Herrschaft hoher Bildung stehende Seele sei.[104]
Er bejahte sich tieferbittert das erstere. War denn da ein Zweifel? War die übertriebene Prüderie, mit welcher sie neulich seinen Blick auf ihr verhülltes Gesicht abgewehrt, nicht die schnödeste Komödie gewesen, angesichts der Thatsache, daß sie hier vor den Augen der lärmenden Männer ohne die entstellende Hülle des »Scheuleders« und des plumpen, dicken Busentuches ungeniert verkehrte? – Und nun hatte sie auch noch die Stirn, ihn mit sanfter, beweglicher Stimme um Diskretion zu bitten ... Und dabei der bezwingende Liebreiz ihrer Erscheinung, dieses beseelte Gesicht unter dem dicken, nach dem Nacken zurückwogenden Dunkelhaar! Ihm war, als ringle sich eine buntschillernde Natter sanft schmeichelnd nach seinem Herzen, der er in Zorn und Schmerz den Kopf zertreten müsse.
»Aergert Sie das häßliche Wort?« fragte er schneidend. »Nun denn, sagen wir ›interessant‹, das in teressante Geheimnis! ... Mit den alten Leuten werden Sie leichtes Spiel haben – sie kommen beide nicht über die Schwelle der Hausthür und können Ihren Spuren nicht nachgehen; und ich – nun, ich habe Ihnen ja mein Wort gegeben, daß ich schweigen will – jawohl, schweigen, als wenn mir eine mörderische Hand die Kehle zuschnürte ... Aber wie steht es mit Dame Blaustrumpf? Sie ist nicht an ihre Mansardenstube gefesselt und hat flinke Füße, wie ich mich gestern abend überzeugen durfte. Sie schwebt wie eine Fee und macht es möglich, urplötzlich wie ein Sommerwölkchen zu verschwinden, das der Wind in den Lüften zerbläst – so kann sie auch jeden Augenblick in ihrem grauen Spinnwebenschleier aus jeder beliebigen Waldecke hergeflattert kommen – was dann? –«
Ein kaum merkliches Lächeln schlüpfte um ihre Lippen; sie bog sich über den Brunnen und rückte das Brett mit dem überströmenden Krug aus dem Bereich der Rinne. »Ich glaube Ihnen schon gesagt zu haben, daß ich gar nicht im stande bin, irgend etwas ohne ihr Mitwissen zu thun,« antwortete sie, ihrer augenblicklichen Beschäftigung zugewendet.
»Ja, das haben Sie gesagt,« bestätigte er. »Und ist es ja auch ganz natürlich, daß Ihr Fräulein ein solches Geheimnis patronisiert. Ist doch die Intrigue das Lieblingsspiel dieser Damen; und kann es einmal nicht in herrschaftlichen Salons sein, nun, dann nimmt man auch mit einer niedrigeren Sphäre vorlieb, lediglich aus Lust an der Sache ... Ich kenne diese stille Maulwurfsarbeit im Schoße der Familie – ich kenne sie! ... Natürlich[105] arbeiten sie am liebsten für sich selbst. Sie scheinen nichts zu hören, nichts zu sehen, saugen aber förmlich mit allen Poren die großen und kleinen Familiengeheimnisse in sich ein. Man hört nicht, wie und wo sie den Fuß aufsetzen, aber sie setzen ihn auf, das steht fest, und erklimmen meisterhaft Staffel um Staffel, bis sie plötzlich obenauf sitzen, die Demütigen, die Uebersehenen, und vor den Augen einer verratenen Braut, oder denen der Töchter eines verwitweten Vaters den Rahm abschöpfen. – Sollte die Kammerjungfer, die Vertraute der Gouvernante im Hause des Generals von Guseck, gar nichts davon zu erzählen wissen? –«
Das Mädchen stand noch halb abgewendet am Brunnen. Sie hatte einmal die Hände gehoben, um sie dann gefaltet wieder sinken zu lassen, und nun sah sie zurück, aber nicht mit dem erregten Blick des Verletztseins, den er an ihr kannte; es sprachen nur schmerzliches Erstaunen und schwerer Vorwurf aus den braunen Augen, die sie langsam zu ihm aufschlug, während sie gepreßt sagte: »Der verwitwete General von Guseck hatte einen erwachsenen Sohn und eine siebzehnjährige Tochter, die Braut war. Sie alle haben zu der Gouvernante der jüngeren Kinder vertrauend und hochachtungsvoll gestanden, als gehöre sie zu ihnen ... Und ich weiß, daß die Gouvernante dieses Vertrauen nie, auch nicht mit dem leisesten selbstsüchtigen Gedanken mißbraucht hat. Ich weiß es am besten – ich will die Hand darauf ins Feuer legen –«
»Ei ja, das fehlte noch!« unterbrach er sie herb auflachend. »Die arme, hartgearbeitete Hand da auch noch ins Feuer legen für diese geborene Selbstsucht! ... Sind Sie nicht mitgeschleppt worden in die Einöde, in Not und Mangel hinein, damit der Verwöhnten die Pflege und Bedienung nicht fehle? Die alte Frau auf dem Vorwerk sagt selbst, daß Sie zu der harten Feldarbeit nicht erzogen sind, und nun sind Sie gezwungen, sich diesen schweren Dienstleistungen zu unterziehen, weil Ihre vergötterte Dame sonst schwerlich – etwas zu essen haben würde.«
Sie schüttelte lebhaft den Kopf und biß sich mit den kleinen weißen Zähnen auf die Unterlippe. Es war, als kämpfte sie mit Gewalt eine Entgegnung nieder, während ihre Augen einen Moment in unbezwinglichem Humor aufleuchteten.
»Bemühen Sie sich nicht weiter,« wehrte er spöttisch jede Entgegnung ab. »Die Ehrenrettung gelingt Ihnen doch nicht – ich weiß das wirklich besser! – Haben diese Damen einmal vom[106] berauschenden Becher des Reichtums gekostet, dann sind sie verloren und verdorben für das häusliche Leben. Sie träumen und denken dann nichts anderes mehr, als sich die Position inmitten des himmlischen Wohllebens für immer zu befestigen, und dazu soll und muß ihnen nun solch ein armer, unglücklicher, reicher Mann helfen, gleichviel ob er grauhaarig und altersmürrisch, oder jung und simpel ist, ob er überhaupt will oder nicht ... Vielleicht wußten die im Hause des Herrn von Guseck das recht gut und waren auf ihrer Hut, wie ich ja auch lieber zeitlebens einsam bleiben, als eine ehemalige Gouvernante zur Herrin meines Hauses machen würde – lieber das erste beste Bauernkind vom Walde, wenn es nur die Ehrlichkeit auf dem Gesicht und die Wahrheit im Herzen hat!«
Er sah, wie ihr alles Blut aus den Wangen wich, aber sie erwiderte nichts mehr. Sie ergriff den Krug, um ihn von dem Brett zu heben und sich zu entfernen.
»Nun, gehen Sie wirklich wieder dort hinein?« – Er zeigte nach dem Forstwärterhaus. – »Hat denn das wüste Lärmen gar nichts Zurückschreckendes für Sie?«
Sie sah seitwärts, unter halbgesenkten Wimpern hervor, nach ihm hin. »Ich habe starke Nerven, fast wie ein robustes Bauernkind vom Walde, das ja vor dem Sonntagslärm in der Schenke auch nicht zurückschreckt,« entgegnete sie mit großer Schärfe. »In diesem Falle wird übrigens gar nicht gefragt, ob ich mich entsetze oder nicht – ich habe mich einfach dem ›Muß‹ zu fügen –«
»Damit wollen Sie sagen, daß Sie bereits durch Pflichten an das Haus gebunden sind,« fiel er tonlos ein. »Aber welcher Art diese Pflichten sind, darüber mögen sich die Leute ebenso den Kopf zerbrechen, wie über Fräulein Gouvernante, die wie ein Götterbild hinter geheimnisvollen Schleierwolken steckt.« – Sein Ton wurde spitz und satirisch. – »Mein Gott, ja, es mag schon lustig sein, die Welt an der Nase herumzuführen, sehr amüsant sogar, und ich verdenke Ihnen diesen Zeitvertreib keinen Augenblick. Die ansässigen Leute im Hirschwinkel freilich sind nicht so harmlos, wie ihr neuer Herr – sie lösen die Rätsel auf ihre Weise und finden kein entschuldigendes Wort für Amtmanns Magd, die zu allen Tageszeiten in das Waldhüterhaus geht – der Mann haust allein –«
Er verstummte. Es war ihm selbst peinlich, zu sehen, wie ihre Hand kraftlos vom Krughenkel niedersank, wie ihr das heiße[107] Rot aufstieg bis unter das Haar an Stirn und Nacken. Den Blick schamvoll weggewendet, stand sie einen Moment unbeweglich, und zum erstenmal sah er die Umrisse ihres Profils, die daran schließende feine Linie des Halses so regungslos vor sich, wie ein auf dem dunklen Hintergrund des Buchengrüns fixiertes Bild.
Ueber die obere Halspartie lief ein Samtbändchen, wie ein dünner, mit dem Tuschpinsel ausgeführter, trennender Strich. Unwillkürlich kamen dem jungen Mann die Worte Fausts: »Wie sonderbar muß diesen schönen Hals – ein einzig rotes Schnürchen schmücken« – zu Sinne; und der herrliche Thalgrund wandelte und verengte sich ihm zur düstern Schlucht; das Waldhüterhaus mit seinen verhangenen Fenstern und dem wilden Treiben dahinter, von welchem das Mädchen in sichtlicher Angst wünschte, daß es draußen nicht gehört werden möge, sah plötzlich aus, als dürfe sich das Verbrechen hineinschleichen und drin herbergen ... Und hierher ging sie, heimlich, Zeit und Muße dazu förmlich stehlend, wie magnetisch in einen unheimlichen Strudel hineingerissen. – Ein wilder Schmerz durchfuhr ihn bei der Befürchtung, daß sie bereits hinabgestürzt sein könne. Aber stand sie nicht da wie eine aus dem Nachtwandeln Aufgeschreckte, entsetzt, die flammenden Zeugen einer namenlosen Bestürzung auf dem Gesicht? – Vielleicht verscheuchte sie dieser eine bittere Moment für immer aus dem Grafenholz! – Er hoffte es, in unbeschreiblicher Spannung keinen Blick von ihr wendend; aber gerade jetzt sah sie wieder auf – eine finstere Entschlossenheit sprach aus ihren Zügen.
»Ich frage nichts nach den Lästerzungen,« sagte sie kurz und warf den Kopf auf.
»Auch nicht, wenn Ihnen respektable Leute ihre Thür verschließen?« rief er heftig. »Frau Griebel protestiert energisch gegen Ihre Uebersiedlung in das Gutshaus, um ihrer unschuldigen Tochter willen!« fügte er in grausamer Deutlichkeit hinzu.
Das schien sie in das Herz zu treffen. In stummer Qual ballte sie die Hände und drückte sie gegen die Brust, und doch sagte sie gleich darauf gefaßt, mit großer Bestimmtheit: »Die[108] Frau wird mir diese Härte später abbitten. Sie ist übrigens nicht die Gebietende auf dem Gute, die Entscheidung hängt von Ihnen ab, und Sie werden mir die Thür nicht verschließen –«
»So – meinen Sie?« unterbrach er sie mit zornigem Lächeln. »Wofür halten Sie mich denn?«
»Wofür ich Sie halte?« wiederholte sie und schlug die Augen langsam zu ihm auf. »Ich halte Sie für einen edlen Mann, für die Großmut selbst. Wenn Sie können, so vergessen Sie die bösen Worte, die ich Ihnen in meiner Verblendung zu sagen gewagt habe ... Wie mußte ich mich schämen, als ich erfuhr, in welcher Absicht Sie auf das Vorwerk gekommen waren! Sie haben die alten Leute aus Not und Sorgen errettet! Sie sollten sehen, wie die arme Kranke neu auflebt, seit sie sich unter Ihrem Schutze weiß – schon dafür allein möchte ich Ihnen danken« – sie brach ab und streckte ihm fast schüchtern die Hand hin.
Aber sein verdüstertes Gesicht hellte sich nicht auf. »Lassen Sie das!« ließ er sie hart an und wies mit einer heftig schüttelnden Handbewegung ihre Rechte zurück. »Wofür danken denn Sie? – Ich frage, was geht es die Magd an, wenn ich mit meinem Pachter eine Vereinbarung treffe? Davon verstehen Sie nichts und sollten sich doch ja nicht hineinmischen.« – Groll und Verdruß preßten ihm hörbar die Kehle zusammen. – »Und Ihre Beschuldigungen halten Sie nur immerhin aufrecht! Ich bin nicht gut, ganz und gar nicht, und in diesem Augenblick am allerwenigsten – alles Böse ist lebendig in mir, alle Bosheit und Schadenfreude; wenn ich Ihnen einen Schmerz zufügen könnte, ich thät' es mit Genuß –«
Das Mädchen streifte ihn mit einem scheuen Seitenblick – er sprach so laut und heftig.
»Und dann, bleiben Sie doch bei der Wahrheit!« fuhr er beherrschter, aber um so anzüglicher fort. »Für die alte Frau danken Sie, und die verwöhnte Prinzessin in der Mansarde ist gemeint. – Ach ja, Sie denken, die Bel-Etage im Gutshause sei immerhin ein Aequivalent für die Guseckschen Salons, eine Art Erholungs- und Verschönerungsstation, in welcher dem Vogel die verschnittenen Flügel wieder wachsen sollen. Fräulein Gouvernante ist selbstverständlich wieder einmal die Hauptperson – wir werden wohl das Gutshaus feierlich bekränzen müssen, wenn sie ein zieht.«
Sie sah niedergeschlagen aus und schüttelte den Kopf. »Die armen Gouvernanten! In Ihren Augen thäten sie jedenfalls besser,[109] ihre Lehrbücher zuzuschlagen und für andere zu scheuern und zu waschen.« – Sie seufzte leise auf. »Nach Ihrer vorgefaßten Meinung ist Agnes Franz eine eitle, arbeitsscheue Zierpuppe;« – ein melancholisches Lächeln flog um ihren Mund, als er spöttisch eifrig mit einer ironischen Verbeugung bejahte – »aber wäre sie es auch je gewesen, die Ziererei hätte ihr vergehen müssen bei ihrer Heimkehr ... Ich will ja nicht leugnen, daß sie anfangs nahe daran gewesen ist, die Flinte ins Korn zu werfen und ihren schweren Pflichten in voller Verzweiflung davonzulaufen. Bis ein zwanzigjähriger Mädchenkopf dem strengen Schicksal gegenüber mit sich selber fertig wird, dazu gehört viel, unaussprechlich viel. Aber sie hat sich ja doch hineingefunden.« – Einen Moment schwieg sie, als überwältige sie die Erinnerung an das Elend, in welches auch sie von fernher mitgekommen – dann atmete sie erleichtert auf. »Und nun wird ja alles gut! Die lieben, alten Leute sind wohl versorgt für ihren Lebensrest; nun kann sie getrost ihren Beruf wieder aufnehmen. Sie wird freilich so lange Ihre Gastfreundschaft annehmen müssen, als die Kranke ihre Pflege braucht –«
»Mein Gott, was kümmert mich das? Wir werden uns nicht in den Weg kommen. Ich reise in den nächsten Tagen ab. Mag sie doch so lange im Gutshaus bleiben, als sie Lust hat! ... Aber Sie?! –«
»Ich?« Sie legte die Hände auf die Brust und sah vor sich nieder. Er war empört über den Anflug eines reizenden Lächelns, das ihr Antlitz unbeschreiblich verschönte – in diesem Augenblick zu lächeln! Sie war doch genau so frivol und weltverdorben wie ihre Dame! – »Nun, ich werde auch bleiben,« sagte sie, ohne aufzublicken. »Wenn Sie das eine wollen, werden Sie das andere müssen.«
»Ei, was Sie da sagen! Darin irren Sie sich aber gründlich, denn ich werde nicht müssen, es sei denn« – er hielt inne und fixierte ihr Gesicht in atemloser Spannung – »es sei denn, daß Sie die Skrupel meiner braven Griebel beseitigen, indem Sie mir versprechen, das Haus dort von dieser Stunde an nicht mehr betreten zu wollen.«
»Nein – das kann ich nicht!« entgegnete sie ohne Zögern, ernst und bestimmt.
Er trat von ihr weg, die Augen voll Haß und Grimm. »So gehen Sie Ihres Weges – ich verliere kein Wort mehr!«[110] rief er. »Nur eines sollen Sie noch wissen,« – er bog sich wieder hinüber und sagte verbissen: »Sie sollen erfahren, daß ich Sie vom Grund meines Herzens verachte.«
Sie fuhr empört auf. Einen Augenblick maßen sich diese beiden Menschen mit Zornesblicken; aber wenn er die Thränen, die ihr an den Wimpern zitterten, für Zeugen mädchenhafter Schwäche und Hilflosigkeit hielt, so irrte er sich. Sie wandte ihm plötzlich mit einer stolzen Wendung den Rücken und hob den Krug vom Brunnenbrett.
»Wissen Sie darauf gar nichts zu sagen?« rief er zürnend.
»Nichts! – Was liegt daran, ob Sie die arme Magd des Amtmanns verachten oder nicht! Sie will nur für ein paar Menschen da sein – für sie ist die Beachtung von seiten anderer nur eine Pein.«
Damit schritt sie vom Brunnen weg, direkt nach dem Forstwärterhaus.
»Grüßen Sie mir Ihre lustigen Freunde da drüben!« rief er ihr in beißendem Tone nach.
Die weiche Luft schien die Laute zu verwehen, noch ehe sie das Ohr des Mädchens erreichten. Nicht die geringste Bewegung verriet, daß sie seinen impertinenten Zuruf gehört habe. Sie ging festen Schrittes weiter und war im nächsten Augenblick hinter der Hausecke verschwunden.[111]
Ausgewählte Ausgaben von
Amtmanns Magd
|
Buchempfehlung
Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.
42 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro