[119] Er behielt die Zaunthür in der Hand, damit sie beim Zufallen nicht knarre, und blieb einen Augenblick bewegungslos in dem schattigen Himbeergebüsch stehen, weil – nun, weil es da so erquickend kühl war ... Und da sah er das Mädchen drüben auf dem abgemähten Grasfleck, wie sie sich eben aufrichtete und das veilchenduftende Taschentuch der Gouvernante aus der Tasche zog, um ihr Gesicht hinein zu drücken – die Intimität zwischen Herrin und Dienerin erstreckte sich somit, wie der Augenschein lehrte, selbst bis auf die Gütergemeinschaft.
Sie kehrte ihm den Rücken zu, und an der Bewegung ihrer Schultern sah er, daß sie krampfhaft atmete. Fast in demselben Moment stand er neben ihr. »Warum weinen Sie?« fragte er halb im Spott, halb beunruhigt.
Das Mädchen stieß einen schwachen Schreckenslaut aus und ließ unwillkürlich das Tuch vom Gesicht fallen. Ja, die Lider waren rot vom Weinen, aber aus den Augen flammte den Fragenden die tiefste Indignation an. Sie antwortete nicht und nahm die Sichel vom Boden auf, als beabsichtige sie, aufs neue zu arbeiten, ohne ihn und seine Frage zu beachten.
»Soll ich keine Antwort bekommen?« fragte er weiter mit verhaltener Stimme.
Sie kämpfte sichtlich mit sich selbst. »Nicht eher, als bis ich Ihnen beweisen kann, daß Sie mich schwer beleidigt haben,« kam es ihr gepreßt zwischen den Zähnen hervor.
»Das wollen Sie beweisen?« – Er lachte hart auf. »Ich möchte wohl wissen, wie Sie das anfangen werden! – Aber das sage ich Ihnen,« – sein Ton wandelte sich plötzlich und nahm eine leidenschaftliche Färbung an – »fußfällig wollte ich Sie um Verzeihung bitten, wenn Sie mich überführten.«
Sie sah überrascht, mit ungewissem Blick auf und wurde glühendrot – dann senkte sie den Kopf tief auf die Brust, in der That wie eine Schuldbewußte.
»Ich wußte es ja,« sagte er bei diesem Anblick verächtlich. »Sie waren gestern abend im Grafenholz –«[119]
»Sie auch,« warf sie ruhig ein.
Diese Gelassenheit frappierte ihn, und dabei schämte er sich in seine Seele hinein der Spionage, bei welcher ihn das Mädchen ertappt hatte. »Ach, ich wußte nicht, daß man im Forstwärterhaus die Waldspaziergänger kontrolliert!« sagte er, zwischen Verlegenheit und grenzenlosem Aerger schwankend.
»Dazu hat man im Forstwärterhaus weder Zeit noch Lust,« versetzte sie ebenso ruhig wie vorher. »Der Hund schlug an –«
»Und da schauten Sie nach dem Heimkommenden aus,« ergänzte er sarkastisch. »Die Abendsuppe war fertig – er brauchte sich nur an den gedeckten Tisch zu setzen. – Der hat's gut! ... Sie sind schon merkwürdig heimisch und rührig in Ihrem zukünftigen Heim!«
Sie sah ihn zuerst groß an; dann aber schien sie plötzlich zu verstehen. Sie wurde rot, und um ihre Mundwinkel zuckte es wie verhaltenes Spottlächeln. »Wir werden doch nicht in das Waldhaus ziehen?« warf sie halb fragend hin.
»›Wir‹ allerdings nicht, wenn Sie darunter Ihre Herrschaft mit verstehen. Ich glaube, Fräulein Agnes Franz würde sich für ein solches Unterkriechen im Hause ihrer ehemaligen Zofe bedanken.«
»Das Forstwärterhaus im Grafenholz gehört Seiner Durchlaucht, dem Fürsten,« entgegnete sie, das Lächeln niederkämpfend, »und ich wüßte nicht, wie ich je zu dem Recht kommen sollte, darüber zu verfügen ... Ich bin übrigens die längste Zeit in Thüringen gewesen – wenn ›Fräulein Agnes Franz‹ geht, verschwinde ich auch, um mir mein Brot draußen in der Welt zu suchen.«
In sprachloser Ueberraschung starrte er sie an. »Ich möchte Ihnen schon glauben,« sagte er langsam, ohne seinen Blick von ihr zu wenden, »wenn ich nicht wüßte, daß Sie – falsch sind.«
Ihre Lippen bebten; aber sie nahm die Beschuldigung scheinbar gelassen hin. »Ich widerspreche Ihnen nicht – warum soll ich in den Wind hineinreden? Sie sehen durch getrübte Gläser, und ich darf ja keinen Finger rühren, um der Wahrheit die Ehre zu geben ... Leider sind Sie allerdings nach einer Seite hin berechtigt, mir auch später nachzusagen, daß ich ein falsches Spiel gespielt habe –«
»Ja, das unverantwortliche Spiel weiblicher Gefallsucht, wie Sie es der gewiegten Salondame abgelauscht haben!«
»Nein, dazu bekenne ich mich nicht!« Sie sagte das entschieden, mit einem festen Blick in seine zürnenden Augen.
Er lächelte maliziös ungläubig. »Ich möchte wissen, wie der Mann im Forstwärterhaus darüber denkt?«[120]
»Der denkt und sagt jeden Tag aufs neue: ›Gott sei Dank, daß die furchtbare Sorgenzeit auf dem Vorwerk überstanden ist!‹ Er hat das Gefühl der Erlösung, wie ich auch.«
»Und kraft dieses Trostes soll er es schleunigst verwinden, daß Sie nebenbei grausam mit ihm gespielt haben?«
Das Mädchen warf stolz den Kopf auf, und eine scharfe Antwort schwebte ihr unverkennbar auf den Lippen; aber sie beherrschte sich und fragte ganz ruhig: »Nennen Sie die harte, schwere Feldarbeit, die wir allerdings wie ein paar getreue Kameraden in Gemeinschaft auf uns genommen haben, Spielerei? ... Fritz Weber ist ein braver, prächtiger Mensch, dem ich zeitlebens dankbar sein werde. Ich habe ihm deshalb auch versprochen,« – ein leichter Zug von Schelmerei kam und verschwand rasch auf ihrem schönen Gesicht – »seine Hochzeit in Person mitzufeiern, und wenn ich übers Meer her kommen müßte. In zwei Jahren wird er so gestellt sein, daß er die treue Braut aus seiner ehemaligen Garnison Magdeburg heimholen kann.«
Die Züge des Gutsherrn hellten sich auf, als gehe ein Leuchten durch seine Seele. »Und übers Meer würden Sie dann kommen? – Will denn Fräulein Gouvernante ihr Glück drüben versuchen?«
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht!« sagte sie lakonisch obenhin und fuhr mit den schlanken Fingern über die Sichelklinge, als gelte es, einen Fleck wegzuwischen.
»Lassen Sie das!« wehrte er ihr nervös irritiert. »Sie werden sich verletzen! – Werfen Sie doch das profane Instrument da fort! – Sie brauchen es nicht mehr, so wenig, wie Ihre Dame die Blumenmalerei!«
Das Mädchen ließ die Rechte mit der Sichel sinken; es fiel ihr aber nicht ein, das Gerät auf die Erde zu werfen. »Ich werde so lange arbeiten und auf meinem Posten bleiben, bis ein Ersatz für mich da ist,« entgegnete sie ernst gelassen. »Und weshalb ›meine Dame‹ auf eine Kunst verzichten soll, die sie liebt, das verstehe ich nicht.«
»Ei, sagten Sie denn nicht, daß sie über das Meer gehen würde? Nun sehen Sie, das ist der direkte Weg ins Schlaraffenland, zu dem erträumten Diamantenprinzen!«
Sie verzog geringschätzend die Lippen. »Was doch solch ein reicher Mann für eine hohe Meinung von der Macht des Besitzes hat,« sagte sie bitter.
Er lachte. »Wäre sie etwa falsch, diese Meinung? Gott bewahre! Sie bestätigt sich alle Tage! – Geben Sie einen Diamantenregen über Kopf und Schultern, einen Palast in volkreicher Metropole[121] und ein märchenhaftes Sommerhaus inmitten reicher Plantagen, und solch ein begehrliches Gouvernantenpersönchen wird den Spender all dieser Herrlichkeiten hinreißend finden, und wäre er schwarz und brutal wie der Teufel selbst ... Glauben Sie das nicht?«
»Mein Gott, ja – wenn Sie es sagen!« antwortete sie ebenso leichthin, wie er gesprochen. »Die eine, die ich meine, hat ja auch ihren Sparren. Ist es nicht grenzenlos vermessen, daß sie sich auch erlaubt, Sympathien und Antipathien zu haben, ganz wie Sie? Ich weiß, daß sie den Vorzug des Reichtums genau auf dieselbe Stufe stellt, wohin Sie die verhaßten Gouvernanten verweisen – tief unter ihre Wünsche.«
Die tiefste Gereiztheit sprach aus dieser scharfen Replik; aber er schien es nicht zu fühlen. »Ach, lassen Sie sich doch so etwas nicht weismachen!« lachte er. »Sie sind ein kluges Mädchen, an Geist für mich eine Art Wunderkind Ihrer Sphäre; aber das innerste Wesen Ihrer Gebieterin ist Ihnen doch ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. – Sie belügt Sie! Drum fort mit ihr nach dem ersehnten Eldorado! Ich wünsche ihr von ganzem Herzen fröhliches Gelingen! Mag sie doch nach ihrer Façon glücklich werden, wenn sie nur – ihren Schatten zurückläßt! ... Sie gehen nicht mit – nein? – Sie bleiben im Hirschwinkel?« sagte er nach einem tiefen Atemholen fast bittend.
Aber das ließ sie unberührt. »Hier bleiben? – Um vielleicht auf mein Schicksal zu warten?« fragte sie unbeschreiblich herb und spöttisch zurück.
»Es würde wohl rascher kommen, Sie wegzuholen, als Sie denken,« versetzte er in seltsam stockender Redeweise – klang es doch, als klopfe ein ungestümes Herz in diesen unsicheren Tönen. Er trat ihr plötzlich näher, aber da wich sie erschreckt, mit tiefverfinstertem Gesicht zurück und erhob wie in unwillkürlicher Notwehr die Rechte – die Sichelklinge blitzte zwischen ihnen auf.
»Ich werde Ihnen wohl dieses abscheuliche Spielzeug wegnehmen müssen!« zürnte er und griff mit einer raschen Bewegung zu ... Es geschah mit Gedankenschnelle, aber wie es geschehen, wußten wohl beide nicht – er fuhr zurück, und das Mädchen stieß einen Schrei aus und schleuderte die Sichel weit von sich.
»Trag' ich die Schuld?« stammelte sie entsetzt.
»Und wenn? War es nicht recht so?« fragte er, während er sein Taschentuch hervorholte und es um die verletzte Hand wickelte. »Strafe muß sein! – Daß doch solch ein dummer Teufel nie gewitzigt[122] wird!« – Er verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln des Spottes, das die schönen festen Zähne sehen ließ. – »Ich wußte schon am ersten Tage – da auf der Brücke bei der Schneidemühle, wo ich so famose Antworten bekam – daß die Disteln in Thüringen abscheulich stechen, und nun bin ich doch wieder so einfältig gewesen, ihnen ins Gehege zu laufen.« – Er verbeugte sich ironisch tief. – »So, nun sind wir quitt, schöne Prüde! Ich habe meinen Teil dahin!«
Sie antwortete nicht. In sich zusammengesunken hatte sie[123] dagestanden und die Augen in unbeschreiblichem Schrecken auf das weiße Foulardtuch geheftet, durch welches jetzt mit Blitzesschnelle große, rote Flecken drangen. Und nun, bei diesem Anblick, flog sie wie gejagt durch den Garten und verschwand im Himbeergebüsch.
Trotz seiner tiefen Verstimmung mußte er lachen. Diese tapfere Heldin, die eine schwere Lebensaufgabe wirklich heldenhaft und mutig auf ihre Schultern genommen hatte, sie konnte kein Blut sehen, sie ließ ihr Opfer im Stiche! ... Er fühlte, daß die Verletzung keine besonders schlimme war, und der kleine Aderlaß konnte ihm nicht schaden – rollte ihm ja doch seit Tagen das Blut so heiß und ungestüm durch die Adern, wie in der schlimmsten Fieberkrankheit, und verwirrte und verdunkelte ihm die Seele ... Schämen mußte er sich! Er verdiente von seinen Freunden grausam verhöhnt und verspottet zu werden. Hätten sie ihn nur jetzt sehen können, das Urbild des heimgeschickten dummen Jungen! – An das homerische Gelächter durfte er nicht denken, ohne daß sich ihm die Rechte zur Faust ballte! – Und mit der Verachtung, in die er sich gehüllt, war es auch nichts gewesen – du lieber Gott, was für ein kläglicher Notbehelf! Beim ersten Aufblick der verweinten Mädchenaugen hatte von dieser stolzen Verachtung nichts mehr existiert! ... Und der frische Humor, mit welchem er sich sonst alle Bedrängnisse sofort von Leib und Seele zu schütteln pflegte, er verfing diesmal auch nicht – er brachte es nicht einmal bis zum Galgenhumor.
Wie er so dahin ging – den Garten hatte auch er sofort verlassen – auf dem einsamen Weg am Fichtenhölzchen, wo ihn kein menschlicher Blick traf, wo es so still war, und die jungen, schaukelnden Triebe der Nadelzweige weich und kühlend über seine entblößte, heiße Stirn glitten, da rang er mächtig mit sich und den Gefühlen schmerzlichster Enttäuschung ... Er hatte einen Augenblick innerlich aufgejubelt, als breche plötzlich der volle Sonnenglanz eines grenzenlosen Glückes über ihn herein – das Mädchen war schuldlos, war frei, kein anderer hatte ein Anrecht auf sie, sie hatte es unwiderleglich bewiesen; aber was half ihm das? Er hatte sich ebenso überzeugen müssen, daß auch er keine Aussicht habe, sie zu besitzen; da half kein Beschönigen, kein Vertrösten auf später, und wie alle diese Vorflunkereien der trügerischen Hoffnung lauten mögen – das Mädchen wollte nichts von ihm wissen, das sagte ihm sein eigener grundehrlicher, gerader Sinn, und da hieß es, mannhaft kämpfen, auf daß »das bißchen Selbstachtung« nicht auch noch verloren gehe ...[124]
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