13

[127] Ich wäre am liebsten gleich auf der Schwelle umgekehrt und in den Hof gelaufen, um mich zu überzeugen, daß draußen die Julisonne wirklich noch am wolkenlosen Morgenhimmel brenne ... Ach, wie düster und kalt war es hinter diesen vergitterten Fenstern! Von der gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete freilich eine helle Hausfront herein, allein diese hartgrelle Fläche ließ die Schatten, die um die steingewölbte Decke und die braunen Ledertapeten webten, nur um so greifbarer dunkel erscheinen. Mit jedem Atemzug schluckte die Lunge eine dumpfe, dicke Luft, in der alle Blumen der Welt gestorben und eingetrocknet zu sein schienen.

An einer langen Tafel stand der alte Buchhalter. Er hatte graue Leinwandärmel über seine Arme gezogen und wühlte sortierend in einem Haufen kleiner Papierpakete; um ihn her waren mehrere Leute beschäftigt.

»Guten Tag, Herr Eckhof!« sagte Charlotte und reichte ihm im Vorübergehen in burschikoser Weise, wie etwa ein Student dem anderen, die Hand. Er grüßte freundlich zurück – vor Fräulein[127] Fliedner dagegen neigte er sich genau so steif und gefroren wie vor meinem Vater.

Wir durchschritten das große, saalartige Zimmer und traten in einen daranstoßenden Raum. Es war nur der Herr anwesend, obgleich mehrere Schreibpulte die Fensterwand entlang standen.

Der Herr saß so, daß er das ganze Zimmer und auch die Thür übersehen konnte, durch die wir eintraten. Bei unserem Erscheinen hob er den Kopf; dann stand er auf, ein wenig frappiert, wie es schien, und verließ den Fenstertritt, auf welchem sein Schreibtisch stand ... Er hatte ein schmales, edles, etwas blasses Gesicht.

Charlotte eilte, uns voraus, auf ihn zu.

»In der Morgenhaube, Charlotte?« fragte er, und ein großes, blaues, feuriges Augenpaar heftete sich befremdet auf das Gesicht der jungen Dame. Das lebhafte Rot ihrer Wangen färbte sich tiefer und lief bis unter das Stirnhaar hinauf.

»Ach Onkel, du bist ja allein,« sagte sie bittend, und ließ ihre Augen noch einmal flink durch das Zimmer schweifen. »Nimm es diesmal nicht so streng mit den Hausregeln – ich muß dabei sein, wenn du eine interessante Bekanntschaft machst.«

Ich hatte mich längst hinter Ilse geflüchtet.

»Das ist der Herr nicht, der mir die Thaler gegeben hat,« flüsterte ich ängstlich.

Charlottens scharfes Ohr hatte die Worte aufgefangen.

»Onkel,« sagte sie, wie ein Kobold in sich hinein lachend, »vor vier Wochen hat dich eine junge Dame in der Lüneburger Heide gesehen und will nun zu dem ›alten, uralten Herrn Claudius‹ –«

»Ach, das ist ja schließlich ganz egal, ob es der Herr ist oder nicht, den die Kleine gesehen hat,« fiel Ilse resolut ein. »Ich will mit Herrn Claudius sprechen, und der sind Sie doch?«

Er neigte mit dem schwachen Anflug eines Lächelns um seine Lippen den Kopf.

Und nun begann Ilse abermals ihren Bericht. Sie mußte ihn eingelernt haben, wie der Pfarrer seine Predigt! denn er schnurrte und rollte ohne Unterbrechung genau in der Reihenfolge herab, wie Fräulein Fliedner gegenüber.

Währenddem steckte ich hinter den Damen und betrachtete mir den Herrn genauer. Er hatte die schlanke, feingebaute Gestalt des alten Herrn im braunen Hut und auch seine Stimme; aber[128] das war ja unmöglich dessen Kopf. Ueber der jugendlich glatten Stirne lag ein Streifen dicker, aschblonder Haarwellen und Ringel, die allerdings im schrägeinfallenden Licht einen intensiven Silberschein annahmen. Auffallend erschienen unter diesem mattglänzenden Haar die dunklen Brauen. Fest und kühn die blauen Augen überwölbend, gaben sie dem blassen, vornehmen, wenn auch nicht gerade schöngebildeten Gesicht einen Zug von Kraft ... Ich sah, wie sich allmählich eine kleine Falte zwischen ihnen vertiefte – Ilses Vortrag mißfiel ihm offenbar, er hatte nicht die mindeste Lust, sich mit der Sache zu befassen; hier und da warf er einen Seitenblick auf den neben ihm liegenden, aufgeschlagenen Folianten; man sah, es war ihm fatal, gestört worden zu sein, wenn er sich auch höflicherweise Mühe gab, eine aufmerksame Haltung zu zeigen.

»Ich kann Ihnen nur raten,« sagte er kühl, als Ilse eine Pause machte, um Atem zu schöpfen, »die junge Dame so bald wie möglich in einem Institut unterzubringen –«

»Nein, Onkel!« unterbrach ihn Charlotte. »Es wäre grausam, das junge, scheue Geschöpfchen, das bis jetzt die ungebundenste Freiheit genossen hat, in diese Maschinen, diese Schablonen zu pressen! Das Leben im Institut ist schrecklich!«

»Es ist schrecklich, Charlotte?« wiederholte er tief betroffen. »Und du hast beinahe dein ganzes bisheriges Leben im Institut verbracht! ... Warum hast du nie gesprochen?«

Sie zuckte die Achseln. »Was hätte mir denn meine Klage genützt?« klang es ziemlich bitter von ihren Lippen.

Er sah sie streng und durchdringend an, sagte aber kein Wort mehr. In diesem Augenblick wurde die Thür aufgemacht; der alte Buchhalter trat ein, und ihm folgte ein hochgewachsener, sehr schöner, junger Mann. Der letztere erschrak sichtlich über die Anwesenheit der Damen und wollte sich wieder zurückziehen.

»Kommen Sie nur herein!« rief Herr Claudius. Seine Augenbrauen falteten sich ein wenig; er zog seine Uhr und hielt sie dem Eingetretenen hin.

»Es ist sehr spät, Herr Helldorf,« sagte er kalt.

Charlotte hatte den Gruß des jungen Mannes mit einem vornehm gleichgültigen Kopfnicken erwidert; bei den Worten ihres Onkels aber wurde sie feuerrot, und ein Zornblick streifte dessen Gesicht.

»Verzeihen Sie, Herr Claudius; ein Kind meines Bruders erkrankte vor einigen Stunden sehr heftig,« entschuldigte sich der[129] junge Mann mit leichtbebender Stimme und nahm Platz an seinem Schreibpult.

»Das thut mir leid – ist Gefahr vorhanden?«

»Gott sei Dank, sie ist vorüber!«

Herr Claudius wandte sich wieder zu Ilse. »Ich weiß in der That nicht, wie ich mich in der Angelegenheit nützlich machen kann,« sagte er. »Herrn von Sassen darf man doch bei seinem Beruf und seiner ganzen Lebensweise unmöglich zumuten, den Bildungsgang eines – wie Sie selbst sagen – ziemlich verwilderten jungen Mädchens zu leiten –«

»Das möchte ich schon gern übernehmen!« fiel Fräulein Fliedner ein.

»Und ich auch,« sagte Charlotte rasch.

»Es handelt sich hauptsächlich um die Verwaltung des kleinen großmütterlichen Vermögens, das Fräulein von Sassen zugefallen ist,« setzte die alte Dame hinzu.

»Nun, das, sollte ich meinen, könnte doch ihr Vater in die Hand nehmen.«

»Er will absolut nicht,« sagte Ilse rasch. »Und das ist mir auch gar sehr lieb, von wegen« – sie schwieg einen Augenblick wie verlegen um die passende Form – »na, von wegen der zerbrochenen Steinbilder und Scherben, die er immer kauft,« fügte sie rasch entschlossen hinzu.

Sie stellte den Blechkasten auf einen Tisch und schloß ihn auf. Herr Claudius griff hinein und durchlief die Dokumente.

»Es sind viel verfallene Koupons dabei; aber die Papiere sind gut,« sagte er und legte sie wieder in den Kasten. »Also ich soll das Geld verwalten ... Wollen Sie, daß die Zinsen zu dem Kapital geschlagen werden?«

»Ach ja, sparen Sie, soviel wie möglich!« versetzte Ilse. »Aber freilich, der Herr Doktor ist gar sehr vergessen, und da wird es wohl gut sein, wenn die Kleine manchmal selbst ein paar Groschen in die Hand bekommt, damit sie sich helfen kann.«

»Wo ist die junge Dame?«

»Aber so lassen Sie sich doch auch einmal sehen!« sagte Charlotte zu mir. Ehe ich mich dessen versah, hatte sie mir den Hut vom Kopf genommen, strich mir mit den Händen glättend über das wilde Haar und schob mich an den Schultern hin, so ungefähr, wie ein Kind, das seine eingelernten Geburtstagsverse hersagen soll. Diesmal trat ich vollkommen unbefangen hin. Vor[130] dem Mann mit der trockenen, ruhigen Geschäftsmiene fühlte ich nicht die mindeste Scheu – ich sah so arglos zu ihm auf, wie ich den alten Herrn in der Heide angesehen hatte. Ich glaube, ich hätte den Mut gefunden, ihm entschieden zu widersprechen, wenn er von seinen Totenkränzen aus getrockneten Blumen angefangen.

In dem Moment, wo sich unsere Augen begegneten, sah ich auch das Wiedererkennen in den seinen – er war doch der Herr mit der blauen Brille.

»Ach sieh da! Das seltsame, kleine Mädchen, das noch nie Geld gesehen hatte!« sagte er überrascht.

»Ja, Onkel, das Heideprinzeßchen, wie Dagobert sagt – die kleine, freie Heidelerche, die euch euer Geld vor die Füße geworfen hat und sich nicht so ohne weiteres in den Vogelbauer stecken läßt!« rief Charlotte lachend. »Nun, Kleine, machen Sie doch Ihre Reverenz vor dem alten Herrn!«

Es lief fein rötlich über das Gesicht des Herrn Claudius hin.

»Keine Possen, Charlotte!« sagte er so ernst und streng, wie er Dagobert in der unglückseligen Schuhaffaire zurechtgewiesen hatte.

»Sind Sie damit einverstanden, daß das Geld in meine Hände niedergelegt wird?« fragte er mich freundlich.

Es erschien mir so wunderlich, zum erstenmal in meinem Leben ernstlich über einen Besitz verfügen zu sollen, daß ich lachen mußte. »Gehört es mir denn wirklich?« fragte ich.

»I nun freilich – wem denn sonst?« sagte Ilse ärgerlich.

»Es gehört mir so, wie meine Hand da, oder meine Augen – ich kann eben damit thun, was ich will?« fragte ich beharrlich, aber auch fast atemlos vor Spannung weiter.

»Nein, so unumschränkt dürfen Sie augenblicklich noch nicht darüber verfügen,« sagte Herr Claudius – er hatte wieder den milden, weichen Ton, wie in der Heide. »Sie sind noch viel zu jung ... Wenn ich die Papiere, behufs der Verwaltung, übernehme, dann müssen Sie mir auch über jede Summe, die Sie von mir einfordern, Rechenschaft ablegen.«

»Ach, dann ist's nichts,« sagte ich niedergeschlagen und traurig.

»Haben Sie einen speziellen Wunsch?« Er bog sich nieder und sah mich fragend an.

»Ja, Herr Claudius, aber ich will ihn lieber nicht sagen – Sie erfüllen ihn doch nicht.«[131]

»So – hm, woraus schließen Sie denn das?« fragte er gelassen.

»Weil ich vorhin gesehen habe, daß Sie den armen Handwerksburschen ohne Almosen fortschickten,« antwortete ich mutig.

»Ach so, Sie wollen jemand unterstützen.« Er blieb völlig unbewegt, mein indirekter Vorwurf hatte ihm nicht den mindesten Eindruck gemacht.

»Aber was fällt denn der Kleinen ein?« rief Ilse ganz erstaunt. »Wen willst du denn unterstützen, Kind? Du kennst ja auf der Gotteswelt niemand!«

»Ilse, du weißt es,« sagte ich bittend. »Du weißt recht gut, wer jetzt in Not ist und vielleicht jede Stunde zählt, bis Geld aus Hannover kommt –«

»Höre, Leonore, wenn du mir damit kommst, da hat alles ein Ende,« unterbrach sie mich. Sie war so zornig, wie ich sie noch nie gesehen. »Ein für allemal, nicht ein Groschen wird hingegeben!«

»Nun, dann behaltet euer Geld!« rief ich heftig, während die hervorquellenden Thränen meine Augen verdunkelten. »Ich nehme aber auch nie einen Groschen davon – niemals, darauf kannst du dich verlassen, Ilse! ... Lieber will ich in der Hinterstube Totenkränze und Bouquets für Herrn Claudius binden!«

Er sah mich an. »Wer hat Ihnen denn schon von dieser Hinterstube erzählt?«

Meine Augen huschten unwillkürlich zu Charlotte hinüber. Sie errötete und lachte.

»Charlotte hat gescherzt, Herr Claudius!« sagte Fräulein Fliedner mild entschuldigend. Als mir die Thränen hervorbrachen, hatte die alte Dame sofort ihren Arm um meine Schultern gelegt und mich an sich herangezogen. Ilse dagegen erbitterte mein »kindisches Wesen« immer mehr. Sie legte ihre große, hartgearbeitete Hand schwer und dröhnend auf den Deckel des Blechkastens, als solle er damit gefeit und verschlossen werden für jeden unbefugten Eingriff.

»Herr Claudius, leiden Sie es ja niemals, daß Leonore Geld fortschickt!« warnte sie dringend. »Ich sage Ihnen, thut sie es einmal, nachher ist auch schon ihr bißchen Ererbtes so gut wie verloren! ... Ich kann Ihnen das nicht auseinandersetzen, – es ist eben eine schlimme Familiengeschichte, die begraben bleiben muß ... o Herr Jesus, daß einen solch ein junger Mund auch zwingt, so etwas vor anderen auszukramen! ... Kurz und[132] gut, es handelt sich um eine Verwandte, die Schande auf Schande über das Haus gebracht hat, die ausgestoßen ist –«

»Kennen Sie diese Anverwandte?« fragte Herr Claudius, sich an mich wendend.

»Nein – ich habe sie nie gesehen und weiß erst seit vier Wochen, daß sie lebt –«

»Sie bittet um eine Unterstützung?«

»Ja, in einem Briefe an meine tote Großmutter.... Aber niemand will ihr etwas geben ... Sie ist unter die Komödianten gegangen, sagte Ilse, und ist eine Sängerin –«

Ein heißes Erröten schoß über das Gesicht des Mannes – er schlug den Folianten neben sich zu.

»Aber sie hat ihre Stimme verloren, ihre wunderschöne Stimme!« fuhr ich fort und suchte angstvoll und bittend seine[133] Augen – er wandte sie weg. »Wie schrecklich muß es sein, wenn man singen will, und die Töne versagen! ... Ilse, du bist doch so gut, wie kannst du es nur über das Herz bringen, nicht zu helfen, wenn jemand in Not ist!«

»Wieviel beträgt die Summe, die Sie verlangen?« schnitt Herr Claudius mit seiner ruhig milden Stimme meine leidenschaftlichen Bitten ab.

»Einige hundert Thaler,« versetzte ich mutig.

Ilse schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Sie haben offenbar keinen Begriff, wie viel Geld das ist,« sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Mag es doch sein, soviel es will. Ich gebe es freudig hin – wenn sie nur ihre Stimme wieder bekommt!«

»Ja, das glaube ich!« lachte Ilse ingrimmig auf. »Solch ein Kindskopf handelt eben ins Tageslicht hinein und fragt viel danach, was daraus folgt!«

»Ich will Ihnen das Geld geben,« sagte Herr Claudius zu mir.

Ilse schrie förmlich auf.

»Seien Sie doch ruhig. Ich werde Sorge tragen, daß Fräulein von Sassen kein Verlust daraus erwächst – ich stehe dafür ein!« Er griff in eine neben dem Schreibtisch stehende Kassette und legte mir vier Banknoten hin. Dann warf er mit flüchtiger Feder einige Worte auf einen Briefbogen. »Haben Sie die Güte, diese Quittung zu unterschreiben.« Er reichte mir seine Feder hin.

»Das muß Ilse thun, – ich schreibe zu schlecht,« sagte ich unbefangen.

Ein verstohlenes Lächeln huschte durch seine Züge.

»Das wäre nicht geschäftsmäßig,« sagte er. »Wenn ich Ihnen das Kapital gebe, dann genügt die Unterschrift der Frau Ilse nicht ... Ihren Namen werden Sie doch schreiben können?« –

»O ja; aber Sie werden sehen, es sind schauderhafte Krakelfüße.«

Ich stieg auf die Estrade, setzte mich auf den gepolsterten Drehstuhl, den er mir zurecht schob, und sah vergnügt auf Fräulein Fliedner und Charlotte herunter, die beide lachten. Wie lächerlich mochte aber auch die schmächtige Mädchengestalt mit der unförmlichen Ratsherrnkrause und den wilden Locken aussehen auf dem ehrwürdigen Kontorstuhl, vor dem dicken, ernsthaften Folianten,[134] über den sie kaum ihre kleine Nase zu erheben vermochte! ... Ich lachte mit, und wie leicht kam mir das vom Herzen! Ich war ja so glücklich, daß ich das Geld für meine Tante erkämpft hatte.

Herr Claudius stützte seinen Arm auf den Schreibtisch, so daß seine Gestalt mich völlig von den anderen schied. Ich ergriff die Feder und begann ein L zu malen.

»Das geht aber nicht,« sagte ich und hielt inne, als ich bemerkte, daß er mich ansah. »Auf meine Hände dürfen Sie nicht sehen.«

»So, ist das verboten? Darf man fragen, weshalb?«

»Ei, sehen Sie das nicht selber? Weil sie so braun und abscheulich sind,« sagte ich unumwunden und ein wenig geärgert darüber, daß er mich zwang, es auch noch selbst auszusprechen.

Er bog lächelnd den Kopf weg, und ich begann eifrig weiter zu schreiben – es gehörten doch aber auch gar zu viel Buchstaben zu dem Namen!

Da ging die Thür auf und der junge Herr trat eilig herein. Die feuerfarbene Nelke sprühte zu mir herüber wie ein Glutball – ich ließ die Feder fallen und legte die Hand über die Augen; mir war, als drehe sich die ganze Welt vor mir im Kreise.

»Onkel,« rief er hastig, »ich bin mit dem Grafen Zell einig über den Preis – nur fünf Louisdor mehr, als du angenommen ... Ist dir's recht? Und willst du Darling nicht einmal ansehen? Ich habe ihn in den Hof bringen lassen.«[135]

»Herr Helldorf hat dich gegrüßt, Dagobert,« sagte Herr Claudius statt aller Antwort und zeigte auf den jungen Kommis.

Dagobert neigte den Kopf flüchtig dankend hinüber und trat, sichtlich erstaunt und ergötzt über meine Situation am Schreibtisch, näher heran.

»Himmel, Dagobert, eine sentimentale Nelke im Knopfloch?« rief Charlotte und schlug in die Hände. »Wie kommt denn die zu der Ehre?«

Dagobert lächelte verständnisvoll und schalkhaft zu mir hinüber. Ilse fing den Blick auf, der allen auffallen mußte.

»Ach, thun Sie doch nicht, als wenn Ihnen die Kleine da oben die Blume geschenkt hätte!« sagte sie trocken. »Er hat das arme Ding mit seinem Stock vor unseren Augen geköpft und läßt es nun auch noch in seinem Knopfloch elend umkommen,« wandte sie sich erklärend zum allgemeinen Ergötzen an die Umstehenden.

Der junge Herr zuckte, in das Gelächter einstimmend, die Achseln.

»Aber wie ist's denn nun, Onkel Erich, darf ich dich bitten? Willst du nicht mitkommen?« fragte er, indem er die Sache auf sich beruhen ließ.

»Geduld – erst muß ein Geldgeschäft erledigt werden,« sagte Herr Claudius. »Nun?« wandte er sich wieder zu mir und nahm seine frühere Stellung ein.

Die Feder lag noch auf der Quittung; ich hatte jetzt beide Hände über das Gesicht gelegt, denn ich fühlte, daß es glühendrot sein müsse.

»Ich kann nicht,« flüsterte ich.

»Gehe hinaus, Dagobert, damit kein Unfug im Hofe geschieht,« gebot er. »Ich komme in wenigen Augenblicken.«

Der junge Herr verließ das Zimmer.

»So, nun schreiben Sie,« sagte Herr Claudius beschwichtigend zu mir und heftete seine blauen Augen durchdringend, aber freundlich auf meine heißen Wangen.

Ich vollendete die letzten Züge und schob ihm das Blatt hin. Zugleich griff ich nach seiner Hand; es geschah zum erstenmal in meinem Leben einem Fremden gegenüber. »Ich danke Ihnen!« sagte ich aus vollem Herzen.

»Wofür denn?« fragte er in gütigem Tone zurück, Hand und Dank ablehnend. »Wir sind einfach in Geschäftsverbindung getreten, und dafür dankt man nicht.«

Ich stieg vom Fenstertritt herunter und legte meine Arme um Ilses Hals – ihr finsteres Gesicht ängstigte mich über die[136] Maßen. »Ilse, sei gut,« bat ich. »Das mußte sein. Siehst du, nun kann ich auch wieder ruhig einschlafen.«

»Ja, ja, die Ilse ist nun auf die Seite geschoben und hat nichts mehr zu sagen,« versetzte sie, aber sie wies mich nicht zurück. »Also das mußte sein. Nun meinetwegen – ich wasche meine Hände ... In der Heide konntest du vor einem fremden Gesicht nicht drei zählen und nun auf einmal, wo es gilt, deinen Kopf durchzusetzen, und wo du merkst, daß du andere auf deiner Seite hast, da kannst du schwatzen und lärmen wie eine Elster und hast Backen so heiß wie die Bratäpfel ... Zum Segen fällt dir die Geschichte nicht aus – denk an mich – dann kommst du mir aber nicht mit Klagen!«

Sie löste meine Arme von ihrem Halse, nahm meine Hand in ihre Rechte und wollte das Zimmer verlassen.

»Halt!« rief Herr Claudius, der sich unterdessen an seinen Schreibtisch gesetzt hatte und die Feder über das Papier fliegen ließ, »wollen Sie Fräulein von Sassens Vermögen ohne alle Bescheinigung in meinen Händen lassen?«

Jetzt wurden Ilses Wangen heiß wie die Bratäpfel. Sie schämte sich, so alle Vorsicht aus den Augen gesetzt zu haben, sie, die Besonnene, die »den Kopf stets oben behielt«.

»Da ist nur Ihr gutes Gesicht schuld, Herr Claudius – bei jedem anderen hätte ich ganz gewiß nicht vergessen, mir eine Bescheinigung auszubitten,« entschuldigte sie sich verlegen und nahm das Papier in Empfang, während ich die Banknoten, die ohne Herrn Claudius' Erinnern auch auf dem Tische liegen geblieben wären, in die Tasche schob – der strenge Geschäftsmann mochte einen schönen Begriff von der Gesellschaft aus der Heide bekommen.

»Gott, diese unausstehliche Pedanterie!« rief Charlotte in der Hausflur. »Als ob nicht die ganze Welt wüßte, daß sich die Firma Claudius mit solch lumpigen paar tausend Thalern nie die Finger beschmutzen würde! ... Aber da muß jeder Pfennig und jedes Samenkorn verbrieft und besiegelt werden!«

»Ordnung muß sein – vielleicht lernen Sie das doch noch einmal einsehen,« sagte Fräulein Fliedner und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Mantille, die im vorderen Zimmer einen leichten Staubstreifen mitgenommen hatte.

Die junge Dame warf den Kopf zurück. »Jetzt wollen wir Darling ansehen,« sagte sie statt jeder Antwort und sprang die Stufen zur Hofthür hinab.[137]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 2, Leipzig 21900, S. 127-138.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wilbrandt, Adolf von

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.

62 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon