Briefe über Kunst

I.


Sehr geehrter Herr Redakteur!


Sie fragen mich: »Was ist Kunst?« Ich könnte diese Frage entweder als einen guten Witz auffassen oder, wie zum Beispiel die andere Frage: » Was ist Wahrheit?« für eine Banalität. Ich könnte sie auch für eine versteckte Falle halten, in die sich meine Unwissenheit verirren soll, um gefangen genommen und dann Ihren Lesern vorgezeigt zu werden. Ich könnte sie, ganz im Gegenteile davon, auch für eine gute Gelegenheit nehmen, um zu zeigen, was für ein geistvoller Plauderer ich sei. Schließlich könnte ich mich von ihr wohl auch verleiten lassen, in tiefgründlicher und gelehrter Langweiligkeit alles zu wiederholen, was seit Tausenden von Jahren über diesen Gegenstand geschrieben und gesprochen worden ist, ohne daß wir dadurch zu einer kurzen und treffenden Definition des Begriffes »Kunst« gekommen sind. Aber da ich weder einen lobenswerten Witz noch ein tadelnswertes Mißtrauen besitze und auch weder ein kleiner Schwätzer noch ein großer Gelehrter bin, so tue ich nichts von alledem, sondern ich nehme Ihre Frage gerade so, wie Sie es wünschen. Denn ich weiß, daß Sie es mit der Kunst nicht weniger ernst meinen als ich, und daß sie Ihnen genau so heilig ist wie mir, nicht nur eine Verstandes-, sondern noch vielmehr auch eine Herzenssache. Sie ist überhaupt, nur die Religion ausgenommen, die höchste Verstandes- und die höchste Herzenssache, die es auf Erden gibt, und wer ihr dient, dient keinem gewöhnlichen Herrn.

Leider gebietet sie über ein Reich, welches nicht Jedermann geöffnet ist. Und viele von denen, die es betreten dürfen, lernen es vielleicht noch weniger kennen als die Draußenbleibenden, die sich ihr Wissen nur vom Hörensagen holen. Denn man hat in diesem Lande weder Droschke oder Omnibus noch Eisenbahn oder sonstige Gelegenheit, für schnödes Geld nach vorwärts oder gar nach oben befördert zu werden. Man kann da nur durch eigene Kraft und mit den eigenen Füßen steigen. Daher kommt es, daß sich die große Mehrzahl der Bürger dieses Landes nur unten auf der Ebene bewegt, wo es gebahnte und breitgetretene, bequeme Straßen gibt, »Kunststrecken« im direktesten Sinne des Wortes. Eine gute Zahl gelangt von hier aus auf schmaleren, doch immer noch wohlgepflegten Wegen bis in das Innere des Reiches, wo die Ebene zu steigen beginnt. Ein Teil von diesen wieder arbeitet sich ehrlich auf die Vorberge hinauf, wo ihrer eine nicht sehr angenehme Ueberraschung wartet. Denn während es ihnen bisher gelungen ist, sich mit allen den landläufigen Ansichten zu legitimieren, die in jedem Lexikon und in jedem Familienjournal zu lesen sind, starrt ihnen am Fuße der nun steil und pfadlos aufragenden Zacken des Hochgebirges in warnender Schrift eine ganz neue Forderung entgegen. Die lautet:

»Die Kunst ist diejenige Betätigung des menschlichen Geistes und der menschlichen Seele, welche in das Innere des Gegenstandes eindringt, um das Wesen desselben zu erfassen, und dann wieder nach außen zurückkehrt, um das Aeußere im Einklange mit dem Innern darzustellen!«

Erstaunt über diese ganz unerwartete, von der Redaktion des »Kunstfreundes« extra hierher bestellte Definition, hält man die Schritte inne, und nur wenige sind es, die sich getrauen, weiterzusteigen, weil sie glauben, dieser Forderung gerecht werden zu können. Was wird ihr Schicksal sein? Wie weit werden sie hinaufgelangen? Wer wird abstürzen? Wer wird verschwinden? Wer wird zurückkehren? Ganz hinauf kam noch keiner! Und was erwartet sie im Falle ihrer Wiederkehr? Die Kunde, die sie von da oben mitbringen, mag lauten wie sie will, man wird sie nicht verstehen. Wie Gott sich in sich selbst versenkte, als er beschloß, das All mit seiner Schöpfung zu erfüllen, so läßt sich der schaffende Künstler in sein eigenes Ich hinunter, während er im Geiste und in der Vollkraft seiner Werke auf die Höhe des sichtbaren Lebens steigt. Und das, das kann man nicht begreifen oder, drücke ich mich anders aus: das kann man ihm nicht verzeihen!

Aber das ist gut! Und das ist fördernd für ihn! Denn es drängt ihn immer wieder in sich selbst zurück, das heißt, immer weiter hinauf, zu noch besserem, noch höherem Schaffen.[153] Die geistige Einsamkeit und das seelische Leid, sie vertiefen ihn und sie erheben ihn, bis er nur noch rein äußerlich mit der Erde zusammenhängt, innerlich aber sich frei von allen ihren Fesseln und Banden fühlt. Dann kommt ihm plötzlich und wie ein verklärendes Licht die beglückende Erkenntnis, daß jene göttliche Lehre von der Erlösung durch den Schmerz und durch das Absterben des äußerlichen Menschen, welche die Grundlage unseres christlichen Glaubens bildet, sich an und in und durch ihn selbst bestätigt hat.

So führt jede wirkliche, jede wahre, jede edle Kunst ganz unbedingt empor zum Welterlöser, und man braucht keineswegs Theolog oder gar Priester zu sein – denn auch ich bin ja nur Laie – um jede Kunst, die andere Wege geht, als irrend zu bezeichnen.

Dies, mein sehr geehrter Herr Redakteur, meine kurze Antwort auf Ihre Frage. Für Sie und Ihren »Kunstfreund« habe ich stets und gern ein offenherziges Wort.


Radebeul-Dresden, den 2. Oktober 1906.


Karl May.[154]


Quelle:
Briefe über Kunst. Von Karl May. I. In: Der Kunstfreund. 22. Jg. Neue Folge. 1906. II. Teil (Heft 8–12). Nr. 10/11. S. 153–154. – Innsbruck 1906, S. 153-155.
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