Briefe über Kunst

IV.


Mein sehr geehrter Herr Redakteur!


Kaum sind wir mit dem Januar aus dem kirchlichen in das bürgerliche Jahr getreten, so zeigt uns schon der Februar, um wieviel irdischer das letztere als das erstere ist: Er bringt die Fastnachtszeit, die Zeit der mittelalterlichen Narrenspiele, die besonders in Nürnberg, Augsburg, Eger, Frankfurt, Dortmund, Lübeck usw. eingehende Pflege fanden. Besonders berühmt und bekannt waren die Schelmenstücke von Hans Rosenplüt, Hans Folz, Manuel Jacob Ayner und Hans Sachs. Freilich, die wahre Kunst kennt weder Narrenspiele noch Schelmenstücke, sondern nur den vom Himmel stammenden und nach ihm zurückstrebenden Frohsinn, nämlich den erlösenden Schmerz resp. das befreiende Lachen. Das orientalische Drama spricht unendlich wahr und tief, wenn es den Satan, bevor er zur Erde niederfährt, sagen läßt:


»Nun gibt es einen Maskenscherz auf Erden;

Der Himmel stellt sich mit der Hölle ein,

Und wenn die Larven weggeworfen werden,

Wird auch der Teufel Gottes Engel sein!«


Das ist die Erlösung in ihrem allerhöchsten Können, die Erlösung, die selbst den Teufel vom Teufel befreit, die Erlösung, welche das Hohngelächter der Hölle in ein errettendes Lächeln verwandelt, um es zum Jubelchor der Seligen hinüber zu leiten.

»Ein Maskenscherz auf Erden.« Wohl dem Künstler, der dieses Wort begreift! Von dem Augenblicke an, wo ihm diese Erkenntnis kommt, wird er aufhören, zu trivialisieren; er wird nur noch wahrhaft Edles, Reines, Hohes liefern können! Zwar nicht die wichtigste Aufgabe, aber doch die wirkungsvollste Taktik und die feinste Technik der Kunst ist es für die, die Anderes schwer begreifen, den Ernst des Lebens lächeln und die menschlichen Allotria heimlich schluchzen zu lassen. Maskenscherz! Die Erde als einen belebten Tränentropfen zeichnen, der um den Mittelpunkt des Glückes kreist. Das Leid als aufgezwungene Larve betrachten, aus welcher herzig-liebe Augen leuchten. Das Erdenglück nicht etwa als etwas höchst Begehrenswertes, sondern als eine Prüfung, als ein Rigorosum darstellen, welches schwer zu bestehen ist und aber doch auf jeden Fall bestanden werden muß. Man sieht, überall nur Maskenscherz. Doch gilt es, diesen Scherz wenigstens ebenso ernst zu nehmen, wie der zur Schau getragene Ernst dieser Maskerade im Grunde genommen lächerlich ist. Das zerrissene Gewand des Bettlers und der schimmernde Mantel des Herrschers, beide sind Maskenstücke. Stelle mir den Bettler so dar, daß ich mich trotz seiner Fetzen vor ihm verbeuge, so bist du ein Künstler, sonst aber nicht! Und bringe mir einen König, mit dem ich trotz seiner Krönungsdiamanten weine, so stehst du hoch über Jedem, der das nicht schaffen kann.

Es gibt ein wohlbekanntes Wort, welches Aehnliches oder gar Gleiches zu sagen scheint: »Die Kunst erzielt ihre größten Wirkungen durch Darstellung von Kontrasten.« Das kann unmöglich richtig sein. Ein zerlumpter Vagabund neben einem goldgeschmückten Fürsten ist zwar Kontrast, aber lächerlich. Ein Elefant neben einer Maus ist ein noch größerer Kontrast, aber ebenso auch noch mehr als lächerlich. Ein Schneesturm in der Wüste Gobi und mitten drin eine blühende La France oder Maréchal Niel ist der allergrößte Kontrast, den man sich denken kann, aber einfach unmöglich. Nur der Kontrast, der sich bei einer Demaskierung zeigt, wirkt künstlerisch, wirkt sogar künstlerisch groß. Anders ausgedrückt: Für die wahre Kunst ist der Kontrast nur dann brauchbar, wenn er nicht der Unähnlichkeit zweier verschiedener Gegenstände, sondern dem Gegensatze zwischen dem Aeußern und dem Innern einer und[34] derselben Erscheinung entspringt. Das Aeußere darf dem Innern, die Form dem Inhalte nicht entsprechen, muß also Maske sein. Darum ist jedem strebsamen Künstler anzuraten, auf den oben erwähnten »Maskenscherz auf Erden« fleißig einzugehen. Tut er das, so wird ihn beim Suchen nach dem eigentlichen Wesen eines Gegenstandes, welches er doch darzustellen hat, die Fülle desselben niemals täuschen können. Wer nur Hüllen malt, malt Larven. Indem er sie als Wesen nimmt, betrügt er erst sich selbst und dann auch Andere; er mag sich wohl Künstler nennen, kann es aber unmöglich sein.

Ich habe schon in meinem ersten Briefe gesagt, daß die Kunst in das Wesen der Dinge einzudringen hat, um die Wahrheit zu offenbaren. Sie darf keine Larve dulden. Sie ist immerwährend am Demaskieren. Sie läutet unausgesetzt an der Stunde, wo der Tag beginnt und der Trug ein Ende hat. Wenigstens in diesem Sinne möchte auch ich gern Künstler sein, möchte mitläuten, mitentdecken, mitentlarven. Wir stehen vor einer neuen und wahrscheinlich großen Zeit. Neue Zeiten erbauen sich aus neuen Gedanken. Neue Gedanken aber entstehen nicht etwa nur in den Köpfen genialer Menschen. Wem ein Gedanke kommt, den er für neu hält, der soll ihn getrost sagen, ohne gleich befürchten zu müssen, daß man ihn der Eitelkeit beschuldigt. Darum schreibe ich Ihnen diese Briefe, mein sehr geehrter Herr Redakteur. Ich weiß, Sie stre ben nach vorwärts und nach aufwärts, grad so wie ich. Doch keinem von uns beiden fällt es ein, daß er alles niederzureißen und sich als Bahnbrecher aufzuspielen habe. Ich fordere Niemand auf, das, was ich denke und sage, als maßgebend zu betrachten. Ich bin kein Lehrer und Prediger der Kunst und weiß sehr wohl, daß ich ihr keine Gesetze vorzuschreiben habe. Aber das Recht, Anregung zu geben, hat Jedermann, sogar der Laie, und das ist es, was ich mir erbitte, weiter nichts. Es gibt unzählige Menschen, die das Leben so leicht nehmen, daß sie es als einen Fasching betrachten. Das tut mir wehe, denn ich weiß, daß dann für sie jenes fürchterliche Fasten beginnt, welches Alles, was sie zu besitzen scheinen, von ihnen herunterzehrt. Sie sind vor dieser ihrer Larve zu warnen, die nur nach außen belustigend, nach innen aber tragisch wirkt. Hier ist der Kunst fast noch mehr Macht gegeben als selbst der Religion, denn sie richtet sich nicht nur auf das Innenleben, sondern auf die Harmonie zwischen innen und außen. Der materiellen Wissenschaft gefällt der Maskenscherz. Indem sie sich als Beherrscherin des äußeren Lebens fühlt, setzt sie sich Gottes Strahlenkrone auf und ihm die Narrenkappe. Die Religion als Gebieterin des Innenlebens, ist nicht robust und körperlich genug, um gegen solche Narretei zu kämpfen und zu siegen. Da komme denn die Kunst um abzuläuten: »Die Larven weg; wir wollen Wahrheit haben!« und wenn sie ernstlich will, wird es gelingen. Es kann ihr nicht genug gesagt werden, daß sie die heilige Pflicht hat, dies zu tun. Zwar soll sie Allem, was sie schafft, jenes »befreiende Lächeln« geben, durch welches sie sich auch selbst erlöst, doch hat dieses Lächeln aus dem Herzen der Menschheit zu kommen und nicht bloß imitiert und Maske zu sein!


Radebeul-Dresden, den 22. Januar 1907.


Karl May.[35]


Quelle:
Briefe über Kunst. Von Karl May, In: Der Kunstfreund. 23. Jg. 1907. II. Heft, Innsbruck, 1907, S. 34-36.
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