Liebe und Geschichte

[295] Wenn wir das ganze unermeßliche Weltgebäude als das Haus Gottes unseres himmlischen Vaters ansehen, wenn wir, die wir nicht fähig sind, das Unendliche mit unserem Geist zu ermessen, nur einen geringen Theil der Schöpfung zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen, wenn wir dann auch in diesem kleinsten Theile der von Gott geschaffenen Dinge wiederum dieselbe Vollkommenheit und Unermeßlichkeit entdecken, die im ungeheuren Raum des ganzen Weltalls prangen, so zittert unsere Seele in einer stillen Wonne, die keine Sprache kennt, so fühlen wir uns selbst wie aufgelöst in unserem Gott; wir sind von himmlischen Offenbarungen umgeben; eine Thräne des Entzückens füllt unsere Augen; wir möchten beten und sind allzubewegt und können es nicht, und unsere Thräne wird zum Psalm auf Gott.

Wohl sehnt sich mancher schwache Sterbliche nach außerordentlichen Dingen und erwartet Zeichen vom Himmel. Kurzsichtiger! Was deine Hand berührt, ist wundbar, du kennst nicht die Kraft und das Gesetz, mit der und nach der es geschaffen ist; dein Fuß wandert durch den Staub, aber er schwebt über Welten, die du nicht ahnest; du siehst die erstaunlichsten Erscheinungen mit deinen Augen, und doch bleiben sie dir dunkel. Hast du eine würdige Vorstellung von der Allmacht, von der Weisheit und Größe deines Schöpfers? Nun wohl, so wirst du wissen daß in dem Hause der Gottheit, in dem unendlichen Palast des Weltalls nichts zu klein, nichts zu gering ist; Alles hat seine hohe Bedeutung. Alles darin steht mit einander in ewiger Verknüpfung. Die Welt hängt ebensowohl an dem Faden einer Spinne, als an der Kraft, welche die Sonnen, die kreisenden Sterne und die Kometen in ihren Bahnen festhält[295] Unendlich prachtreicher als das glänzendste Wohngebäude eines stolzen Erdenkönigs ist das Weltgebäude, von dem dich Gottes Majestät in seiner Allgegenwart anstrahlt.

Wir treten einen geringscheinenden Kiesel mit Füßen, der am Ufer eines vorbeifließenden Wassers liegt. Einst war er der Theil eines Felsens am Gebirge. Ströme spülten ihn bis hierher. Er verwittert an der Luft und wird Erde, eine aufwachsende Pflanze zieht Theile von ihm an, und Thiere nähren sich von dieser Pflanze. Jener Stein lag also nicht vergebens da; er hatte seine Bestimmung. Ein Fischer fand am Ufer des Weltmeeres den goldgelben Bernstein; die Eitelkeit machte ihn zum Schmuck; der Weise entdeckte in ihm eine verborgene Kraft, und durch eine Reihe weiterer Entdeckungen ergab es sich, daß die Kraft dieses Steines derjenigen verwandt ist, welche den Blitz und den rollenden Donner erzeugt.

Vom umwölkten Winterhimmel sinken Tausende von Schneeflocken. Unter dem vergrößerten Glase erscheint jede dieser Schneeflocken wie ein Stern, regelmäßig, mit hundert kleinen glänzenden Fasern und mit einer Zartheit und Schönheit geordnet, daß keine sterbliche Hand den vom Himmel gefallenen silbernen Stern nachbilden könnte. Er fällt auf unsere Hand; von ihrer Wärme zerschmelzen die wunderbaren Krystalle des Eises. Statt des Sternes haben wir einen leichten Thautropfen, dessen Wasser verdunstet; das in Dunst verwandelte Wasser steigt aufwärts, und der gefallene Silberstern des Schnees kehrt in Dampf- oder Gasgestalt zu seinen himmlischen Quellen zurück! Er hat seine Bestimmung nun erfüllt; er hat uns zur Aufmerksamkeit an die Gotteswelt gezogen, inzwischen Millionen anderer Flocken den Erdboden wärmend umhüllen, um die Saaten des Landmanns, um die Pflanzen unseres Gartens gegen den Frost zu schirmen.

In der langen, unermeßlichen Kette der geschaffenen Dinge sehen wir eine bezaubernde Mannigfaltigkeit und ein allmäliges Fortschreiten vom Unvollkommenen zum Besseren, vom Besseren zum Vollkommeneren, vom Vollkommenern zum Vollkommensten. Diese Kette umschlingt alle Wesen, und die entferntesten Welten hängen als Glieder an ihr. Sie ruht auf der bunten Oberfläche des Erdballes, sie geht durch die Tiefen des Meeres und sinkt bis in die Eingeweide unseres Weltkörpers; sie steigt hinauf durch die Lüfte und Wolken, dringt in die endlosen himmlischen[296] Räume, und verschwindet unserem Blick in den ungeheuren Fernen, von wo nur noch einzelne Glieder als matt schimmernde Sterne hernieder funkeln.

Das ist die wahre Himmelsleiter der Schöpfung, wo sich von Stufe zu Stufe die Vollkommenheiten mehren, vom Staube, der unsern Fuß umspielt, bis zum Seraph, der durch die verklärte Ewigkeit wandelt.

Und die Stufen! – So niedrig und arm ist der Mensch, daß seine Sprache ihre Zahl nicht auszudrücken vermag! Noch kennen wir nicht alle Arten von Pflanzen, die auf Erden wachsen, und doch kennen wir schon an die fünfundsiebenzigtausend Arten, also ebenso viele Sprossen in der irdischen Schöpfungsleiter. Und unter diesen Pflanzen ist vielleicht keine, die nicht eine oder mehrere Arten von Thieren ernährt. Die Thiere, oft bis zur Unsichtbarkeit klein, wohnen auf oder in ihnen und dienen anderen Thieren wieder zur Nahrung. Es sind ebenso viel kleine Welten, die wieder andere noch kleinere Welten in sich schließen.

Ein Reich dunkler Kräfte, deren Wirkungen wir mit Erstaunen wahrnehmen, verbindet diese Urstoffe alles Irdischen. So entstehen Wesen und Wesen. Sie verwittern, verwelken, sie scheinen zu sterben und zu verschwinden, aber sie verschwinden nicht; sie werden nur zertheilt und ihre Theile gehen als Urstoffe in neue Verbindungen, in neue Gestalten über. Könnte unser Auge erleuchtet das dunkle Gebiet jener nach ewigen Gesetzen wirkenden Kräfte anschauen, es würde der Schleier von einer ganz neuen Welt aufgezogen werden; die ganze Natur, dann gleichsam durchsichtig geworden, würde uns keins ihrer Geheimnisse mehr verbergen. Hier würden wir sehen, wie in den finsteren Klüften der Erdrinde sich die Metalle erzeugen, dort, durch welchen Zauber die Rose sich mit der lieblichsten Nöthe schmückt.

Felsensteine, Erden, die mannigfaltigen Metalle und Salze sind unserem Auge nur rohe Stoffe ohne Leben, ohne besondere Werkzeuge zur eigenen Vermehrung und Vervollkommnung. Sind sie aber die untersten Glieder an der unendlichen Kette alles Erschaffenen? Und doch, welche Pracht schon in ihnen! Bezwingt nicht des Goldes und des Silbers Gewalt selbst die Herzen der Menschen. Wie strahlt der feste Diamant, und wie lieblich leuchtet des Rubinen röthliches Licht!

Und fragen wir: was ist Diamant? so erhalten wir zur Antwort:[297] dieser härteste aller bekannten Stoffe und zugleich der kostbarste der Edelsteine ist nichts weiter als Kohlenstoff im reinsten und festesten Zustande, wie man diesen Stoff zugleich in einem allgemein bekannten, außerordentlich undichten oder porösen Zustande als Kohle kennt. Wie verschieden auch der Diamant und die gemeine Kohle in ihren äußeren Eigenschaften erscheinen, so findet doch keine Verschiedenheit des Stoffes in ihnen statt. Und der Rubin, aus welchen Grundstoffen besteht dieser eben so hoch geschätzte Edelstein? Aus Alumin oder Alaunstoff und dieser leichte metallische Grundstoff ist verbunden mit Oxygen, aus welcher Verbindung der Rubin, eine Thonerde hervorgeht, die rein für sich ziemlich selten vorkommt.

Schon kennen wir viele Tausende von Steinarten, und noch kennen wir sie nicht alle. Sie erscheinen in allen Gestalten und spiegeln in allen Farben. Die regelmäßigen Bildungen der Krystalle entzücken das Auge; kein irdischer Künstler vermag so zierlich und genau zu schneiden, als die Natur diese Steine geformt hat.

Manche Steine sind, wie die Kräuter, aus zart zusammengelegten Blättern gebildet; der Asbest oder Amiant ist aus langen feinen Fäden zusammengeballt, die man von einander lösen und zu Gewändern verspinnen und weben kann, weshalb man den Stein auch Bergflachs zu nennen pflegt. Andere Steine wachsen als feines glänzendes Haar, und manche edle Metalle treiben zwischen Felsenrissen gleich Bäumen mit Aesten und Laubwerk; noch andere erscheinen wie niedrige Moose und Steinflechten.

Hier bildet das Steinreich den allmäligen Uebergang zur Pflanzenwelt, welcher von einer endlosen Zahl der Gräser und Palmen, der Kräuter, Stauden, Gesträuche und Bäume bevölkert ist. Welch unübersehbare Stufenfolge steht zwischen der Trüffel, Tuber cibarium, welche wie ein Erdklumpen, ohne Wurzel, ohne Zweige unter dem Boden anschwillt, und der Rose, welche eine Königin der Gärten heißt! – oder zwischen dem Schwamm und Pilz, der in einer Nacht aufschießt, und der erhabenen Eiche, die Jahrhunderte wächst, oder dem Affenbrodbaum Afrika's, dem Boabab, Adansonia digitata, der Jahrtausende wächst und in dessen Schatten sich ein ganzes Thal verbirgt.

Die Pflanzen edlerer Art nähern sich in ihren Verrichtungen schon den Thieren. Geboren aus dem milchreichen Samen, wie das Thier aus[298] dem Ei, saugen sie aus der Erde ihre Nahrung und die Wurzel ist der Mund. Wie das Blut in dem thierischen Körper, steigen in ihnen Säfte verschiedener Art auf und ab. Es herrscht unter ihnen männliche und weibliche Geschlechtsordnung. Sie begatten sich, indem der umhergehende Blumenstaub die weiblichen Blüthen befruchtet. Sie dünsten aus wie die Thiere, und sterben ohne Nahrung oder im Uebermaß der Hitze oder der Kälte wie die Thiere.

So sind die Pflanzen gleichsam an eine Stelle des Erdbodens festgewurzelte Thiere; so sind die Thiere willkürlich umherwandelnde Pflanzen. Viele Pflanzen haben einen Schlaf, den sie Abends bei Sonnenuntergang durch das Zusammenlegen ihrer zarten Blätter verkünden; andere erwachen und entfalten sich erst des Nachts. Das schüchterne Fühlgraut verräth sogar thierische Empfindung; es legt, wenn man es verwundet, seine Blätter zusammen und zieht seine Zweige ein.

Hier ist die verschwimmende Grenze, wo Pflanzen- und Thierreich aneinander hangen. Die edle Blutkoralle wächst, wie fast alle ihres Gleichen, baumförmig im Grunde des Meeres, aber sie enthält einen nackten Wurm, der dies steinige, harte Gewebe aufführt und lebt und sich nährt. Ganze große Inseln des Meeres sind aus Korallen, aus diesen Gebäuden schwacher Würmer, hervorgegangen und tragen jetzt Wälder und menschliche Wohnplätze.

Der Polyp im Wasser gleicht einer fadenförmigen, schleimigen Pflanze; er hat Aeste und Zweige. Zerschneidet man ihn, so wachsen neue Zweige und Aeste hervor. Aber ein Würmchen schwimmt durch's Wasser und sogleich schlingen sich alle Aeste und Zweige jener Pflanze um das kleine Geschöpf, führen es zum obern Theil des Stengels, wo sich eine Oeffnung erweitert, um den Wurm zu verschlingen und Nahrung davon zu ziehen.

Unmerklich, wie der Uebergang von der vollkommensten Pflanze zum unvollkommensten Thiere, welches schon Empfindung und unwillkürliche Bewegung hat, schreitet die steigende Vollendung durch die ganze Kette der Thierwelt, von den einfachen Korallen zu den Muschelthieren, von den Muschelthieren zu den Insekten und kriechenden Thieren, von dem Geschlecht der Schlangen zum Aal des Wassers und zu den Geschöpfen der Meere, durch die Legionen der Fische bis zum Seelöwen und dem geflügelten Fisch, der sich in die Luft erhebt. Der Vogel, den statt der Schuppen[299] Federn, statt der Flossen Flügel zieren, durchschneidet die Regionen der Wolken. Aber den geflügelten Thieren nähert sich von den Säugethieren die Fledermaus, und den vierfüßigen Thieren nähert sich der erhabene Strauß in den Wüsten, der mehr läuft als fliegt, und dessen Flügel nur den Dienst der Füße erleichtern.

Die vierfüßigen Thiere kommen in tausend mannigfaltigen Abstufungen allmälig der menschlichen Gewalt näher, und der Affe zeigt schon große Aehnlichkeit mit dem Menschen, sowohl in körperlicher als in geistiger Beziehung, der jedoch in letzterer höchstens die Stufe erreicht, auf welcher der Mensch nur in der frühen Kindheit seines Lebens steht, und welche derselbe, zu höherer Vollkommenheit aufsteigend, schnell verläßt.

Der Mensch aber, das erhabenste Glied der irdischen Wesenkette, geht mit aufgerichtetem Antlitz durch die Welt; sein Auge sieht zum Himmel; er beherrscht die Reiche der Steine, Pflanzen und Thiere. Er stürzt den Adler aus der Luft, er zieht den Fisch aus der Tiefe des Meeres. Ihn leitet nicht mehr der blinde, dunkle Instinct oder Naturtrieb, sondern eine Alles beleuchtende Vernunft ist sein Eigenthum. Er hat den freien Gedanken und die Gabe der Sprache. Mit seinem Geist erhebt er sich weit über sein eigenes Selbst; ihm strahlen die ersten Funken der im Bau des Weltalls ausgesprochenen göttlichen Offenbarung in die Seele, – der Mensch allein weiß hinieden von einem Gott. Er erhebt sich bis zu ihm und sinkt an seinem Throne nieder, und betet ihn im Staube der Erdenwelt an.

Vom himmlischen Lichte erleuchtet, eilt er den Weg zur Ewigkeit und streckt mit zitternder Freude die Hand nach der Krone der Unvergänglichkeit aus und schmückt damit sein unsterbliches Haupt. Welch' ein ungeheurer Zwischenraum dehnt sich nicht zwischen dem todtfliegenden Samen staub und der erhabenen Menschenseele aus, die an Gott denkt! Welche Millionen Stufen und Stufen in unabsehbaren Reihen vom niedrigsten Geschöpf, das wir kennen, bis zu der Höhe, wo der Mensch steht!

Aber wie? Ist hier schon die letzte Höhe? Endet nun schon die Himmelsleiter der Schöpfung? Ragt der gebrechliche Mensch schon unmittelbar an die Majestät Gottes? Verlassen wir mit unserem Blick die Erde und schauen empor in jene Regionen, wo unzählbare Welten in unnennbaren Fernen schweben, die wir wegen ihrer ungeheuren Weite nur noch als glimmende Funken erkennen. Wie wird uns bei diesem[300] Anblick? Wir sehen und ahnen neue Stufen, neue Wesen, neue Kräfte droben! Aber ein undurchdringlicher Schleier verhüllt uns dieses prachtvolle Schauspiel. Durch die Kunst der Fernröhre haben wir nur erfahren, daß jene kleinen Sterne Weltkörper sind, so groß und öfters noch tausendmal größer als der Erdball, der uns zum Wohnplatz angewiesen ist. Dem menschlichen Scharfsinn ist es aber auch gelungen, einige dieser Weltkörper durch Rechnung zu vermuthen, zu finden, ihnen durch Zahlen die Stelle anzuweisen, wo sie im Weltenraume schweben, und das bewaffnete Auge hat die Rechnung und ihr Ergebniß bewahrheitet.

Und wenn wir dann aus dem schließen, was wir hinieden sehen auf das, was uns dort dunkel ist; wenn die Stufenleiter zur göttlichen Vollkommenheit in's Unendliche fortgeht; so sind dort vielleicht Welten, ähnlich verwandt unserer Erde, wie die Pflanze dem Thiere, wie das Thier dem Menschen; so stehen dort Weltkörper, neben deren Größe und Pracht unser Erdball nur ein flüchtiger Sonnenstaub ist; so stehen dort Welten von höheren Wesen bewohnt, die stufenweise emporgehen über uns, wie wir über Pflanzen und Thiere!

Und die schimmernde Kette der Schöpfung steigt mit derselben höher immer durch das Reich aller Möglichkeit, aller Verbindungen. Dürfen wir glauben, daß wir die vollkommensten Wesen der Allmacht seien? Wir sind es hinieden, sind wir es aber auch in anderen Regionen? Wie lang ist noch die Reihe besserer, vollkommenerer Geister über uns? Sollen wir nicht schließen, daß es ebenso sehr mit Gottes Weisheit und Güte, als es mit seiner Allmacht übereinstimmen würde, wenn er jene großen, in den Himmelsräumen schwimmenden Körper mit Myriaden denkender Wesen bevölkert hat.

Himmlische Wesen, heilige Engel, Erzengel, oder mit welchen Namen die dürftige Menschenzunge euch schmückt, ihr erhebet euch durch das Ewige zum Urquell des Lichtes und des Heiligsten! Werden wir einst zu eueren erhabenen Stufen gelangen? Werden wir, entbunden von dieser Erde, emporgehoben zu der untersten eurer Reihen? – höher dringen und höher zu eurem und unserm Schöpfer?

Und ihr himmlischen Wesen, ihr, die ihr auf der letzten Sprosse der Vollendung in namenloser Seligkeit schwebet, der Gottheit nahe, in ihrer Herrlichkeit wohnend, auch ihr verschwindet endlich wie ein Nichts vor der Majestät des Allerhöchsten selbst! Euer Dasein stammt nur von ihm,[301] aber er selbst ist durch sich selbst. Er ist, der er war und sein wird; ihr seid nur Schatten. Eure höchste Vollendung und Seligkeit sind nur matte Strahlen des Glanzes, Gott aber ist der Unendlich-Vollkommene, ein Ocean des Lichtes, in welches kein Cherub zu schauen wagt.

Mit Recht kann gesagt werden: Darum ist so wenige innige Gottesliebe und wahre Gottesverehrung in der Welt, weil die meisten Menschen Gott nur so weit erkennen, als sie dazu fähig sind. Denn wer nur eine schwache, doch immer würdige Vorstellung von der Allmacht und Weisheit des höchsten Wesens hat, kann nicht anders, als von einer Ehrfurcht und einer Andacht erfüllt werden, die Alles übertrifft, was wir je Aehnliches gegen Menschen empfunden haben. Solche Ehrfurcht und Andacht ist die heilige Weihe zu der Frömmigkeit, die der Stifter unserer Religion von seinen Jüngern und Jüngerinnen gefordert hat, nicht zu der heuchlerischen Frömmigkeit, die den Namen Gottes beständig im Munde führt, die den Blick aufwärts richtet gen Himmel und ihn niedersinken läßt zur Erde, ohne zu wissen, was für unendliche Schöpfungen Gottes dort oben über uns schweben, ohne es zu erkennen, daß sie beim Wandeln auf der Erde gefühllos eine kleine Welt zertrümmert, indem sie einen Wurm zertritt.

Kann auch ein Kind seine Eltern wirklich lieben und verehren, wenn es dieselben nicht einmal kennt? Wie sollen wir den Ewigen und Unsichtbaren lieben, und aus Liebe zu ihm ein heiliges Leben führen, wenn wir weniger von ihm wissen, als von unseren irdischen Eltern? Viele Christen sind bekannter mit den Handlungen oder Schicksalen frommer Leute oder den sogenannten Heiligen der Kirche, als mit den Schöpfungen und Thaten Gottes. Und doch deutete Christus nicht auf die Menschen hin, sondern einzig und allein auf Gott, und sprach: Nur er ist heilig! – Vergebens predigt ihr Glauben, Buße, Besserung und Gottesfurcht; nicht bloße Ermahnungen machen den Menschen weiser und besser, sondern die Erkenntniß des Heiligsten und Höchsten. Die Gottesliebe, die Tugend kann in kein Gemüth hineingelegt werden, sie muß von selbst dem Gemüthe erblühen.

Das ist das große Uebel in vielen Ländern, daß Diejenigen, welche sich berufen fühlen, Gott zu verkündigen, ihn selber oft zu selten in seiner Majestät erkannt haben, und in ihren Vorstellungen von ihm zu dürftig sind; daß sie, statt ihn in seinen Werken zu schauen, sich ein dunkles Bild von ihm und seinen Vollkommenheiten machen und eine Liebe zu ihm erkünstelt[302] haben, welche sie dann kraft ihres Amtes Anderen einzuflößen suchen. Aber ihre Art der Liebe kann nicht das Gefühl eines Jeden sein, und ihr Bild von Gott ist zu schwach und klein, um andere Gemüther zu erheben.

Nicht der Mensch, Gott selbst verkündet sich den Sterblichen am herrlichsten, und lehrt, wie er sei! Fragst du: Wo soll ich es hören und erfahren? Schon das Alterthum antwortet dir: »Rede mit der Erde, die wird dich's lehren, und die Fische im Wasser werden dirs erzählen. Wer weiß solches Alles nicht, daß des Herrn Hand es gemacht hat?« (Hiob 12, 8. 9.) »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Veste verkündiget seiner Hände Werk. Ein Tag sagt's dem andern und eine Nacht thut's kund der andern. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre.« (Ps. 19, 2. 3. 4.) Was haben Hiob und David, der Psalmist, mit diesen Worten sagen wollen, was anders, als: Lies, du Sterblicher, in dem Buche Gottes, des Allgewaltigen, so weit deine Kraft reicht; forsche in der Lehre von den Naturkräften und in der Geschichte der Naturkörper und suche dich emporzuschwingen in der Erkenntniß vom Bau der unendlichen Himmelsräume, so weit dein Einsichtsvermögen reicht. Natur- und Weltkunde sind die beiden Staffeln der Leiter, die zur Gottesliebe, zur Gottesfurcht, zur echten Frömmigkeit führt, zu ihm, dem Unsichtbaren, bei dem allein Macht, Größe, Weisheit und Heiligkeit ist.

Wie Gott über den unendlichen Kreis seiner Werke und Geschöpfe mit Vaterliebe waltet, so soll der Mensch über das Glück derer wachen, die in seinem Wirkungskreise leben. Doch wie jammervoll sieht es in diesen Kreisen aus? Die menschlichen Leidenschaften führen das Scepter, nicht die Gottesliebe, wie dünkelhaft und prahlerisch dieser oder jener von den Gewalthabern unter den Menschen mit Pathos verkünden mag: Ich will Gott vor Augen haben und im Herzen! »Große Worte und hohe Reden machen keinen gerechten Mann, sondern ein tugendhaftig Leben machet Gott lieb und wohlgefällig« (Thomas von Kempis 1. B. 1, 3). »Aber weise Leute glauben nicht allen Reden; denn sie wissen, daß die menschliche Schwachheit mehr zum Bösen geneigt ist und leichtlich in Worten strauchelt« (Th. v. K. 1. B. 5, 1). Die Thaten und Missethaten der Gewalthaber auf Erden schildert die sogenannte Weltgeschichte, die[303] zum Verständniß des zeitigen, stets wechselnden Zustandes der bürgerlichen Vereine führt.

Was aber ist im Verhältniß zur unendlichen Herrlichkeit, welche von der Sonne bis zur letzten der ihr zugeordneten Welten ausgebreitet ist, der allmächtigste der gewesenen und seienden Gewalthaber auf dem kleinen Erdball? – Weniger, als eine kaum sichtbare Milbe, am Laube einer tausendjährigen Eiche klebend! Und die Milbe, jener einschmeichelnden Selbst sucht erliegend, die ihr zuraunt, weil sie wirklich das Beste wolle, müsse sie es auch ungehindert ausführen können, ist hochmüthig und vermessen genug, sich für das allein von Gottes Gnade geborene Wesen zu halten! Dennoch, wie demüthigen sich tausend und tausend andere Sterbliche vor diesem Nichts; wie beben sie vor dem Zorn dessen, der Staub ist, wie sie; wie bewundern sie seinen Reichthum; wie preisen sie seine Macht; wie eifrig fliegen sie, seine Wünsche zu erfüllen und sich ihm wohlgefällig zu machen, irdische, vergängliche Vortheile zu erlangen!

Aber der Einzige, Hohe, Unvergängliche – Gott, der allein der Allerhöchste und die Majestät ist, vor dem aller Glanz des Weltgebäudes matt ist; vor dem die ungeheuren Sonnen und alle um sie fliegenden Welten nur Staub sind, – der große Unsichtbare, Alleinheilige, er ist von den Sterblichen vergessen, während sie sich vor der Milbe beugen; seine Weisheit und Macht ist von ihnen kaum gekannt, während sie vor kleinlichen Spielen ihresgleichen erstaunen und es Kunst heißen; ihn zu verehren, anzubeten in seiner Herrlichkeit, ist ihnen nur Nebensache, oft lästiges Herkommen, dessen sie gern los sein möchten, während sie vor Denen in tiefster Ehrfurcht sich beugen, die nicht wissen, ob sie morgen noch athmen.

Wer ihnen ein wenig Vergängliches hinbietet, Staub und Asche, was sie Reichthum nennen, oder ein Traumwesen, das sie Ehre, Rang und Ordensband heißen, dem stammeln sie in hoher Rührung Dankbarkeit; aber gleichgültig blicken sie auf den Herrn des Weltalls, der ihrem Geiste Ewigkeit, zur Heimath das Weltgebäude, und zum letzten Ziele namenlose Seligkeit gab. Ach, sie bezweifeln wohl gar sein Dasein, während er Myriaden Welten durch das Endlose des Universums sendet, ihn zu verkünden.

Ein Blick in die unendliche Tiefe des Weltgebäudes und auf jene glänzenden Ordnungen ist genug, um dem Weisen die Majestät Gottes so[304] lebendig zu vergegenwärtigen, daß ihm Alles, was im Irdischen groß heißt, verächtlich wird, und sein eigener Geist sich vor der Nähe des Herrn wie vernichtet fühlt. Das ist ein anderer Gott, welchen nur die Unendlichkeit der Himmel verkündet, als der, welchen uns die Schulmeinungen nennen, oder als der, welchen wir in den dürftigen Bildern des Katechismus und seiner Erklärer finden, die oft wohl Schriftgelehrte, selten aber oder nie Gottesgelehrte sind.

Darum ist die Weltkunde, darum die Geschichte der unversiechbare Born, an den wir Sterbliche ohne Unterlaß herantreten sollen bei Tag und bei Nacht, Gottesbewußtsein aus ihm zu schöpfen und Weisheit, die uns für die Unsterblichkeit vorbereiten. Dann wird Gott in unserm Herzen herrschen, dann wird schon auf Erden der Himmel in unserm Herzen sein, jene Seligkeit, welche aus dem Bewußtsein der Tugend und des göttlichen Beifalls quillt, jene Seligkeit, die durch höhere Vollendung entsteht und nothwendig ist, wie der unsterbliche Geist selber. So gelangen wir zu den Endursachen der Bauwerke Gottes!

Die Unwissenden, wie sind sie zu beklagen! Sie kennen ihren Gott, ihren Vater nicht! Ach, sie kennen Den nicht, der sich auch ihnen als der Liebevolle offenbart, und deuten manche der Erscheinungen am Himmelsgewölbe auf kindisch böse Art, die er als Regent des Weltalls zum Heile desselben in's Leben treten läßt.

Aber diese Tausende sind unschuldig an ihrem unheiligen Irrthum. Ihre eigenen Lehrer, ihre Seelsorger und Schriftgelehrten sind schuldig, welche sie aus übel verstandenem Leichtsinn wohl gar in der Unwahrheit und Furcht bestärken, oder mit frevelhaftem Leichtsinn sie keines Besseren belehren, ihnen keine würdigere Vorstellung geben wollen. Aber auch diese Lehrer sind oft unschuldig; denn unter dem glänzenden, oberflächlichen Firniß, womit die philologischen und rein literarischen Studien in unseren Gelehrtenschulen fast alle Classen der s.g. gebildeten Gesellschaft gleichförmig übertünchen, finden wir fast immer, es möge frei herausgesagt sein, eine vollständige Unbekanntschaft mit großen und schönen Erscheinungen, mit jenen großen Naturgesetzen Gottes, deren Erkenntniß die sicherste Schutzwehr ist gegen Vorurtheil und Aberglauben.

Diejenigen Obrigkeiten sind schuldig, welche die Abergläubigen und Unwissenden wohl gar zu Gegenständen ihres Witzes, ihres Spottes machen, sich über deren unnütze Angst, z.B. bei Kometenerscheinungen[305] belustigen, aber keineswegs ihrer Pflicht eingedenk sind, durch bessere Einrichtung des öffentlichen Unterrichts und der Schulen die Wahrheit zu befördern und das Reich derselben, das das Reich Gottes ist, zu verbreiten. Die Selbstsucht herrscht!

Sie sind schuldig und vor dem Richter für alle Thaten verantwortlich, welche aus schnödem Eigennutz, aus Dünkel und Hochmuth, besser geboren zu sein, die Mitmenschen von s.g. geringer Herkunft gern und geflissentlich im angestammten Irrthum und im Finstern verbleiben lassen wollen. Welche Herkunft ist denn vor Gott edler oder unedler? Stammen nicht alle unsere Geister von ihm, dem heiligen Urgeist? Welches Recht haben wir, den Beruf, welchen Gott allen Geistern gab, ändern zu wollen? – Das Laster bewältigt die Tugend!

Das unfehlbarste Kennzeichen unserer Ebenbildlichkeit mit Gott, unserer rein erhaltenen inneren Würde ist aber: unseres Geistes Freiheit! Die Freiheit des Geistes hebt uns über den Zauberkreis irdischer Begierden und des niedrigen sinnlichen Genusses zum Göttlichen, Ueberirdischen, dem wir entstammen, dem wir angehören, dem wir auch nachher verbleiben, wenn die Grundstoffe des Sterns, auf dem wir wandeln, von unserm Geiste wieder abgefallen sind.

Die Freiheit des Geistes muß uns auch eine Leuchte sein auf der Wandelbahn durch den Irrsaal der Menschheitsgeschichte und der Staatenkunde, durch die Leiden und Freuden, die er in Zeit und Raum vor dem menschlichen Auge entfaltet. Sehen wir nicht alle Tage, wie sich das, was ist, verwandelt; wie das Alte einstürzt, das Verblühte hinmodert? Und immer neues Leben nimmt neue Gestalten, und über dem Schutt erheben sich neue Wohnungen, über dem Meere zerstörter Reiche steigen mit der wiederkehrenden Sonne des stets heller werdenden aufklärenden Lichtes neue Staaten als duftende Blumen empor! Dieses Spiel großer Wandlungen ist auch ein Theil der Weltordnung, die der Ewige und Alleinunveränderliche von seinem Throne lenkt und leitet. Der Urgeist der Dinge das Licht des Lichts, der Allmächtige, der allliebende Herrscher auch der geistigen Welt führt so das edelste seiner auf dem Stern unter den Sternen geschaffenen Wesen in einer Reihe dahinschwebender Jahrtausende seinem Reiche, dem Reiche der Wahrheit, dem Reiche Gottes entgegen!

Wenn wir das ganze, unermeßliche Weltgebäude als das Reich Gottes, unseres himmlischen Vaters ansehen, so müssen wir für Alles,[306] was in diesem Gebäude vorgeht, für alle Veränderungen und Entwickelungen, die sich da oben in den glänzenden Räumen abspielen, ein hohes, ein ebenso unendliches Interesse haben, wie die Vorgänge unendlich sind, welche sich in flammender Sternenschrift im unermeßlichen All abzeichnen. Und wenn wir nun einsehen, wie vollständig unmöglich es uns wenigstens jetzt noch ist, auch nur den kleinsten dieser Vorgänge in seinem Entstehen zu ergründen, in seinem Verlaufe zu verfolgen und in seinem Ende und seinen Wirkungen vorher zu bestimmen, so erkennen wir die Nichtigkeit unseres Wissens und sind bereit, dem Herrn allein die Ehre zu geben, welchem tausend Jahre sind wie ein Tag, der gestern vergangen ist.

Ja, wohl sehnt sich mancher schwache Sterbliche nach außerordentlichen Dingen und erwartet Zeichen vom Himmel. Kurzsichtiger, der er ist! Jeden Gegenstand, den er berührt, ist ein Wunder in dem ganzen Laufe seines Daseins und Bestehens; er ist ein Zeugniß für die Kräfte, die ihn in's Leben riefen, und die Gesetze, nach denen er von unergründlichen Gewalten geleitet wird. Der Fuß, welcher den Staub zertritt, ahnt nicht, daß das kleinste Atom dieses Staubes eine Geschichte besitzt ebenso wie die gigantischen Bälle, welche durch die Räume sausen. Nichts ist zu klein, zu gering, zu verborgen, worüber nicht der Maaßstab der Zeit gelegt werden könnte, und oft ist die Geschichte des Kleinsten, des Unscheinbarsten ungleich reicher an interessanten und tiefsinnigen Episoden, als diejenige eines Gegenstandes, welcher uns in den riesigsten Formen und Verhältnissen erscheint.

Jener Stein, welchen wir am Ufer des Baches mit Füßen treten, er war ein Theil jenes Felsens, welchen plutonische und vulkanische Gewalten aus den Tiefen der Erde emportrieben zu schwindelnder Höhe. Er war, ehe noch ein menschlicher Fuß auf der Erde wandelte; er hat gesehen, wie es da unten in dem Innern der Erde wallt und kocht, zischt, spritzt und sprudelt, wie glühende Massen emporsteigen und niedersinken, wie glühende Flammen in der Erdrinde lecken und verderbenschwangere Gase und Dämpfe sich von Ritze zu Ritze drängen und, den Umkreis erschütternd, aus speienden und sprühenden Kratern steigen. Dann ist er an das freie Sonnenlicht getreten, hat den Thau des Himmels und die Tropfen der Wolken getrunken, mit den Stürmen und Winden Zwiesprache gehalten und die Geschlechter der Menschen kennen und gehen sehen, wie die Figuren eines Schauwerkes. Dann hat er sich in Moose und[307] Epheu, in Laub und Ranken gehüllt, hat sie genährt mit seinen Bestandtheilen und durch dieselben eine Wanderung angetreten durch eine ganze Reihe niederer und höherer organischen Erscheinungen. Er, welcher zu unseren Füßen liegt, ist nur ein Bruchstück des früheren Felsens, und dieser hat eine Geschichte, welche uns mit hohem Staunen und lauter Bewunderung erfüllen würde, wenn es unserem Auge möglich wäre, sie durch ihre Stadien zu verfolgen.

Jene Tausende von Schneeflocken, welche vom Himmel fallen und unter dem Vergrößerungsglase uns die Regelmäßigkeit und Schönheit ihrer Gestalt offenbaren, sind zwar Gebilde des Augenblickes, sie entstanden während einer Minute und zerfließen im Herabfallen schon wieder vor dem unsichtbaren Strahle der irdischen oder solaren Wärme, aber der Stoff, von welchem sie ihren Körper entlehnten, rechnet sein Bestehen nach Jahrmillionen und bleibt durch alle gestaltlichen Veränderungen, die er erleidet, doch immer derselbe. Ob als Dunstbläschen für unser Auge nicht wahrnehmbar in der Luft schwebend, ob als Regentropfen die Erde fruchtend, ob als Schneesternchen die Erde deckend, ob als Hagelkorn Gefahr bringend, als Dampfatom die Maschine treibend oder als Theil des menschlichen Blutes den Puls regierend und die Gedanken des Geistes tragend, er ist, was er stets gewesen ist und kann erzählen von jenen Zeiten, in denen die Erde sich noch nicht zum Sphäroiden geballt und ihr Lauf noch nicht sich unter jene Gesetze gestellt hatte, welche sie jetzt bewegen und leiten. Was müßte solch ein Tropfen erzählen können, wenn ihm die Gabe der Rede verliehen wäre! Und ist sie ihm etwa nicht verliehen – wenigstens nur für einen Sinn, welcher gewohnt ist, nach dem Verborgenen zu forschen im Laufe der sichtbaren, der äußeren Schöpfung? Er hat seine Geschichte, dieser Tropfen, öffne nur dein Ohr, du Menschenkind, dann wirst du hören von den Zeiten, die vor Anbeginn waren und wirst auch blicken können hinter die Schleier, welche dem gewöhnlichen Sterblichen die Zukunft in scheinbar undurchdringliches Dunkel hüllen.

Ja wohl ist es wahr, daß eine lange, unermeßliche Kette alle geschaffenen Dinge umschlingt und in bezaubernder Mannigfaltigkeit und allmäligem Fortschreiten vom Vollkommenen zum Vollkommeneren vereinigt. Die Oberfläche des Erdballes, die Tiefen des Meeres, die Eingeweide unseres Weltkörpers, die Lüfte und Wolken der Atmosphäre, die endlosen[308] himmlischen Räume mit ihren ungeheuren Fernen sind ebenso Glieder dieser Kette, wie das kleine Stäubchen, welches wir im Sonnenstrahle schwimmen sehen. Und diese Kette hat nicht von Ewigkeit her bestanden sondern sie ist aus Anfängen entstanden, hat sich durch die Zeiten verlängert und wird wachsen, indem sie jede neu entstehende Erscheinung und Daseinsform als Glied an sich zieht. Sie hat ihre Geschichte, und durch diese Geschichte ziehen sich unzerreißbare Fäden, welche mit untrüglicher Sicherheit das Auge des Forschers in die Tiefen der schöpferischen Entwickelung lenken.

Diese Kette, sie ist die Leiter, auf welcher das Geschöpf von der untersten Stufe des Daseins emporsteigt zu Höhen, welche sich unserem Auge entziehen, zu Höhen, welche bis zu dem Throne führen, auf welchem der Allmächtige sitzt und das Weltall am Zügel führt. Sie ist die einzige rechte und wahre Himmelsleiter, auf welcher die Engel der Wahrheit und Erkenntniß auf und absteigen, um Botschaft zu tragen zwischen dem irdischen Kinde und dem himmlischen Vater.

Auf jeder ihrer Stufen leben und weben Millionen von Geschöpfen, die in Leid und Freud ihr Dasein führen und von denen ein jedes einzelne wieder eine Welt im Kleinen für sich bildet, deren Betrachtung und Geschichte ganze, dicke Bücher füllen würde. Erst die neuere Zeit hat uns Kunde gegeben von diesen »Welten im Kleinen,« die doch wieder gigantisch groß erscheinen für andere Geschöpfe, welche sich der Betrachtung selbst durch die schärfsten Gläser noch lange, lange Reihen von Jahren entziehen werden. Könnte man einmal zusammenschrumpfen zu einem dieser mikroskopischen Wesen und theilnehmen an ihrem Leben und Thun, wie würde man erstaunen über den Reichthum einer Entwickelung, über welche wir ohne Achtung und Kenntniß stolz und rücksichtslos dahinschreiten!

Jenes Reich dunkler Kräfte, deren Wirkung in der Natur wir mit Erstaunen wahrnehmen und welches die Urstoffe alles Irdischen verbindet, läßt Wesen auf Wesen und Wesen aus Wesen entstehen. Wenn sie verwittern, verwelken, sterben und verschwinden, so ist dieses Verschwinden nur ein scheinbares und sich auf die aüßere Form des Individuum beziehendes. Der ewige Prozeß des Werdens und Vergehens zertheilt sie in ihre Urstoffe und führt diese Stoffe in neue Verbindung, in neue Gestalten über. Der Tod ist die Mutter eines neuen, jungen und köstlicheren Lebens.[309] Könnte unser Blick jene Kräfte in allen ihren einzelnen und auf einander folgenden Wirkungen begleiten, so würden sich vor uns die Blätter einer Geschichte entfalten, welche uns die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung und des menschlichen Lebens enthüllte. Wir wären Tausende von Stufen Gott, dem Allwissenden näher gerückt und verständen Vorgänge zu begreifen, welche wir jetzt nur mit Staunen und Bewunderung betrachten können.

Alle die leb- und verbindungslos scheinenden Erden, Steine, Metalle, Salze, Säuren und flüchtigen Mineralien, welche uns nur rohe Stoffe sind, die ihr Dasein, ihre Gestalt und Lage elementaren Kräften verdanken und nicht die geringste Spur einer Selbstthätigkeit zeigen, sie sind durchgeistigt von unsichtbaren Mächten, welche ihnen innige und tiefe Verbindung mit dem höchsten organischen Leben geben. Sprechen wir nicht von einem steinernen, kupfernen, eisernen und goldenen Zeitalter? Sind nicht Ausdrücke wie »silberne, goldene und diamantene Hochzeit« sogar im Familienleben gebräuchlich? Klingt nicht der fürchterlichste Fluch des alttestamentlichen Gesetzgebers nach einem »ehernen Himmel« und einer »Erde von Eisen?« Welche Macht übt das todte Metall, das Gold und Silber in Form des Geldes auf die Gestaltung eines menschlichen Lebens? Gehört nicht eine Betrachtung dieser Wirkungen in diejenige Wissenschaft, welche wir Geschichte nennen? Und was sind alle jene kostbaren Metalle und Steine, nach deren Besitze der Mensch sich sehnt und um deren Erwerb er Alles wagt, sogar zu Sünde und Verbrechen schreitet? Der Diamant, der Smaragd, der Rubin sind Stoffe, die uns in anderer Gestalt täglich umgeben und in dieser alltäglichen Form geringen oder auch wohl gar keinen Werth besitzen. Welches Zusammentreffen verschiedener Umstände, welche gewaltige Reihe von Jahren gehört zur Krystallisation eines Steines, welcher an dem Goldreife eines Fingers funkelt? Wäre eine Darstellung all' dieser Umstände und Vorgänge nach ihrem Ursprunge, Verlaufe und ihrer weiteren Wirkung nicht Geschichte? Und wäre diese Geschichte nicht von einer Wichtigkeit für unsere Kenntniß sowohl als auch für die aus der Analogie schließende Logik des forschenden Menschengeistes?

Wenn es Steine giebt, die wie aus zart zusammengelegten Blättern gebildet erscheinen, die als feine Fäden oder glänzendes Haar sich zeigen, wenn gewisse Metalle Bildungen treiben, die dem Moose, der Flechte, dem[310] Baume mit Aesten und Blätterwerk gleichen – wenn gewisse Pflanzen dem Thiere gleichen, indem sie sich ernähren und begatten oder schlaffen und erwachen gleich ihnen – wenn wieder unter den Thieren in allmäliger Uebergang von den niederen Formen zu den höheren und sogar geistig begabten Gestalten stattfindet, wenn eine Ordnung in Beziehung auf die Gestalt, die Art der Bewegung, das Element, in welchem ihre Individuen leben, mit der andern in Verbindung steht – wenn das ausgebildetste aller Thiere, der Vierhänder, eine Aehnlichkeit mit dem Menschen zeigt, die selbst von den Idealisten oder dem strengen Bibelgläubigen nicht weggeleugnet werden kann und die ernstesten und begabtesten der Naturforscher zu der vekanten Darwinschen Abstammungstheorie getrieben hat – was spricht sich in alledem aus? Geht nicht ein unzerreißbarer Faden durch die ganze Reihe der irdischen Gebilde, der dieselben nicht nur in Beziehung auf ihre Zusammengehörigkeit vereinigt sondern diese Zusammengehörigkeit auch in Hinsicht auf die Zeit ihrer Entstehung nachweist und also eine geschichtliche Darstellung der irdischen Schöpfungsglieder enthält?

Und zählen wir die Stufen, welche die Schöpfung von der niedrigsten Daseinsform bis hinauf zu der Höhe, auf welcher der Mensch sich befindet, nach Millionen, sehen wir, wie dieser Mensch mit der sich immer vergrößernden Macht seines Geistes hinaufstrebt nach höheren Punkten und hineinlangt in Zonen, welche weit außerhalb seines jetzigen Lebens liegen, so müssen wir den Glauben verwerfen, welcher den Menschen für die letzte und höchste Stufe der Schöpfungsleiter erklärt, und sind berecht zu der Annahme von Daseinsweisen und Lebensformen, für welche unser Auge nicht geöffnet ist, nach denen zu streben aber zu den heiligsten Aufgaben unseres irdischen Waltens und Wirkens gehört.

Wenn wir hier auf der Erde sehen, wie die Pflanze dem Steine, das Thier der Pflanze, der Mensch dem Thiere verwandt und ähnlich ist, wie eine dieser Formen durch tausend Beziehungen mit der andern verbunden ist, ohne etwas von ihr zu wissen, ja, ohne nur eine Ahnung von ihr zu haben, so lächeln wir ganz gewiß nicht über den gläubigen Sinn, welcher diese Verwandtschaft auch für über uns liegende Wesen und Welten annimmt und dieses Leben für eine Vorschule eines andern Lebens, für eine Vorbereitung zu höheren Zielen erklärt.

Weiß der Schmetterling von der Raupe etwas, aus welcher er sich[311] entwickelt hat? Und wenn nicht, soll deshalb die Raupe behaupten dürfen, daß es keinen Schmetterling gebe? Wenn es über uns noch Daseinsformen giebt, ist es denn unbedingt nothwendig für ihr Bestehen, daß wir von ihnen wissen? Folgt nicht im innern Leben des Menschen ein Gefühl aus dem andern, ein Gedanke aus dem andern, ein Entschluß aus dem andern, ohne daß wir bei unserem jetzigen Denken, Fühlen und Wollen eine Ahnung von dem Folgenden haben? Und ist diese Folge eingetreten, so erkennt der Denker den Zusammenhang mit dem Vorhergehenden, während der geistig Schwache denselben leugnet und sein Empfinden und Entschließen als etwas Zufälliges oder von dem Fatum, der Gottheit Vorherbestimmtes darstellt.

Hier ist die Offenbarung einer göttlichen und ewigen Gerechtigkeit, welche Nichts ohne Folge bestehen läßt, sondern gebietet, daß sich Eines nach unumstößlichen Gesetzen aus dem Andern entwickle und zwar in der Weise, daß das Folgende stets eine Vergeltung, also eine Bestrafung oder Belohnung des Vorhergehenden enthalte. Und diese Gerechtigkeit kann unmöglich bei dem Menschen stehen bleiben, sondern sie muß den Geist desselben hinaufweisen in die zukünftigen Welten, um dort zu erndten, was er hier gesäet hat. Und auch das ist die Geschichte, ja die höchste und schwierigste Aufgabe der Geschichte, aus dem Vergangenen und Gegenwärtigen auf die Zukunft zu schließen und nach den Gesetzen Kräften und Erscheinungen, welche die Vergangenheit bot und die Gegenwart bietet, auf Entwickelungen zu folgern, die dem Jenseits angehören. Hier wird die Geschichte nicht nur zur Prophetin, welche das Zukünftige ahnt und predigt, sondern zur Seherin, welche mit gottbegnadetem Auge in Fernen blickt, die selbst dem Rohre noch unerreichbar sind, und dort Gestaltungen und Verbindungen unterscheidet, deren Darstellung der gewöhnliche Geist nicht nur belächelt, sondern für einen Wahnsinn erklärt, vor dem die Mitwelt, die Gegenwart in Schutz genommen werden müsse.

Wenn es Wahrheit ist, daß das Ziel alles geistigen Strebens, nenne man es nun wie man wolle, die Erkenntniß Gottes ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir bemerken, daß nicht nur so unendlich Viele von diesem Ziele entweder keine Ahnung haben oder gar dasselbe geradezu leugnen, sondern daß auch Diejenigen, welche wirklich in der gegebenen Richtung wandeln, nur langsam vorwärts kommen. Es ist ja die Fähigkeit des Menschen im Verhältniß zu der Größe und Erhabenheit dieses[312] Zieles eine solche, die es ihm unmöglich macht, dasselbe im Laufe zu erreichen; die Gaben müssen sich entwickeln, vermehren, vergrößern, und dazu reicht das Erdenleben bei weitem nicht aus, vielmehr sind eine Reihe von Stufen nothwendig, deren jede einzelne ein vollständiges Dasein in sich schließt und deren Zahl wir unmöglich zu bestimmen vermögen, da unser Auge für die große Unendlichkeit keine Schärfe besitzt.

Daß es grad für diesen Gegenstand so wenig Verständniß giebt, hat seinen Grund in unserer Unbekanntschaft grad' mit Dem, was zu wissen uns am dringendsten Noth thut. Wir sind bekannt mit so vielen Verhältnissen und Vorgängen, die für uns nicht eine eigentliche Wichtigkeit besitzen, unser Gedächtniß wird gefüllt mit Gegenständen, welche den großen Zielen unseres Lebens fern liegen, ja, uns in ihrer Erreichung oft nur zu hinderlich sind, und Dasjenige, worauf wir unsere Aufmerksamkeit am meisten richten sollen, bleibt unserer Betrachtung entzogen. Wir prägen uns eine Menge Sprüche und Kirchenlieder ein, wir kennen die Namen von Männern zweifelhafter Berühmtheit, wir geben den letzten Pfennig als Schärflein zum Baue von kostbaren Kirchen, aber wir lassen uns von den Spitzen dieser religiösen Monumente nicht hinauf in die Unendlichkeit weisen und verschließen unser Ohr vor den donnernden Mahnungen des wechselnden Lebens um uns her.


»Halt ein Wollt ihr Gott wahrhaft finden,

O, so verwischt nicht seine Spur.

Der Zweifel muß und wird verschwinden:

Den Schöpfer kennt die Kreatur.


Schwingt euch hinauf zu jenen Fernen,

Zum großen Weltenocean,

Les't in den Sonnen, in den Sternen:

Sie zeigen euch des Ew'gen Bahn.


Dort oben kann kein Zweifel walten

Wie hier in eurer todten Schrift,

Dort muß der Geist sich frei entfalten,

Bis er auf seinen Urquell trifft.


Doch ihr beschweret eure Fügel

Mit der Dogmatik Tyrannei,[313]

Ihr schäumt und knirschet in die Zügel

Und glaubt in Ketten euch noch frei.


Ihr hängt und klebt an allen Sätzen,

Die längst der Moder angefaßt,

Und glaubt die Gottheit zu verletzen,

Wenn ihr ihr den Roman nicht laßt.


Ihr les't die Schrift durch eure Brillen,

Durch die man Alles anders liest,

Und wollt Geheimnisse enthüllen,

Wo an sie nicht zu denken ist.


Zur Wirklichkeit macht ihr die Fabel,

Weil es sich gut zum Ganzen fügt,

Und deutet zehnfach die Parabel,

Die klar und einfach vor euch liegt.


Der Aphorismen helle Sätze

Verbindet ihr mit dunklem Kitt

Und schreibt in diesem Bau Gesetze,

Die der Gehorsam übertritt.


Und wenn ein glänzender Gedanke

Erleuchtend durch die Dogmen fährt,

Gleich wird er vor des Schisma's Schranke

Für ein Kriterium erklärt! –


Erhebt euch einmal aus dem Staube,

In dem kein Schatz verborgen liegt,

Seht, ob der aufgezwung'ne Glaube,

Vom Nimbus frei, euch noch genügt!


Wollt ihr die Erde kennen lernen

Und die Gesetze ihrer Bahn,

So wißt, daß man sie von den Sternen

Am Besten überblicken kann!«


Diese Worte des Dichters enthalten eine alle unsere Verhältnisse erleuchtende Wahrheit. Sie sind nicht gegen die wahre Frömmigkeit gerichtet, sondern gegen die Kurzsichtigkeit, welche am irdischen Staube haftet und im kleinlichen Treiben des Erdenlebens, in der Hingebung an nichtige und vergängliche[314] Gegenstände das Beste vergißt oder vernachlässigt, was uns vom Schöpfer verliehen ist: die Arbeitskraft für Zwecke, welche die Bergesspitzen der Erde weit überragen und im Lichte der Ewigkeit uns am Firmamente entgegenglänzen.

Wir nennen unsere kleine Erde eine Welt, ja sie ist es, aber nur für die Geschöpfe, welche sie bewohnen; aber im Zusammenhange mit dem Ganzen der Schöpfung ist sie ein verschwindendes Theilchen derselben, und wer sie kennen lernen will, der darf sie nicht aus ihrem Zusammenhange mit dem System, zu welchem ihre Bahn gehört, reißen. Und wie alle irdischen Erscheinungen und Gegenstände nicht blos der Erde, sondern dem All angehören, so sind auch die Ereignisse, welche sich auf ihr vollziehen, nicht ihr ausschließliches Eigenthum, sondern sie gehören dem großen Leben an, welches seine Gestalten sowohl zwischen den Sandkörnern der Wüste, als auch hinter der Feuerhülle der Sonne bewegt.

Dieselben Gesetze, nach denen sich die gigantischen Thatsachen des Universums vollziehen, geben auch dem Thun und Treiben sowohl des Einzelnen als auch des ganzen Menschengeschlechtes Grund und Richtung, und wer dieses Thun und Treiben richtig beurtheilen und ergründen will, muß seinen Blick an den Erscheinungen, welche außerhalb der Erde liegen, geschärft haben. So ist also die Geschichte der Menschheit nicht etwas Selbstständiges, für sich Bestehendes und isolirt Fortschreitendes, sondern eine Woge in dem unendlichen Strome der universellen Thatsachen.

Leider aber ist dieser Gesichtspunkt ein fast vollständig unberücksichtigt gebliebener, und so kommt es, daß wir seit mehreren Jahrtausenden von einer Geschichte sprechen und doch keine Geschichte haben. Hunderte von gelehrten Herren und unzählige jener Menschen, welche gewohnt sind, Andere für sich denken zu lassen, werden Denjenigen verdammen, welcher das große Wagniß beginnt, eine solche kühne Behauptung auszusprechen, und doch enthält sie nichts anderes als die volle, reine und – beschämende Wahrheit. Treten wir in unsere vielgerühmten Bibliotheken, um nach den Werken unserer Geschichtsschreiber zu blicken! Was enthalten sie – alle, alle ohne Ausnahme? Eine mehr oder weniger interessante, mehr oder weniger vollständige, mehr oder weniger zusammenhängende Erzählung der an die Oeffentlichkeit getretenen Ereignisse von einem gewissen Herrn Adam an bis auf Bismarck, Moltke, Grant und Disraeli. Ist das Geschichte? Wer es mehr nennt als eine einfache kronologische Zusammenstellung[315] nacherzählter und wirklich geschehener Thatsachen, der hat noch nie über den Begriff »Geschichte« nachgedacht.

Es ist hier nothwendig, die gemachte Behauptung mit einem Beispiele zu belegen, und wir bedienen uns der Analogie der Naturwissenschaft. – Nebenbei sei hier bemerkt, daß die Eintheilung der Naturkunde in Naturgeschichte und Naturlehre eine vollständig falschbezeichnete ist; denn was die Naturgeschichte uns lehrt, das ist nur zum geringsten Theil Geschichte, und was die Naturlehre enthält, ist nur ein Theil dessen, was sie enthalten sollte. Die Naturwissenschaft macht uns bekannt mit dreierlei, nämlich mit den Naturerscheinungen, Naturgesetzen und Naturkräften. Die Lehre von den Naturerscheinungen behandelt die Gegenstände und Körper, welche sich der sinnlichen Warnehmung des Beobachters zu erkennen geben, die Lehre von den Naturkräften macht uns bekannt mit den Gewalten, welche diese Erscheinungen in das Leben rufen und ihrer Bestimmung entgegenführen, und die Lehre von den Naturgesetzen zeigt uns jene unumstößlichen Regeln, nach denen die erwähnten Kräfte thätig sind. Auf diese Weise ist es möglich, einen tiefen Blick in das Walten der Schöpfung zu thun, ihre Geheimnisse immer mehr und mehr dem forschenden Auge zugänglich zu machen, und durch diese fortschreitende Erkenntniß uns zur Lösung der uns gewordenen Aufgabe immer weiter heranzubilden. So auch mit der Geschichte als Wissenschaft!

Auch die Geschichte hat ihre Erscheinungen, ihre Kräfte und ihre Gesetze. Die Erscheinungen sind nur die an das Tageslicht tretenden Ergebnisse der beiden Letzteren. Aber wo findet man ein Geschichtswerk, welches die Kräfte und Gesetze verzeichnet und den Zusammenhang bestimmt, durch den sie in ihren Erfolgen an das Licht der Ereignisse treten? Behandeln unsere Geschichtsschreiber nicht immer nur die Thatsachen, während von Gesetzen und Kräften keine Rede ist? Auf diese Weise haben wir zwar eine möglichst sorgfältige, genaue und erschöpfende Zusammenstellung der bekannt gewordenen geschichtlichen Erscheinungen, aber solchen kronologischen Verzeichnissen dürfen wir doch unmöglich den Namen der Geschichte geben.

Diese Letztere soll vielmehr erst geboren, erst geschaffen werden, eine Aufgabe, an welcher die erleuchteten Forscher der Gegenwart allerdings mit rastlosem Eifer arbeiten, deren Lösung aber nur der fernsten Zukunft[316] angehören kann, da hier auf geistigem Gebiete eine Reihe der weittragendsten Endeckungen gemacht werden müssen, denen jedenfalls mehr und bedeutendere Hindernisse entgegenstehen, als selbst den großartigsten Errungenschaften und Fortschritten auf dem Felde des physikalischen Lebens. Das Letztere bietet doch greifbare oder wenigstens auf irgend eine Weise wahrnehmbare Gegenstände, und die hier vorhandenen Größen sind solche, welche man mathematisch behandeln, die man messen, mit denen man rechnen kann. Auf geschichtlichem Gebiete aber ist es anders; die hier auftretenden Personen sind nicht nach Quadrat- oder Kubikinhalt zu bestimmen; ihre Größe ist eine relative, ihre Handlungen sind unberechenbar und unterliegen, selbst nachdem sie vollbracht sind, der Vieldeutigkeit, die Kräfte und Gesetze, nach denen sie handeln, also die eigentlichen geschichtlichen Impulse der Geschichte, sind nicht in Formeln oder Gleichungen auszudrücken und werden sich deshalb nur einem hocherleuchteten Sinn offenbaren, der eine Schärfe besitzt, wie sie das gegenwärtige Jahrhundert nicht bietet.

Zwar sind einige Schritte gethan, aber was will es heißen, wenn wir mit all' unseren geistigen Errungenschaften nichts weiter zu sagen vermögen als: »die Entwickelung des Menschengeschlechtes geht den Gang der Sterne,« also von Osten nach Westen, oder: »die Schicksale und Erfolge eines Vol kes sind abhängig von den Verhältnissen zwischen nationaler und souverainer Idee desselben«? Diese beiden weltgeschichtlichen Gesetze sind doch weiter nichts, als die ersten Schritte eines ängstlich versuchenden Kinderfußes. Aber liegen die Jahrhunderte einst hinter uns, nach welchen es uns gestattet sein wird, in jene geheimnißvollen Tiefen zu dringen, aus denen weltgeschichtliche Gewalten nach bestimmen und unumstößlichen weltgeschichtlichen Gesetzen weltgeschichtliche Thatsachen und Ereignisse in himmelanstrebenden Centrifugen über den Horizont menschlicher Entwickelung hereinschleudern, so wird diese Entwickelung sich in vollständig neue Bahnen werfen, es werden neue Wissenschaften geboren werden, neue Disciplinen entstehen, die physische Kraft und mit ihr alle Vergewaltigung wird ihre Macht verlieren, und der Geist als Alleinherrscher zur endlichen Geltung kommen. Das ewige Reich des Friedens und der Liebe ist dann angebrochen. Denn wenn der Mensch zu sagen nach vermag, nach welchem Gesetze diese oder jene Kraft ein bestimmtes Ereigniß hervorgebracht[317] habe, so ist es für ihn nur einen Schritt weiter (grad' wie z.B. bei der Experimentalphysik,) mit Benutzung einer gewissen weltgeschichtlichen Kraft nach einem ebenso gewissen weltgeschichtlichen Gesetze eine weltgeschichtliche Thatsache oder eine ganze Reihe derselben in das Leben zu rufen.

Dann wird eine Umwälzung aller menschlichen Verhältnisse zu verzeichnen sein, wie sie keine geographische Entdeckung, keine auf irgend welchem Gebiete stattgehabte Erfindung jemals hervorgebracht hat, und sämmtliche Bestrebungen der Menschheit werden in neue Bahnen gelenkt werden. Wenn der Menschengeist sich auf physischem, auf materiellem Gebiete so weit geübt hat, daß ihm gewaltige Siege nicht mehr geboten sind, dann richtet sich seine Eroberungslust auf metaphysische Reiche, wo der Werth des kleinsten Fortschrittes den Preis eines neuentdeckten Erdtheiles übersteigt und dem siegreichen Vorwärtsdringen nicht Schranken gezogen sind, wie sie unser engbegrenzter Horizont den »Helden des Gedankens« entgegenstellt.

Dann erst haben wir eine Geschichte, und ihre erste und hervorragendste Tochter wird eine Politik sein, die nicht mehr im Dunkeln tappt, sich an tausend unberechenbare Zufälligkeiten anklammern muß und nur hinter der Maske ihre Zwecke zu erreichen vermag, sondern die frei, offen und ehrlich vor Jedermanns Auge ihre Berechnungen macht und sich zum Schlagen ihrer Schlachten nicht mehr der Spitze des Degens, sondern der Schärfe des Geistes, der unwiderstehlichen Macht einer weltgeschichtlichen Idee bedient. Und jede einzelne dieser machtvollen Ideen richtet ihren Lauf nach einem Punkte, welcher mit göttlichem Magnetismus alles Seiende, alles Lebende und Wirkende an sich zieht und mit geheimnißvollem Zauber durchdringt, nach dem einen Punkte, welcher das A ist und das O, der Anfang und das Ende – – die Liebe.[318]

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 295-319.
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