Sonnenaufgang

[360] Ueber keine geschichtliche Persönlichkeit ist so viel geschrieben, gesprochen, verhandelt und gestritten worden, als über Jesus von Nazareth, der da heißt Christus. Während die Einen seine Existenz vollständig leugnen, erklären die Anderen ihn für einen Betrüger, noch Andere halten ihn für einen gutmüthigen Schwärmer, und Diejenigen, welche durch die Anforderungen ihres geistlichen Berufes oder den zwingenden Einfluß des Dogma's gefangen genommen worden sind, erklären ihn für den Sohn Gottes, welcher ist »wahrhaftiger Gott, von Ewigkeit geboren.«

Fern liegt es uns, irgend welchen Einfluß auf irgend eine Glaubensmeinung ausüben zu wollen; wir halten, alle Parteihader vermeidend, nur die geschichtlich feststehende Thatsache fest, daß die Lehre des Nazareners einen Einfluß auf die geistige, und durch diese ebenso auch auf die äußere Entwickelung des Menschengeschlechtes hervorgebracht hat, wie wir ihn sonst im Laufe der Jahrhunderte nicht wieder bemerken. Mögen die alttestamentlichen Weissagungen Eingebungen des heiligen Geistes sein und sich wirklich auf den Messias beziehen, mögen sie sich darstellen als in ein poetisches Gewand gekleidete Wünsche eines tief geknechteten und nach Freiheit, Erholung sich sehnenden Volkes, sie sind doch – zufällig oder nothwendig – in Erfüllung gegangen durch die Geburt, das Leben und das Wirken Dessen, den der greise Simeon mit den Worten begrüßte: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen!«

Wenn ein neuer Gelehrter die Bergpredigt Christi »das confuseste aller Geschwätze« nennt, so gebrauchen wir sicher den allergelindesten[360] Ausdruck, wenn wir ihn selbst der größten Confusion zeihen; denn wenn Christus nichts gethan, nichts gesprochen und gelehrt hätte als diese Bergpredigt, so hätte er doch genug gethan, um nicht nur unter die Weisesten der Erde gerechnet, sondern auch für den herrlichsten der Menschenfreunde gehalten zu werden. Nur darf man Christi Thun und Reden nicht durch den Spiegel der Evangelien und dogmatischen Schriften betrachten, sondern muß zu seiner hehren und reinen Individualität durch den Wust der um sie gehängten fremden Gewandung dringen. Der Seher, welcher in ihm den Stern Jacobs erblickte, ist nicht einer falschen Perspective zu zeihen, und ein kostbarer Kern der Wahrheit liegt in der alten Mähr von den drei Weisen aus dem Morgenlande, welche »seinen Stern« gesehen haben und deshalb kommen, um ihn anzubeten.

Der viel verworfenen und viel vergötterte Sohn des Zimmermannes bildet einen Wendepunkt in der geistigen Geschichte der Menschheit, einen Punkt, über welchen in unverwischlicher Flammenschrift die Worte der »Liebe« erglänzen und weithin durch alle Jahrhunderte leuchten. Nicht ihn trifft die Schuld, wenn man seine Liebe in Haß, seine Versöhnung in Rache, seine Eintracht in Kampf und Feindschaft verwandelt; und wenn er die Millionen zählen könnte, welche der aus seinen Worten »hervorgezwungenen« Lehre vom Kreuze zu Liebe geblutet und gelitten haben, er würde weinen und klagen wie damals, als er sein Wehe über Jerusalem rief: »Ich habe deine Kinder unter mit versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, ihr aber habt nicht gewollt!«

Eine unumstößliche Wahrheit ist es, daß das eigentliche Christenthum seine schönste Apotheose gefunden hat in der reinen, heiligen, deutschen Weiblichkeit, und das deutsche Weib ist von jeher der einzige Träger einer tiefinnigen und leidenschaftlichen christlichen Frömmigkeit gewesen, wie überhaupt die Geschichte die Frauen keines Volkes in solcher Fleckenlosigkeit zeigt, wie schon diejenigen der alten Germanen.

Klima, Character, Lebensweise und Verfassung trugen dazu bei, die Keuschheit von unseren Altvordern zu fördern und das Band der Liebe und Treue, welches die Ehen knüpfte, unauflöslich zu machen. Wesentlich trug dazu bei, daß überall im häuslichen Leben, auf der Jagd und im Kriege die Weiber als treue Gefährtinnen die Männer umgaben. Auch zu den Gastmählern wurden die Frauen zugelassen und entfernten sich[361] erst, wenn die Tafel abgetragen wurde und die Männer anfingen zu zechen.

Tacitus, Cäsar und Andere haben uns die treuesten Zeichnungen von den Sitten und der Enthaltsamkeit beider Geschlechter, sowie von der jungfräulichen Schamhaftigkeit aufbewahrt. Für einen Jüngling war es schimpflich, vor vollendetem zwanzigsten Lebensjahre etwas von einer weiblichen Scham entdeckt zu haben, noch schimpflicher aber, wenn er fleischlichen Umgang mit einem Weibe gepflegt hatte. Weiber- und Mädchenverführungen waren daher bei diesem Volke höchst selten.

Kam indeß doch einmal ein Ehebruch vor, so schnitt der beleidigte Ehemann seinem untreuen Weibe in Gegenwart aller herbeigerufenen Verwandten die Haare ab, trieb sie als eine Ehrlose zum Hause hinaus und peitschte sie alsdann durch das ganze Dorf, welches sie nicht wieder betreten durfte.

Eine verführte Jungfrau fand wegen ihrer verletzten Keuschheit niemals Verzeihung; ihre Schönheit, ihr Stand mochten noch sehr bestechen, nie durfte sie zu hoffen wagen, daß ihr ein Mann die Hand zum Ehebund reichte.

Auf keinem Flecken der Erde und bei keinem Volke ist wohl jemals die Würde des Weibes so hoch gehalten worden, als in dem alten Germanien. – Frauen und Jungfrauen wurden zu den Altären der Götter zugelassen und selbst mit den innersten Geheimnissen des Cultus bekannt gemacht, während andere Völker sie als unreine Geschöpfe davon entfernten.

Man erblickte im weiblichen Wesen etwas Heiliges und Erhabenes und glaubte, daß dasselbe die Gabe besäße, in die Zukunft zu schauen. So wurden zu Tacitus Zeiten die Velleda und Armenia als heilige weissagende Jungfrauen verehrt und ihre Aussprüche als der Wille der Götter befolgt.

Durch diese Behandlungsweise und durch die seine Organisation, welcher sich das weibliche Geschlecht zu erfreuen hatte, war dasselbe dem männlichen in der Cultur stets voraus.

Daher kam es denn auch, daß die alten kriegerischen Deutschen, welche zum Nachdenken weniger aufgelegt waren, sich gern dem klügeren und schnelleren Rathe ihrer Weiber unterwarfen.

Natürlich gewann hierdurch das Weib eine Macht über den Mann,[362] wodurch sich wohl am leichtesten die muthvollen Ritterthaten erklären, welche man zu Ehren und aus Liebe zu Frauen und Jungfrauen ausführte, welche uns noch heute in alten Mährchen vorgeführt werden.

Bei dieser Gelegenheit finde eine der weniger bekannten Sagen hier ihren Platz.

Ein schwedischer König hatte eine Tochter, Namens Thora, die im ganzen Norden wegen ihrer außerordentlichen Schönheit berühmt war.

Um dieses kostbare Kleinod gegen den Raub eines Feindes zu schützen, übergab er die Jungfrau einem treuen Diener, der sie in einem festen Schlosse bewachen mußte. Der Hüter des schönen Mädchens aber wurde bald von den unwiderstehlichen Reizen desselben so hingerissen, daß er sich entschloß, sie weder dem Vater noch irgend einem Liebhaber oder Bewerber um ihre Hand auszuliefern.

Der trostlose Vater machte vergeblich die größten Anstrengungen, sich der Veste dieses Räubers zu bemächtigen. Vor Verzweiflung machte er endlich in allen nordischen Reichen bekannt, daß Derjenige, der seine Tochter aus den Räuberhänden rette, ihre Hand erhalte, gleichgiltig, welchen Standes er sei. Von allen Seiten strömten dieser Aufforderung zufolge die nordischen Helden herbei, um nach dem jungfräulichen Kranze zu ringen; nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es endlich einem dänischen Prinzen, die Burg des Räubers zu nehmen und die schöne Prinzessin zu befreien. Der König hielt sein Wort und gab ihm seine Tochter zur Gemahlin.

Einen characteristischen Zug von der Keuschheit der nordischen Frauen finden wir in folgender Geschichte: Der König Regner von Dänemark landete an der isländischen Küste und traf eine einsame Schäferin, die ihre Heerde weidete. Der König, der bei dem Anblicke der ungeschminkten Reize des schönen Mädchens in feuriger Liebe gegen dieselbe entbrannte, welche sich noch steigerte, als er das sittsame Benehmen der Schäferin kennen lernte, wandte alle ihm zu Gebote stehenden Mittel und Kunstgriffe an, das Mädchen zu bewegen, ihm ihre Keuschheit zu opfern. Entschieden weigerte sich die arme Schäferin, seine Zumuthung zu erfüllen und der König, dessen Liebe immer heftiger entbrannte, erhob sie nach einiger Zeit im Angesichte des ganzen Hofes zu seiner Gemahlin.

In den alten deutschen Gesetzen findet man viele stellen, welche[363] sämmtlich darauf hinweisen, welchen hohen Begriff unsere Vorfahren von dem Werthe und der Keuschheit des Weibes hatten.

So bestraften sie den Todtschlag einer fruchtbaren Frau, welche Kinder geboren hatte und noch gebären konnte, dreimal so schwer, als den eines freien Mannes. Nach ähnlichen Verhältniß wurden alle Gewaltthätigkeiten, die man an Weibern und Jungfrauen verübte, mit höheren Strafen belegt, als dieselben Vergehungen gegen Männer.

Wer eine freie Frau oder ein freies Mädchen eine Dirne oder Hexe nannte, mußte dieses Vergehen fast eben so schwer büßen, als hätte er einen freien Mann erschlagen.

Entblößte oder berührte Jemand den Finger oder die Hand einer freien Frau wider ihren Willen, so mußte er 15 Schillinge Strafe zahlen, dieselbe Summe, die als Strafe zu erlegen war, wenn Jemand einem Manne den Mittelfinger abgehauen hatte; berührte ein Mann den Arm eines Weibes, so kostete ihm dies 30 Schillinge, mit welcher Summe man sich von weiteren Verfolgungen loskaufen konnte, wenn man einem freien Manne der Daumen abgeschlagen hatte; berührte aber gar ein Zudringlicher den Arm eines Weibes über den Ellenbogen hinaus, so kostete dies 35, das Betasten des Busens aber 45 Schillinge, eben so viel mußte man zahlen, wenn man einen Krieger oder freien Mann um die Nase gebracht hatte.

Ebenso streng waren die Gesetze der nördlicher gelegenen Länder. Ein Kuß, den man einer Frau oder Jungfrau wider ihren Willen raubte, wurde mit Verweisung des Landes, ein solcher aber, den man gutwillig von einer Schönen, aber ohne Wissen des Vaters oder Mannes erhalten hatte, mit drei Mark Silber bestraft.

Die Alemannen und Baiern, obgleich weniger streng als die Franken und Scandinavier, straften doch ein den Weibern angethanes Unrecht doppelt so hoch, als ein den Männern zugefügtes. Wer von ihnen einer Frau oder Jungfrau das Haar losriß, mußte sechs, und wer sich erfrechte, sie bis an das Knie oder gar noch drei Spannen höher zu entblößen, mußte zwölf Salidos erlegen, womit man eine tiefe und gefährliche Kopfwunde büßen mußte, die man einem freien Manne beigebracht hatte.

Die Prostitution war bei den alten Germanen verpönt. Dirnen, welche sich dennoch dazu hergaben, ihre Körper zum Gegenstande eines[364] Geschäftes zu machen, wurden des Landes verwiesen, wagte eine solche es doch, wieder zurückzukehren, wurde sie gesteinigt.

Folgende Strafbestimmungen, welche aus einem alten Decret herdatiren und sich auf Prostituirte und ihre Anhänger beziehen, sind interessant genug, hier einen Platz zu finden. Es heißt darin: Jede Prostituirte wird des Landes verwiesen, aber vor dem Antritte ihres Exiles öffentlich mit 300 Peitschenhieben bestraft. Jede rückfällige Prostituirte erhält 300 Peitschenhiebe, worauf sie einem Armen, der ihre Moralität überwachen muß, als Sclavin geschenkt wird. Eltern, die ihre Töchter zur Prostitution ausnützen, erhalten 100 Peitschenhiebe. Dienstboten, die sich der Prostitution ergeben, erhalten 300 Peitschenhiebe und müssen von den Dienstgebern entlassen werden; wenn diese die Entlassung nicht bewerkstelligen oder aus dem schmutzigen Gewerbe ihrer Dienstboten Nutzen ziehen, so erhalten sie ebenfalls 300 Peitschenhiebe. Richter, welche die Gesetzbestimmungen über Prostituirte nicht vollziehen, erhalten 100 Peitschenhiebe und müssen nebenbei noch 30 Sous als Strafe entrichten.

Die Keuschheit der germanischen Frauen hielt sich in ihrer ursprünglichen Reinheit bis zu dem Augenblicke, wo die deutschen Heere von den römischen Legionen besiegt wurden. Als der römische General Marius die Teutonen überwunden hatte, erklärten die wenigen Weiber, welche vom Schwerte verschont geblieben, daß sie sich ergeben würden, wenn er den von ihnen gestellten Bedingungen nachzukommen verspräche. Diese Bedingungen lauteten, daß sie nicht als Sclavinnen öffentlich verkauft würden, daß ihre Keuschheit unangetastet bliebe und daß man sie dem Dienste der Vesta oder einer andern keuschen Göttin weihen möchte. Als der römische Feldherr ihnen diese Bitten grausam abschlug, weihten sie sich selbst und ihre Kinder mit unerschüttertem Muthe dem Tode.

Das erhabene Bild der Keuschheit, des Edelmuthes und der Treue unseres germanischen Volksstammes trübte sich jedoch gar bald unter dem entsittlichenden Einflusse fremder Völker.

Die Gothen und Vandalen, welche sich in den eroberten Provinzen Italiens niedergelassen hatten, wurden bald, wie früher die siegenden Römer und Griechen in Asien, von dem Gifte römischer Laster angesteckt. Von ihnen aus verbreitete sich Ueppigkeit und Schwelgerei bis zum hohen Norden hinauf.

Der bisher uncultivirte Deutsche, unbekannt mit den Genüssen,[365] welche eine höhere Cultur im Menschengeschlechte schafft, aber doch nicht stark genug, mit der Kraft seines Willens das Böse von dem Guten zu trennen und das letztere zu genießen, während er das erstere von sich wies, versank bald in die üppigsten Schwelgereien und deutsche Frauen wetteiferten bald mit den römischen Buhlerinnen. Die Uebermacht eines ausgelassenen Adels, eine schwelgerische, genußsüchtige Geistlichkeit, und die zügellosen Kreuzbrüderschaften, welche sich aller Orten bildeten, thaten das Ihrige, um die letzten Spuren der häulichen Tugenden zu verwischen, welche einst die Teutonen über alle Völker der Erde gestellt.

Die Franken, welche sich weniger mit den Römern vermischten, als die Vandalen und Gothen, kannten anfangs weder die religiöse, noch die gesetzlich erlaubte Prostitution und doch nahm die berühmte Tugend ihrer Vorfahren sehr schnell bei ihnen ab, und die Geschichte berichtet uns von den gemeinsten Lastern, welche unter ihnen geherrscht, von Ehebruch, Vielweiberei, Meuchelmord und Raubsucht. Die blutgierigen Ungeheuer, welche eine lange Zeit hindurch dieses Volk beherrschten, trügen nicht wenig dazu bei, durch ihre Beispiele die Sitten immer mehr zu verderben.

Unter der Regierung Chlodwig's, welcher nach seinem Uebertritte zum Christenthüme die Götzen seines Volkes stürzte, gestattete die christliche Kirche den Franken, sich neben ihrer rechtmäßigen Frau eine Concubine zu halten, und dieses Zugeständniß war auch für die Geistlichkeit giltig.

Kaiser Karl der Große erließ in Beziehung der öffentlichen Sittlichkeit einst folgendes Kapitular:

»Es ist uns eine schreckliche Nachricht zu Ohren gekommen, die wir nicht ohne Abscheu und Schauder wiederholen können, daß sehr viele Mönche in Unzucht und anderen Unreinlichkeit, ja sogar in unnatürlichen Sünden betroffen werden. Wir untersagen dies auf das Ernstlichste und machen hiermit bekannt, daß wir diejenigen Mönche, die sich solchen Fleischessünden überlassen, so hart bestrafen wollen; daß es keinem Christen in den Sinn kommen wird, sich auf eine ähnliche Weise zu vergehen. Wir gebieten zugleich, daß Mönche nicht mehr, wie bisher, außer ihren Klöstern umherschwärmen und Klosterfrauen sich nicht mehr der Unzucht und Völlerei ergeben sollen. Wir dulden es nicht mehr, daß sie Hurer, Diebe, Mörder etc. seien, daß sie schwelgerische Feste feiern und unzüchtige Gesänge singen, Priester sollen nicht mehr in allen Wirthshäusern[366] und auf allen Märkten umherlaufen, um Weiber und Töchter zu verführen u.s.w.«

Im Jahre 705 gab derselbe Kaiser das erste Beispiel, wie ernst er es mit der Ausrottung der Laster meinte, welche alle Klassen der Gesellschaft ergriffen hatten. Er verhängte schwere Gefängnißstrafen, Auspeitschung und Ausstellung am Pranger gegen die Lustdirnen und ihren Anhang, sowie gegen Diejenigen, welche das Laster beschützten und demselben Vorschub leisteten. Jeder, der einer prostituirten Dirne Aufnahme gewährte, mußte, im Falle der Entdeckung, dieselbe auf dem Rücken bis zum Gerichtsplatze tragen und hatte alsdann dort dieselbe Strafe zu erdulden, wie jene.

Diese harten Strafen, welche Karl der Große einführte, wurden nach seinem Tode nicht mehr in Anwendung gebracht. Die Folge davon war, daß die öffentlichen Häuser sich vermehrten und die Prostitution immer kühner ihr Haupt erhob.

Um das Jahr 1000 nahm der sittliche Verfall ungeahnte Dimensionen an; der bevorstehende Untergang der Welt war für dieses Jahr prophezeiht worden und die Menschen überließen sich allen sündigen Lüsten, um in der kurzen Zeit ihres Daseins den Becher des Vergnügens bis auf den Grund zu leeren. Auch die unnatürlichen Befriedigungen des Geschlechtstriebes, Päderastie und Sodomie, nahmen mehr und mehr überhand und wurden mit einer erschreckenden Schamlosigkeit geübt.

Die vielgepriesene Tugend der Teutonen hatte schon lange ihren Tod gefunden in den Wogen der leckenden Cultur. Während man früher für die Keuschheit einer Dame kämpfte und seine Ritterehre für dieselbe verpfändete, war es nichts Neues mehr, daß manche Lanze für die Ehre einer Dame gebrochen wurde, von der alle Welt wußte, daß sie keine mehr besaß. – Alle Feste, Bälle und Gastmähler, womit die Turniere beschlossen wurden, arteten zu den ausgelassensten Bacchanalien aus und in künstlich angefachten Sinnesrauschen wurden Frauen und Jungfrauen entehrt. Deutsche Könige unterhielten ganze Heere von Maitressen, deutsche Städte wimmelnden von fahrenden Fräuleins, wie man die öffentlichen Freudenmädchen nannte, und dieselben trieben unter dem Schutze der Obrigkeit ihr schmutziges Gewerbe mit einer Ungenirtheit, die an das Unglaubliche grenzt. Die Sitten der ehelosen Geistlichen waren so verdorben,[367] daß ein außereheliches Kind selbst vor dem Gesetze ein Pfaffenkind genannt wurde.

Und wie mit den geschlechtlichen Verhältnissen, so war es auch mit den äußeren und inneren Beziehungen des öffentlichen Lebens. Eine Sonne war aufgegangen, deren Strahlen mild und intensiv genug waren, das Leben der Völker zu erwärmen, in das Dunkel Licht zu schaffen und der Bruderliebe die Thore der Erde zu öffnen, aber der Sümpfen entstiegen giftige Dünste, dichte Nebel wallten durch die Thäler und schwere Wolkenmassen zogen sich um die himmelanstrebenden Berge. Es war ein Sonnenaufgang mit blutigen Reflexen, ein Kampf des jungen Tages mit den aufsteigenden Dämpfen der Erde; die Gewalt ließ sich das Scepter schwer entringen, die über den Geistern liegende Finsterniß wollte nicht weichen, die Völker wallten, wogten und flutheten hin und her, die echte Liebe führte zum Martyrium und die Zukunft allein konnte erfüllen, was die Vergangenheit versprochen hatte, die Gegenwart aber versagt.

Das war der große Sturm, welcher zur Zeit der Völkerwanderung über die Erde ging. Es war ein Gewitter, dessen Wetterdräuen blendete, dessen Donner erschreckten, dessen Blitze vernichteten, aber es reinigte die Luft von giftigen Miasmen, und es war zu erwarten, daß, wenn seine Schrecken überstanden sein würden, die neugestärkte und befruchtete Erde ihre Blumen in wiedergekehrter Kraft und Schönheit emporsprießen, blühen und duften lassen werde. Mag der Sonnenaufgang noch so schwer sein, der Morgen ist doch da und ihm folgt der Tag des Wirkens, welcher Früchte reift und Segen bringt im Leben der Natur, des Menschen und der Völker.[368]

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 360-369.
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