II.

[180] Es ist keineswegs angenehm, der Gefangene von halbwilden Ihlauts zu sein, denn es kann sich, alles andere gar nicht gerechnet, leicht um Tod oder Leben handeln; aber ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir dabei bange gewesen sei. Ich befand mich nicht zum erstenmal in der Gewalt derartiger Leute. Wie oft nur war ich von den Indianern Amerikas fortgeschleppt worden, um am Marterpfahle zu sterben, und ihnen doch stets entkommen. Und mit diesen Roten, besonders den Sioux und den Komantschen, meinen Todfeinden, waren diese Ihlauts nicht im entferntesten zu vergleichen! Die Männer, welche sich heute unser bemächtigt hatten, besaßen im Verhältnisse zu den blutdürstigen, unerbittlichen Indsmen ein so biederes Aussehen, daß mir unsere Gefangennahme ungefähr wie ein unterhaltendes Bühnenspiel vorkam, bei dem mir und Halef die leidenden Rollen zugeteilt worden waren – – – wenn der Vorhang niedergegangen ist, applaudiert das Publikum, und es löst sich alles in Wohlgefallen auf.

Um unser Leben war es mir also ganz und gar nicht, um unsere Freiheit ebensowenig. Es handelte sich um unser Eigentum. Man schien es ganz besonders auf unsere Pferde abgesehen gehabt zu haben. Diese hatten die Begierde der Ihlauts erregt, und da die Besitzer so kostbarer Pferde nach den Begriffen dieser Naturmenschen steinreiche Leute sein mußten, so hofften sie, uns ein tüchtiges Lösegeld erpressen zu können.

Wir wurden gar nicht schlecht behandelt. Man suchte uns unsere Lage möglichst zu erleichtern, und als wir kurz nach Mittag in ein großes Zeltdorf kamen, durften wir absteigen und uns bequem nebeneinandersetzen und erhielten ganz dasselbe Essen, welches die Ihlauts auch für sich bereiteten. Das Lager war bedeutend; ich zählte wenigstens hundert schwarze Zelte, in denen mehr als fünfhundert Menschen wohnen mochten. In der Nähe weideten Pferde, unter denen sich kein einziges schlechtes befand, und viele wohlgenährte Rinder, Schafe und Ziegen; sogar Gänse sah ich zwischen den Zelten herumwackeln. Die Männern waren lauter kräftige Gestalten, denen man die Wirkung der gesunden Bergluft ansah, und unter den Frauen und Mädchen, welche völlig unverschleiert gingen, gab es einen größeren Prozentsatz von Schönheiten, als ich sonstwo angetroffen hatte. Da die Orientalinnen nur eine kurze Jugend besitzen, erschien es mir auffällig, daß ich keine sogenannte »alte Frau« entdecken konnte. Ich sah keine Falten. Sie hatten alle die lebhafte, gesunde Karnation der Bergbewohnerinnen, aber dabei eine so reine, zarte Haut, daß man meinte, durch sie das Blut pulsieren zu sehen. Ich mußte unwillkürlich an das Schönheitsmittel der Umm ed Dschamahl denken, und als ich, dadurch aufmerksamer geworden, nun förmlich nach Hautverunzierungen suchte, fand ich keine einzige Art davon. Ich konnte weder ein Mal, einen Leberfleck, Sommersprossen, Pusteln, Finnen noch eine der sonstigen Hautentstellungen entdecken, welche das heimliche Leiden so manches weiblichen Wesens bilden. Als ich Halef darauf aufmerksam machte, sagte er:

»Sihdi, das ist mir auch sofort aufgefallen! Selbst bei meinen Haddedihn, die auf die Unvergleichlichkeit ihrer Frauen und Töchter so stolz sind, gibt es nicht halb so viele Schönheiten wie hier. Ich lasse mir für jeden Dud ed Dschild,18 den Du hier in einem Gesichte findest, eine ganz gewaltige Ohrfeige von Dir geben und bin der Überzeugung, daß alle diese Töchter der Ihlauts die ›Salbe der Schönheit‹ besitzen, welche ich für meine Hanneh, die herrlichste unter allen Rosen des Blumenreiches, suche. Soll ich fragen?«

»Behüte! Eine solche Frage würde eine unverzeihliche Beleidigung sein.«

»Aber wie soll ich sonst erfahren, auf welche Weise ich den geliebten Inhalt meines Harems ebenso schön machen kann, wie diese Frauen sind?«[180]

»Warte nur! Die Aufklärung über diese höchst wichtige Angelegenheit wird uns wahrscheinlich ganz von selber kommen.«

»Hat Deine Emmeh sehr viele Didahn ed Dschild?«19

»Keinen einzigen!«

»Ja, da ist es für Dich sehr leicht, so gleichgültig zu sein! Ich aber habe eine ganze Menge dieser Didahn el Wischsch20 aus den von ihnen angemaßten Wohnungen zu vertreiben und kann also unmöglich so teilnahmlos sein wie Du. Der Mann, für den die Schönheit seines Weibes keinen Wert hat, verdient gar nicht, ein Weib zu besitzen. Merke Dir das, Sihdi!«

Das war auch eine Ohrfeige, welche er mir gab, wenn auch nicht mit der Hand! Er war innerlich nicht davon befriedigt, daß es in »meinem Harem« keinen einzigen Dud ed Dschild gab, während in dem seinigen sehr viele zu finden waren. Übrigens wurde es uns gar nicht schwer, die erwähnten Beobachtungen zu machen, denn wir beide bildeten den Gegenstand der Neugierde des ganzen Lagers, und besonders war es der weibliche Teil der Bewohner desselben, welcher uns seine Aufmerksamkeit widmete. Das geschah aber nicht etwa in aufdringlicher oder uns verletzender Weise, sondern so harmlos und unbefangen, als ob ihnen das Indie-Berge-schleppen fremder Reisender etwas ganz Gewohntes und Selbstverständliches sei. Dabei ließen sie diese oder jene Bemerkung fallen, und so erfuhren wir aus einer gelegentlichen Äußerung, daß die Ihlauts, in deren Hände wir gefallen waren, zu der Unterabteilung der Idiz gehörten. Als Halef dies vernahm, sagte er zu mir:

»Hamdulillah – Allah sei Preis und Dank dafür, daß wir uns glücklicherweise bei den ›Spitzbuben‹ befinden, deren Angehörige die Umm ed Dschamahl ist! Nun darf ich hoffen, die Salbe zu bekommen, ohne daß es notwendig ist, ganz nach Kirmanschah zu reiten.«

Der wackere kleine Mann dachte also nur an die berühmte Salbe, nicht aber daran, daß wir Gefangene waren. In der letzteren Beziehung besaß er genau dieselbe Zuversichtlichkeit wie ich. Bei ihm stand es ebenso fest wie bei mir, daß unsere jetzige Lage eine schnell und glücklich vorübergehende Episode für uns sei.

Als die Idiz gegessen und den Pferden eine Stunde Ruhe gegönnt hatten, ritten wir weiter. Unser Weg führte durch verschiedene Schluchten und Thäler fortwährend bergan. Die Gegend, durch welche wir kamen, war bewaldet und reich an Bächen und Quellen, was man leider nicht mehr von jedem Teile des einst so wohlbewässerten persischen Reiches sagen kann. Dann kamen wir auf eine baumlose Hochebene, über welche ein empfindlich kalter Luftzug strich. Im Osten stieg der lange Para Kuh und hinter ihm der hohe Elwend empor, der erstere nur teilweise, der letztere aber ganz weiß mit Schnee bedeckt.

Wir ritten Galopp. Nach einer Stunde senkte sich das Terrain wieder; wir ritten in einem engen Thale bergab, wo es wieder Wald und Wasser gab. Ich war noch nicht in dieser Gegend gewesen, glaubte aber Grund zu der Vermutung zu haben, daß wir uns in der Nähe des von lauter Ali-Ilahi's bewohnten Ortes Gamara befänden. Wahrscheinlich lag er im Norden von uns, während wir genau nach Osten ritten. Gegen Abend ging es über eine grasige, rings von Bergen eingeschlossene Niederung und dann an einem Walde hin, dessen Rand erst in gerader Linie nach Süden lief und später eine tiefe, breite Wiesenbucht bildete, welche das Ziel unseres Rittes war.

Hier gab es eine ganze Menge von schwarzen Nomadenzelten, welche ich nicht überblicken konnte, weil es schon fast dunkel geworden war. Unter den Bäumen gab es aus Stangenholz errichtete und mit Rasen gedichtete Hütten, welche gegen Kälte, Wind und Wetter mehr Schutz boten als die dünnen Zelte. In ihnen und vor den Zelten brannten schon die Abendfeuer, welche ihren flackernden Schein auf das rege Leben und Treiben des Lagers warfen. Die Bewohner desselben schienen einen bedeutenden Besitz an Weidetieren zu haben. Wir mußten uns zwischen den Herden hindurchwinden, ehe wir den Urd21 erreichten.[181]

Die Leute liefen, als wir ankamen, nun neugierig zusammen; es wurde ihnen aber keine Zeit gelassen, uns lange zu betrachten. Wir ritten zwischen ihnen hindurch nach einer der erwähnten Hütten, in welche man, nachdem wir abgestiegen waren, uns brachte. Da mußten wir uns auf eine Streu legen und wurden so gefesselt, daß nach der Ansicht dieser Leute an ein Entrinnen gar nicht zu denken war. Der Anführer bedeutete uns, daß jeder Versuch zur Flucht sofort mit dem Tode bestraft werde; was unsere Behandlung von jetzt an betreffe, so werde er die Nezaneh22 darüber befragen. Hierauf entfernte er sich; aber ein junger, wohlbewaffneter Krieger blieb zu unserer Beaufsichtigung bei uns zurück. Er brannte ein Feuer an und setzte sich an demselben nieder. Als ich versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, teilte er mir mit, daß er nicht mit uns sprechen dürfe; uns aber sei das Reden nicht verboten, falls wir uns nicht einer Sprache bedienten, welche er nicht verstehe.

So lagen wir über eine Stunde lang in Erwartung dessen, was nun kommen werde. Es gab hier eine Nezaneh. Wurde der Stamm von einer Frau regiert? Sonderbar! Wir waren natürlich neugierig, zu erfahren, unter welchen Bedingungen man uns die Freiheit wiedergeben wolle. Die Höhe des Lösegeldes war uns sehr gleichgültig, denn wir bezahlten ja doch nichts!


2

Die Schwierigkeit bestand nur darin, auf welche Weise wir vor der Flucht, die sehr leicht zu bewerkstelligen war, zu unserm Eigentum kommen wollten; denn daß wir auf nichts verzichten würden, das verstand sich ganz von selbst.

Da wurde die aus starkem Flechtwerk bestehende Thür geöffnet, und es trat eine Frau herein. Unser Wächter stand sofort auf, verneigte sich vor ihr und verließ das Innere der Hütte. In seiner jedenfalls nicht vorgeschriebenen, sondern freiwilligen Verbeugung sprach sich eine so wahre, aufrichtige Verehrung aus, daß diese Frau keine gewöhnliche sein konnte. Sie blieb, als er fort war, an der Thür stehen und betrachtete uns prüfenden Blickes. Ihre Haltung war dabei stolz und selbstbewußt, ohne dabei beleidigend zu sein. Ihr Haupt war unbedeckt; aber die langen, starken Zöpfe[182] des sehr vollen, schneeweißen Haares bildeten, hoch emporgewunden, eine Kopfbedeckung, um welche sie gewiß manche junge Europäerin beneidet hätte. Der Farbe dieses Haares nach mußte sie alt sein; aber in ihrem vollen, jetzt noch schönen Angesichte war keine einzige Falte zu bemerken und in ihren kühn, aber doch weiblich mild geschnittenen Zügen lag eine Energie, welche der Mensch nur im jugendlichen Alter zu besitzen pflegt. Auch der Hals war unbedeckt, und kein Bildhauer hätte einen Tadel an ihm finden können. Ein dunkelblaues, langes, mantelähnliches Gewand, in dem die eine Hand verborgen war, bedeckte ihre hohe Gestalt; die andere Hand, welche es in Falten hielt, war voll und weiß, so weiß, daß ich darüber staunte. Ihre dunklen Augen hatten einen eigentümlichen, wie aus der Tiefe kommenden Glanz, und ihre Stimme besaß einen wohlklingenden Alt, als sie nun die Worte an uns richtete:

»Allah hat Euch in unsere Hand gegeben, und ich komme zu fragen, wer Ihr seid. Meine Krieger haben unterlassen, diese Frage zu thun, weil doch ich es bin, die zu entscheiden hat.«

»So bist Du die Nezaneh?« erkundigte sich Halef.

»Ja.«

»Wie könnt Ihr Euch unterstehen, uns zu überfallen und auszurauben! Was haben wir Euch gethan? Weißt Du, was der Kuran von den Dieben, Räubern und Mördern sagt? Wir verlangen, sofort freigelassen zu werden!«

Sie machte mit der Hand eine unendlich wegwerfende Bewegung und antwortete:

»Ihr habt es Euerm Schah zu verdanken, Euerm Schah und seinen Dienern, welche nichts als Sklaven sind. Diese haben sich an den Kriegern unseres Stammes vergriffen; auch mein Sohn Kelat und mein Enkel Scherga sind fortgeführt worden nach Kirmanschah, um Soldaten zu sein, solange sie leben; sie dürfen niemals zu mir wiederkehren, und darum ist Feindschaft zwischen mir und ihren Peinigern, zwischen uns und Euch.«

»Uns? Was gehen uns Eure Händel an? Was haben wir mit Deinem Sohne und Deinem Enkel zu schaffen? Wie kannst Du überhaupt schon einen Enkel haben? Du bist dazu noch viel zu jung.«

»Die Jahre meines Lebens sind vor Deinen Augen verborgen. Wisse, daß mein Enkel auch schon einen Sohn besitzt, der also mein Urenkel ist!«

»Maschallah! Es scheint, daß Du die Mutter, Großmutter, Ahne, Muhme und Ur-Urtante Deines ganzen Stammes bist! Wo nimmst Du die Jugend her, die noch in Deinem Angesichte wohnt?«

»Allah hat sie mir gegeben und erhalten. Aber warum sprichst nur Du? Warum schweigt Dein Gefährte? Bist Du der Vornehmere von Euch beiden?«

»Bei uns ist einer so vornehm wie der andere, denn wir sind berühmte Leute. Ich bin der oberste Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar und heiße Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah.«

»So bist Du kein Adschemi,23 kein Schiit?«

»Nein.«

»Das verschlimmert Eure Lage, anstatt sie zu verbessern. Ich habe Deinen langen Namen noch nie gehört; aber die Haddedihn sind Feinde mehrerer Kurdenstämme, welche wir Freunde nennen. Ich werde also das Lösegeld, welches Ihr zu zahlen habt, verdoppeln.«

»Deine Lippen fließen über von Freundlichkeit und Güte gegen uns! Wieviel forderst Du?«

»Fünftausend Tuman24 für Euch beide.«

»Bloß?! Ich hätte nicht geglaubt, daß wir so wenig wert wären.«

»Gut, so zahlt Ihr zehntausend!«

»Auch das ist noch viel zu wenig!«

Da blitzte sie ihn zornig an: »Willst Du Scherz mit mir treiben? Hüte Dich! Ich bemühe mich, über meinen Stamm ein Regiment der Liebe zu führen und auch gegen Fremde mild zu handeln; aber ich kann auch streng, sehr streng sein!«

»Ich spreche im Ernste und will Dir aufrichtig sagen: Wir beide besitzen einen so hohen Wert, daß ihn kein Mensch[183] bezahlen kann, auch wir selbst nicht; darum werdet Ihr nichts, gar nichts bekommen!«

»Ihr bekommt die Freiheit nicht eher wieder, als bis Ihr bezahlt, was ich gefordert habe!«

»So behaltet uns in Allahs Namen! Es gefällt uns ja ganz gut bei Euch.«

»Wenn Ihr nichts zu essen bekommt, sondern hungern müßt, wird es Euch wohl weniger gefallen!«

»Habe da keine Sorge um uns! Wir hungern, solange es uns beliebt, länger aber keinen Augenblick!«

»Du scheinst an Flucht zu denken. Schlage Dir das aus dem Sinn! Wer sich in unsern Händen befindet, der kommt nur mit meiner Erlaubnis wieder los. Wer ist Dein Gefährte?«

»Das ist der in der ganzen Welt berühmte Hadschi und Emir Kara Ben Nemsi Effendi.«

»Auch seinen Namen habe ich noch nie gehört; er kann also nicht so sehr berühmt sein, wie Du sagst. Zu welchem Stamme gehört er?«

»Sein Name Ben Nemsi muß Dir doch sagen, daß seine Heimat in dem fernen Dschermanistan25 liegt.«

»Wohnt dort das Volk, welches Napulyun Sivum26 besiegt und vom Throne gestoßen hat?«

»Ja.«

»So ist er doch wohl kein Moslem, sondern ein Christ?«

»Ja.«

»Das ist noch viel schlimmer für Euch, denn ich hasse die Christen. Er schämt sich jedenfalls auch, einer zu sein, denn er wagt es nicht, mit mir zu sprechen!«

Da kam sie aber bei meinem Hadschi an den unrechten Mann. Er duldete nie, daß ich beleidigt wurde, und fiel auch jetzt schnell und zornig ein:

»Höre, Weib, diese Behauptung ist die allerdümmste, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe! Dieser Emir Kara Ben Nemsi ist ein unvergleichlicher Fürst des Geistes und des Körpers nicht nur in seinem Vaterlande, sondern in allen Ländern des Erdbodens. Er kennt die Völker aller Weltgegenden und spricht ihre Sprachen; er hat den Löwen getötet und den Elephanten vernichtet; seine Faust streckt alle Feinde siegreich nieder, und alle Kaiser, Könige und sonstigen Herrscher sind froh, wenn sie mit ihm reden dürfen. Wer und was aber bist denn Du? Ein Weib, eine Anführerin von Spitzbuben, eine räuberische Gesindelmutter, welche Geld von uns erpressen will. Wenn er nicht mit Dir spricht, so geschieht das nicht etwa aus Furcht, sondern weil er viel zu stolz ist, einer sollen Landstreicherin seine von Allah gesegnete Stimme hören zu lassen!«

Sie blieb bei dieser Beleidigung äußerlich ruhig, antwortete aber mit erhöhter Stimme: »Zur Strafe für diese Deine Worte werdet Ihr uns nun zwanzigtausend Tuman Lösegeld bezahlen müssen! Du nennst uns Gesindel und Spitzbuben; aber es gibt kein verächtlicheres Gesindel und keine größeren Diebe, als gerade die Christen sind!«

Da richtete ich mich trotz meiner Fesseln in sitzende Stellung auf und sagte: »Da hast Du die größte Lüge Deines Lebens gesagt. Beweise mir die Wahrheit dieser Behauptung!«

Sie trat bei meinem scharfen Tone einen Schritt zurück, dann aber lächelnd zwei wieder vor und antwortete:

»Du bist also doch nicht ganz stumm. Du würdigest mich sogar einer Antwort! Lüge nennst Du es? Ich habe die Wahrheit gesprochen! Sage mir, sind die Russen, die Engländer, die Griechen, die Armenier, die Missionäre, welche Ihr uns sendet, Christen?«

»Sie sind es.«

»So hast Du die Wahrheit meiner Behauptung bereits zugegeben. Wer lauert wie ein Raubtier an der Grenze Persiens, um es zu verschlingen? Der Engländer, der Russe! Wer hat nie an seinem Lande genug, sondern will immer mehr Länder und Völker unter seine Herrschaft bekommen? Der Christ! Wer ist der listigste Gauner, der gewissensloseste Betrüger des Orientes? Der griechische und der armenische Christ! Wer sendet seine sogenannten ›Boten der Liebe‹ aus, um ihnen dann das Schwert, die Kanonen, hundert Krankheiten, den Eigennutz, den Betrug, die Wortbrüchigkeit, den Länderraub nachzuschicken? Der Christ! Was[184] sind die Konsuln, die Gesandten, welche an allen, auch an unsern Herrscherhöfen Heimtücke, Zwietracht und Mißtrauen zu säen haben, um die Früchte dieser Hinterlist dann später heimzusenden? Christen sind sie! Beobachte Eure Missionäre! Ich kenne die verschiedenen Sekten nicht, denen sie angehören; es sind ihrer so viele, daß man sie sich gar nicht merken kann; aber jeder von ihnen behauptet, den Glauben zu verkünden, welcher allein selig macht; darum hassen und verfolgen sie sich; sie verachten einander; sie sprechen, lehren und kämpfen heimlich und öffentlich gegeneinander, und doch verlangen sie Glauben und Vertrauen von uns! Sie fordern Achtung und Ehrfurcht von uns und scheinen gar nicht zu ahnen, daß sie selbst es sind, die alles mögliche thun, sich, um ihre Ehre und um unsere Achtung, unser Vertrauen zu bringen. Sie tragen alle, alle stets das große Wort der Liebe auf der Zunge, zerfleischen aber dabei sich und uns! Es reisen viele Christen durch dieses unser Land, denn der Hauptweg von Bagdad herauf geht hier bei uns vorüber. Ich habe sie gesehen und mit ihnen gesprochen, hier und in den Städten, auch in Teheran und Ispahan; aber ich habe noch keinen einzigen Christen kennen gelernt, noch keinen einzigen, dessen Thaten das gehalten haben, was uns durch seinen Glauben, seine Lehre, seine Worte versprochen worden war! Denn, weißt Du, die wahre, die wirkliche Liebe darf nicht sprechen, sondern sie muß Thaten thun, Thaten, Thaten! Die Sonne soll Licht und Wärme bringen, und wenn sie das nicht thut, so ist sie keine Sonne. So muß die Liebe Segen und Glück verbreiten, und wenn sie das unterläßt, so ist sie keine Liebe! Die Liebe lebt nur durch das Glück und in dem Glücke anderer; was aber hat Eure sogenannte Liebe den Andersgläubigen bisher gebracht? Blut, Blut und immer wieder Blut! Wohin Ihr tretet, verschwinden die Nationen; denn Eure Füße sind die Füße des Verderbens, und in Euren Fußstapfen schleicht der Tod sich hinterher! Ich sagte vorhin, daß ich die Christen hasse; aber ich hasse sie nicht nur, sondern ich verachte sie, denn wessen Thaten das Gegenteil von seinen Worten sind, der verdient es nicht anders, der muß verachtet werden! Denke also ja nicht, daß ich Euch schonen werde! Ich werde vielmehr, gerade weil Du ein Christ bist, streng, sehr streng mit Euch verfahren. Was kannst Du gegen meine Worte sagen? Ich will Antwort haben. Sprich!«

Sie sah mir mit blitzenden Augen erwartungsvoll in das Gesicht. Sie hatte ihre Rede so plötzlich, so ohne eigentliche Veranlassung über mich ausgeschüttet; es mußte sich der Stoff seit langem in ihr angesammelt haben. Was konnte, was sollte ich dagegen sagen? Wie oft schon waren mir dieselben, aber ganz dieselben Vorwürfe gemacht worden! Es ist gar nicht leicht, auf solche Anklagen Auskunft zu erteilen; denn es liegt für den, welcher nur ein Namenschrift ist, so viel Wahrheit in ihnen, daß er, mag er sich winden, wie er will, sich dem häßlichen Gefühle, überwiesen worden zu sein, nicht zu entziehen vermag. Ich wich ihrem Blicke nicht aus und antwortete ruhig: »Ich sage Dir hierauf zwei kurze Worte. Das erste ist: Du bist ein Weib. Das zweite lautet: Du bist unglücklich.«

»Wie meinst Du das? Ich verstehe Dich nicht!«

»So höre mich an! Du hast gemeint, mich durch Deine Rede so niedergeschlagen zu haben, daß ich Dir gar nicht antworten könne; aber Du irrtest Dich. Du ahnst gar nicht, welch einen tiefen Blick in Deine Seele Du mir gestattet hast. Du bist in einem großen Irrtume befangen, in einem Irrtume, welcher sich auf das Leben außer Dir und auf das Leben in Dir selbst bezieht. Zunächst das Leben außer Dir. Du siehst es mit falschen Augen an und verwechselst darum den Glauben mit dem Volke. Die Völker entstehen, entwickeln sich und vergehen genau so, wie der Mensch geboren wird, wächst und wieder stirbt. Treffen zwei Nationen aufeinander, von denen die eine jung und kräftig, die andere aber alt und schwach ist, so wird die alte der jungen weichen müssen; sind sie verschiedenen Glaubens, so ist es nicht die Religion, sondern die Altersschwäche, welche tötet. Eure orientalischen Griechen und Armenier gehören alten, abgelebten Völkerschaften an; daß sie auch moralisch gesunken sind, beweist nur, daß ich Recht habe, denn sie werden untergehen, obgleich sie sich Christen nennen. Es ist Allahs Ratschluß, daß ganze Völker wie einzelne Menschen sterben müssen. Wenn dieses Kismet in Erfüllung geht, so ist es falsch, dem[185] Christentum die Schuld zu geben. Doch muß ich allerdings offen bekennen, daß dem Christentume die Kraft, das Leben innewohnt, welches selbst Nationen vom Untergange zu erretten vermag. Du wirst das nicht zugeben wollen, wirst es aber doch eingestehen müssen, denn Du bist« – – – ich machte eine kurze Pause und fuhr dann mit Nachdruck fort: – – »schon längst keine Islameh27 mehr.«

»Ich? Keine Islameh mehr?« fragte sie schnell. »Was, was bin ich sonst?«

»Eine Christin.«

»Bi Khatir-i Khudah – um Gottes willen!« rief sie aus, indem sie die Hände zusammenschlug. »Du wagst es, mich eine Christin zu nennen?!«

»Das ist kein Wagnis, sondern die Wahrheit. Ich habe vorhin gesagt, daß Du in einem Irrtume auch in Beziehung auf das Leben in Dir selbst befangen seist. Ich sehe und spreche Dich heute zum erstenmal; ich kenne Dich also nicht; aber ich habe einen Blick in die Tiefen Deiner Seele gethan, in welcher eine große, eine schmerzliche Sehnsucht nach Liebe und Erlösung lebt. Du suchst schon seit langen, langen Jahren nach Gott, nach seinem Himmel und nach seiner Seligkeit, hast aber noch keinen Menschen, noch keinen einzigen, gefunden, welcher Dir den Weg nach oben zeigen konnte – – –.«

»Schweig'!« unterbrach sie mich gebieterisch. Dann trat sie an das Feuer, ließ sich an demselben nieder und legte neue Nahrung in die Flamme. Dabei verwandte sie fast kein Auge von mir; sie schien mich mit ihrem Blicke ganz durchdringen zu wollen. Ich schwieg. Erst nach langer Zeit sagte sie langsam und als ob es ihr schwer werde, sich das Geständnis abzuringen: »Also Kara Ben Nemsi ist Dein Name! Sag', bist Du allwissend?«

»Nein.«

»Warum hast Du in einer Weise zu mir gesprochen, in welcher man nur zu Männern und zwar zu gelehrten Männern zu sprechen pflegt?«

»Du bist keine gewöhnliche Frau, sondern ein gelehrtes Weib; aber Du besitzest nicht die Gelehrsamkeit des Kopfes, sondern die Gelehrigkeit des Herzens, welche nach höhern Gütern trachtet, als diejenigen sind, nach denen der berechnende Verstand die kalten, magern Hände ausstreckt.«

»Emir – – Effendi – – – bist Du etwa der Mann, nach dem ich so lange gesucht habe, ohne ihn zu finden? Kannst Du mir den Weg nach oben zeigen? Ich möchte es fast glauben und glaube es doch nicht, denn Du bist ein – – – ein Christ!«

»Ja, und ich danke Gott für die hohe Gnade, ein Christ sein zu dürfen! Ich gebe mir Mühe, ein Christ nicht nur zu heißen, sondern auch wirklich zu sein. Wenn das alle Christen thäten, würdest Du anders von uns gesprochen haben, als Du gesprochen hast. Sag', hältst Du alle Bekenner des Islam für gute Menschen?«

»Nein; sie sind es leider nicht.«

»Ist der Islam daran schuld?«

»Gewiß nicht!«

»Wie kommt es da, daß Du unsern Glauben darüber anklagst, daß Du Christen kennen gelernt hast, welche keine guten Menschen waren? Ein guter Christ aber ist stets auch ein guter Mensch.«

»So würde ein guter Moslem also auch stets ein guter Mensch sein!«

»Nein; denn der Islam fordert von seinen Bekennern nicht die Liebe, welche der Grundstein und Eckpfeiler der christlichen Lehre ist.«

»Auch der Islam lehrt die Liebe!«

»Nur die Liebe zu und unter seinen Anhängern; unsere heilige Schrift aber gebietet uns, alle Menschen, sogar unsere Feinde wie uns selbst zu lieben.«

»Auch die Feinde?«

»Ja.«

»Bi Tschäschm-i Farzändäm – bei den Augen meines Sohnes, das ist unmöglich! Kein Mensch, überhaupt kein Sterblicher, besitzt die unendliche Selbstüberwindung, welche dazu gehört, seinen Feind zu lieben wie sich selbst! Sag', könntest Du Deinem Todfeinde dieselbe Wohltat erweisen wie Deinem Blutsfreunde?«[186]

»Ja.«

»Du hast Dich versprochen. Du wolltest ›nein‹ sagen?«

»Ich wollte ›ja‹ sagen und sage es noch einmal!«

»Das ist Lüge!«

Sie sprang auf und blitzte mich aus ihren Augen zornig an.

»Es ist Wahrheit!« behauptete ich.

»Lüge, Lüge, nichts als Lüge! Ich durchschaue Dich nun auch. Du bist ein kluger Mann und hast die Sehnsucht erkannt, welche in meinem Herzen wohnt; Du willst sie zu Eurem Vorteil benutzen, indem Du Dich bemühst, von mir als der Spender einer großen Gabe betrachtet zu werden. Aber Du betrügst mich nicht. Du bist so unvorsichtig gewesen, mir mit Deiner ganz unmöglichen Feindesliebe die Augen zu öffnen. Dadurch, daß Du Dich für einen Christen aller Christen ausgeben wolltest, hast Du mir bewiesen, daß Du auch nur ein Namenschrift bist, ein selbstsüchtiger, berechnender und – – – schlechter Mensch! Du hast in meine Seele geblickt, mich aber nicht ganz durchschaut. Du hast geglaubt, leichtes Spiel mit mir zu haben, der einfachen und unerfahrenen Nomadenfrau; aber ich bin nicht das, wofür Du mich gehalten hast. Ich lebe nur kurze Zeit des Jahres über hier in den wilden Bergen und befinde mich sonst fast stets auf der Reise und in den Harimat der Großen unseres Reiches. Ich habe da offene Augen und offene Ohren und sammle mir innere Schätze, welche mir kein Mensch mit Gold aufwiegen könnte. Schon der Harem von Muhammed Schah, des Vaters unseres jetzigen Herrschers, hat mir offen gestanden, und vorher war ich die Freundin sämtlicher Frauen von Feth Ali Schah, dem größten der Kadscharen – – –«

»Was – – – wirklich – – –?« unterbrach ich sie erstaunt. »Das ist ja seit über einem Menschenleben her!«

Da ging ein stolzes, selbstbewußtes Lächeln über ihr Gesicht, und sie antwortete: »Ja, hier hört alle Eure fränkische Klugheit auf; hier könnt Ihr nichts als staunen! Wisse, daß mein Alter weit über sechs Jahrzehnte beträgt, und daß ich, wenn ich einst sterbe, noch genau so jung aussehen werde wie am heutigen Tage. Ich habe die Quelle der Jugend in der Hand; denn ich bin die Umm ed Dschamahl, aus deren Händen Tausende den Glanz der Schönheit und die – – –«

Da wurde sie von Halef unterbrochen; denn dieser richtete sich auf, so schnell es ihm unter den Fesseln möglich war, und rief entzückt: »Die Umm ed Dschamahl bist Du? Hamdulillah – Allah sei Lob, Preis, Ehre und tausend Dank gesagt, daß er uns erlaubt hat, Eure Gefangenen zu werden! Wieviel kostet die Büchse Deiner Wundersalbe? Ich kaufe gleich zehn, zwanzig, vielleicht auch fünfzig Stück, wenn sie nicht zu teuer ist!«

»Du?« fragte sie. »Du bekommst nicht eine einzige.«

»Warum nicht?«

»Weil die Haddedihn die Feinde unserer Freunde sind. Es fällt mir nicht ein, die Falten und Runzeln Deines Harems auszugleichen; ich wünsche vielmehr, daß sie so tief wie die Schluchten und Abgründe unserer Berge werden mögen! Wieviel Frauen hast Du?«

»Eine.«

»Wie ist ihr Name?«

»Hanneh. Sie ist die lieblichste und schönste Rose unter allen duftenden Blüten des Blumenreiches.«

»Die lieblichste und schönste? Und doch verlangst Du für sie eine Salbe? Ihr Gesicht wird einer trocknen Hagebutte und ihr Gang dem Wanken eines jungen Kamelkalbes gleichen. In den Harimat der Haddedihn wohnt kein einziges schönes Weib!«

Das war für meinen kleinen, jähzornigen Hadschi wie ein Funke in das Pulverfaß.

»Was höre ich?« schrie er entsetzt. »Meine Hanneh, die Perle und Krone aller Frauen, soll einer Hagebutte, und einem Kalbe des Kameles gleichen! Wäre ich nicht gefesselt, und wärest Du nicht ein Weib, so spukte ich Dich erst an und schlüge Dich dann zu Boden, daß Du nie wieder aufstehen könntest! Wie siehst denn Du aus? Bist Du etwa schön? Bilde Dir nichts ein! Die Haddedihn besitzen die herrlichsten Frauen aller Erdenvölker; Eure Weiber sind gegen sie wie langbeinige Taranteln, welche man mit goldflimmernden Schmetterlingen vergleicht. Die Salbe der Schönheit ist für sie überflüssig; ich mag sie nun gar nicht. Wenn man von ihr nicht schöner wird, als Du bist, so mag[187] ich sie gar nicht sehen; denn sie würde das holde Angesicht des Lieblings meiner Seele nur entstellen und verderben!«

Ein berühmter Psycholog hat den Satz aufgestellt, eine Frau könne alles, selbst die schwerste Beleidigung und Kränkung verzeihen, nur nicht die Behauptung, daß sie häßlich sei. Ob dies richtig oder falsch ist, weiß ich nicht, da ich noch, nie ein weibliches Wesen häßlich genannt habe und auch in dem jetzigen Falle die Wirkung nicht zu bestimmen war, denn die Nezaneh sagte kein Wort; sie richtete einen langen, verachtungsvollen Blick auf ihn und wendete sich dann von uns ab, um sich zu entfernen.

»Habe ich es recht gemacht, Sihdi?« fragte er mich, als sie fort war.

»Nein. Du hättest schweigen sollen.«

»Schweigen? Wenn man Hanneh, das Licht meiner Augen und die Sonne meines Lebens, verleumdet? Eine Hagebutte! Ich wollte, diesem alten Weibe wüchse dafür ein Schnurrbart, so groß wie der eines persischen Sipähsalars!28 Sie mag die Salbe behalten und ihre Ziegen und Schafe damit einreiben!«

Er mußte im Ergusse seines Herzens abbrechen, denn der Wächter kehrte zurück und teilte uns in strengem Tone mit, die Nezaneh habe befohlen, daß wir kein Essen bekommen und nicht miteinander sprechen dürften; beim ersten Worte würde man uns voneinander trennen. Das war die Folge von Halefs Zungenfertigkeit!

Mir war das Schweigen ganz recht; ihm aber fiel es noch schwerer als das Fasten; das sagte er durch die zwar stummen, aber doch sehr beredten Blicke, wel che er mir von Zeit zu Zeit zuwarf. Das Beste in unserer Lage war, den Versuch zu machen, einzuschlafen. Noch ehe uns das gelang, wurde unser Wächter durch zwei andere ersetzt, welche uns das Verbot des Sprechens noch einmal einschärften. Die Nacht wurde kalt; das Feuer wärmte nicht, und die Fesseln hinderten uns, bequem zu liegen; dennoch schlief ich ziemlich gut und wurde nur durch die Ablösung der Wächter einige Male aufgeweckt.

Als es Tag geworden war, erhob sich draußen ein lautes Geschrei; es klang so gefährlich, als ob das Lager von Feinden überfallen worden sei. Man rannte lebhaft hin und her; wir hörten zornige Flüche; Pferde stampften und wieherten. Ich wurde um die Unsrigen besorgt. Eine der Wachen hatte sich entfernt, um nach der Ursache dieser Aufregung zu sehen; wir aber erfuhren doch nichts, als der Mann wieder kam, denn er machte seine Mitteilung dem Gefährten flüsternd; doch sah man beiden an, daß das, was sich ereignet hatte, etwas ebenso Unangenehmes wie Wichtiges gewesen war.

Wir bekamen auch jetzt weder etwas zu essen noch etwas zu trinken. Wir hätten gern wenigstens einen Schluck Wassers gehabt, doch fiel es uns gar nicht ein, darum zu bitten. Am lästigsten waren uns nicht Hunger oder Durst, sondern die Fesseln. Sie verursachten uns zwar keine Schmerzen, denn sie waren nicht, wie es z.B. bei den Indianern meist zu geschehen pflegt, so fest angezogen, daß sie in das Fleisch schnitten; aber sie ermüdeten uns dadurch sehr, daß sie uns zu einer unbequemen Körperlage zwangen. Übrigens brauchte ich nur zu wollen, um meine Hände frei zu bekommen; denn ich hatte an dem Strick, der sie verband, schon seit gestern gezogen und ihn so ausgespannt, daß ich in jedem beliebigen Augenblicke die Hände herausziehen konnte. Aber damit wäre in Gegenwart der Wächter noch nichts erreicht gewesen, weil uns auch die Füße zusammengebunden waren. Wir hatten also zu warten, bis uns diese einmal freigegeben würden.

Das geschah um die Mittagszeit. Da kamen zwei ältere Krieger herein; einer war der Anführer derer, die uns gefangen genommen hatten. Er machte uns folgende Mitteilung:

»Ihr habt die Nezaneh beleidigt; daher versagt sie Euch die Ehre, wieder zu Euch zu kommen, sondern Ihr werdet jetzt zu ihr geführt, um zu erfahren, was sie nun heute von Euch fordert.«

»Sie hat doch schon gestern ihre Forderung gestellt?« antwortete ich.

»Das ist anders geworden, seit man uns Eure Pferde genommen hat. Dadurch entgeht uns, was sie wert waren, und Ihr habt uns diesen Verlust durch Geld zu ersetzen.«

»Was?« fragte ich erschrocken. »Man hat Euch unsere Pferde genommen?«[188]

»Ja, und noch zwanzig von den Unsrigen dazu!«

»Wer?«

»Es war heute früh eine Dästä-i Sävaräh29 hier; der Kommandant von Kirmanschah braucht Pferde für seine Truppen, weil der Schah dem Sultan der Türken den Krieg erklären will. Ihr seid fremd und wißt also nicht, daß wir Ihlauts die Pferde dazu hergeben müssen, ohne gefragt zu werden, ob wir wollen oder nicht. Dem Naib-i-Aval30, welcher die Reiter anführte, gefielen Eure Hengste, und er nahm sie mit.«

»Habt Ihr ihm denn nicht gesagt, daß sie Euch gar nicht gehören?«

»Khuda nä kunäd – Gott bewahre! Es fiel uns nicht ein, so dumm zu sein. Er hätte mit Euch sprechen wollen und dann das Lösegeld, welches Ihr uns zahlen müßt, in seine eigene Tasche gesteckt.«

»So ist er mit unseren Pferden fort?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Nach Kirmanschah, nicht nur mit den Eurigen, sondern auch mit den Unsrigen. Der Teufel segne ihn! Jetzt kommt!«

Halef war fast starr vor Schreck darüber, daß sein Barkh und mein Ben Rih entführt worden waren. Um nicht verstanden zu werden, raunte ich ihm mokrebihnarabisch zu:

»Sorge Dich nicht! Wir bekommen sie wieder. Wir reiten ihnen nach. Paß nur auf!«

»Schweigt!« wurde uns befohlen. »Ihr habt nicht miteinander zu sprechen! Vorwärts!«

Wir wurden aus der Hütte geführt, und ich war fest entschlossen, sie nicht wieder zu betreten. – – –

Quelle:
Die »Umm ed Dschamahl«. Reiseerzählung von Dr. Karl May. In: Regensburger Marien-Kalender für das Jahr des Heiles 1899. 34. Jg. Sp. 171–200. Regensburg, New York, Cincinnati (1898) (Ohne Paginierung), S. 180-189.
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