I.

[275] Es gibt Aehnlichkeiten, die wirklich ganz erstaunlich sind. Wiesenburg, Wiesenthal und Wiesenberg, diese drei beinahe gleichlautenden Namen stehen in ganz gleichen Intervallen auf der Karte, da die betreffenden Städte in vollständig gleichen Entfernungen von einander liegen.

Wiesenthal ist Bahnstation. Fährt man von hier nach Westen, so gelangt man an einen kleinen Halteort, von welchem aus die zwei Stunden lange Poststraße nach Wiesenburg führt. Und fährt man nach Osten, so kommt man an eine Haltestelle, von welcher aus man Wiesenberg in ganz derselben Zeit erreicht.

Einige Minuten vor Wiesenburg liegt seitwärts von der Straße und mitten unter schattigen Bäumen, die von einem eisernen Stakete umgeben sind, ein allerliebstes Häuschen von sechs Fenstern Front und im gothischen Stile erbaut. Auf dem Ziegeldache ist in abstechenden Farben ein »A – 1860 – H« eingedeckt. Und einige Minuten vor Wiesenberg steht, mehrere hundert Schritte von der Straße gelegen und rings von Bäumen umgeben, um welche sich ein eiserner Zaun zieht, ein kleines, nettes, gothisches Häuschen von sechs Fenstern Breite mit ganz genau derselben Inschrift auf dem Dache.

Das Wiesenburger Häuschen bewohnt Herr Rentier August[275] Hildebrandt, ein Junggeselle, und das Wiesenberger die Rentière Fräulein Auguste Hildebrandt.

Herr Hildebrandt weiß nicht mehr ganz genau, wie alt er ist; er hat keine Zeit, auf die Zeit zu merken, denn das anderthalb Dutzend Hunde, welches er besitzt, macht ihm genug zu schaffen, und außerdem muß er täglich einige Stunden auf seinen Kassenschrank verwenden, um die Nummern der darin aufgestapelten Banknoten immer von Neuem einzutragen. Und Fräulein Hildebrandt kann nicht mehr sicher sagen, seit wann sie die Zwanzig überschritten hat; die Jahre nehmen ihre Aufmerksamkeit weniger in Anspruch als die Katzen, von denen sie ein ganzes Bataillon besitzt, und der Sekretär, in welchem ihre Gold- und Silberrollen liegen.

Herr Hildebrandt hat wie jeder andre Mensch ein Herz, in welchem Liebe und Haß hart neben einander wohnen; die Liebe gilt ausschließlich seinen Hunden, die sie ihm auch erwiedern und der Haß der ganzen übrigen Welt, von der er nicht das Mindeste sehen oder hören mag. Er hat darum seit langen, langen Jahren sein Häuschen nicht verlassen und nur in den allerdringendsten Fällen Jemand vor sich gelassen. Ein dienstbarer Geist Namens Christian besorgt die laufenden Geschäfte; er seufzt unter der Last, welche der Menschenhaß seines Herrn ihm auferlegt, zankt sich vom Morgen bis zum Abend mit ihm herum und ist schon unzählige Male von ihm fortgelaufen, immer aber wieder zu ihm zurückgekehrt. – Und Fräulein Hildebrandt hat ihre Katzen mit unendlicher Liebe in ihr Herz geschlossen; ebenso groß ist aber auch ihre Abneigung gegen jedes andere Geschöpf, den Menschen natürlich mit eingeschlossen. Sie blickt täglich kaum einmal durch das Fenster, besucht den Garten noch viel seltener und setzt den Fuß nie über das Gitterthor heraus, welches man leider hat anbringen müssen, weil es doch nun einmal Bedürfnisse giebt, welche eine wenn auch noch so schwache Verbindung mit der Außenwelt nöthig machen. Diese Verbindung zu unterhalten ist Sache eines weiblichen Wesens, welches den Namen Christine führt, den ganzen Tag wie eine Rohrsperlingin über die Herrin schimpft und einige hundert Male von derselben fortgelaufen ist, um eben so oft wieder zu ihr zurückzukehren.

Herr Hildebrandt ist der Cousin von Fräulein Hildebrandt, und sie ist also seine Cousine. Sie sind die einzigen Ueberreste einer sonst vollständig ausgestorbenen Verwandtschaft, und der überlebende Theil müßte also eigentlich den andern beerben. Um das nun zu hintertreiben, haben Beide adoptirt, er nämlich einen früheren Zögling des Wiesenthaler Waisenhauses, welcher auf den Vornamen Paul hört, und sie ein Mädchen aus derselben Anstalt, welche Pauline heißt, notabene nicht die Anstalt, sondern das Mädchen.

Herr Hildebrandt hat für seinen Adoptivsohn in so väterlicher Weise gesorgt, daß dieser die Universität besuchen konnte und jetzt bei dem Gerichtsamte Wiesenthal als Referendar angestellt ist. Nach Wiesenburg zu kommen ist ihm jedoch von allem Anfange an streng verboten worden. Und Fräulein Hildebrandt hat Pauline auf das Seminar geschickt, um sie zur Lehrerin ausbilden zu lassen. Die Adoptivtochter bekleidet gegenwärtig eine Stelle an dem Töchterinstitut zu Wiesenthal.

Woher aber so viel Haß bei so viel Aehnlichkeiten?

Sie wohnten Beide in Wiesenthal und hatten einander unendlich lieb. Er war der stattlichste junge Mann und sie das hübscheste Mädchen in der Runde. Wenn er mit seinem Wachtelhündchen sie besuchte, so empfing sie ihn mit tausend Küssen und zog ihn neben sich auf das Sopha. Das Hündchen saß dann, von ihrer weißen Hand gestreichelt, auf ihrem Schooße, und ihre dreifarbige Cyperkatze sprang auf seine Schulter, machte einen Chimborassobuckel und zog ihm den langen Schwanz liebkosend über das Gesicht. Das war eine selige Zeit.

Leider besaßen Beide ganz dasselbe jähe, stachelige Temperament. Es gab zahlreiche Veruneinigungen, denen ebenso viele Versöhnungsscenen folgten. Bei diesem Auf- und Niederwogen ihres Glückes konnten Hund und Katze als genaue Thermometer gelten, denn die Stimmung der Besitzer pflanzte sich mit außerordentlicher Regelmäßigkeit auch auf die liebenswürdigen Geschöpfe über. Schnurrte die Katze und wedelte der Hund, so waren wenigstens fünfzehn Grad plus, knurrte der Hund und pfauchte die Katze, so ging man nicht fehl, zehn Grad minus Cupido'scher Skala zu vermerken. Es gab nicht etwa große Sünden gegen Liebe und Treue, sondern jene kleinen, häßlichen Alltägeleien, welche das Gemüth verbittern, wie ein schleichendes Gift die Zufriedenheit zerfressen und langsam aber desto sicherer zum unvermeidlichen Bruche führen. August fühlte, daß er sie nicht mehr leiden könne, und Auguste begann zu vermuthen, daß er ihrer nicht werth sei. Sie theilten sich dies zankend mit, wälzten mit Empörung die Schuld von einer Achsel auf die andre, der Hund zeigte die Zähne, die Katze zischte wie eine Klapperschlange und – Mensch und Thier ging auseinander und zwar mit dem Schwure, sich nie wieder zu begegnen. Die Cyper und der Wachtelhund haben diesen Schwur gehalten; der Erstere steht ausgestopft auf dem Kassenschranke und bewacht die Banknoten seines Herrn; die Letztere liegt in demselben präparirten Zustande auf dem Sekretär und blickt mit den künstlichen Augengläsern auf die Herrin, wenn diese mit den Thalern klimpert; Beide sind von dem Geiste des Hasses getrennt und von keinem versöhnenden Zufalle wieder zusammengeführt worden, – das Firmament sei ihren Namen gnädig!

Herr August Hildebrandt zog, um allen Erinnerungen und Aergernissen aus dem Wege zu gehen, nach Wiesenburg, wo er sich vor dem Orte ankaufte, um, mit aller Welt verfeindet, sein jetziges Einsiedlerleben zu beginnen. Christian war die einzige menschliche Seele, die sich ihm nahen durfte. Um das Herz des Verbitterten legte sich eine Rinde, welche von Jahr zu Jahr stärker und härter wurde, bis er es selbst glauben mußte, daß seine Liebe sich in den grimmigsten Haß umgewandelt habe.

Fräulein Auguste Hildebrandt war zurückgeblieben, doch nicht für lange Zeit. Sollte sie von sich sagen lassen, daß der Ungetreue, dessen Pflicht es gewesen wäre, um Verzeihung zu bitten, die Stadt verlassen habe, um ihrer etwaigen Annäherung auszuweichen? Nein; auch sie zog fort, und zwar nach Wiesenberg, nicht etwa aus Sympathie für den Namen seines jetzigen Wohnortes, sondern um ihm zu beweisen, daß sie ganz das Nämliche haben könne wie er. Derselbe Architekt, der ihm sein Häuschen gebaut hatte, mußte ihr das ihre errichten, derselbe Möbleur es ausstatten; sie mußte Alles bis auf das Tüpfelchen so bekommen, wie er es hatte, und sogar der Name ihres Dienstmädchens, der Name ihrer Adoptivtochter mußte der ganz gleiche sein. Und wie sie sich von der Außenwelt zurückzog, so trat auch ihr Herz immer weiter nach innen, bis sie seine Stimme nicht mehr vernahm und die frühere Zuneigung völlig erstorben und in grimmen Haß verwandelt glaubte.

Soeben sitzt sie am Sekretär und zählt. Ihre Mienen zeigen eine Heiterkeit, welche mit ein wenig Schadenfreude vermischt zu sein scheint.

»Endlich, endlich habe ich es errungen! Er ist ausgestochen, er ist besiegt; von jetzt an stehe ich um eine Steuerklasse höher als er. O, er wird sich ärgern, er wird geradezu wüthend sein, wenn er es erfährt! Ich muß mir nur einmal vorstellen, wie sein verhaßtes Gesicht dabei aussehen wird.«

In der Nische des Sekretärs steht ein mit schwarzem Flor verhüllter Rahmen; sie schlägt die Umhüllung zurück und betrachtet das nun sichtbar werdende Bild.

»Schade, jammerschade um den Menschen, daß er ein so schwarzes Herz hat! Es geht ihm grad wie den Hunden, die er liebt, weil er weiß, daß ich diese Bestien nicht ausstehen kann. Er war unausstehlich und ist es auch noch, sonst hätte er längst Eine gefunden, die es mit ihm zu versuchen wagte.«

In diesem Augenblicke erschallt draußen vor dem Entrée ein markerschütterndes Geschrei. Sie springt empor und eilt hinaus. Ihre Lieblingskatze krümmt sich an der Erde; der Schwanz ist ihr zwischen die Thür geklemmt.

»Himmel, was muß ich sehen! Doris, meine süße Doris, welches Ungeheuer hat Dir das gethan? Christine, Christine!«

Sie befreit das Thier aus der fatalen Lage, nimmt es liebkosend empor und ruft nach der Dienerin. Diese kommt mit zinnoberrothem Gesichte aus dem Garten herbeigelaufen.

»Bist Du jetzt durch diese Thür gegangen?«

»Ja.«

»So! Und hast dabei die Doris eingeklemmt, Du leichtsinniges, unbarmherziges Geschöpf! Schau her, wie sie jammert und sich krümmt! Du wirst von Tag zu Tag unachtsamer, und wenn das so fortgeht, da kann ich Dich nicht länger gebrauchen.«

Christine stemmt die Arme in die Seiten und stellt sich breitspurig vor die Herrin hin.

»Was bin ich, und wie bin ich? Leichtsinnig bin ich, unbarmherzig bin ich und unachtsam bin ich? Ja, leichtsinnig bin ich gewesen, sonst wäre ich nicht zu einer Herrschaft gezogen, die weiter nichts kann als Katzen hätscheln und Dienstboten turbiren; aber unbarmherzig? Was ists denn anders gewesen als die reine Barmherzigkeit, daß ich so lange bei Ihnen ausgehalten habe? Und unachtsam? Grad der Achtsamkeit wegen habe ich aus Versehen und in der Eile hier den Schwanz zwischen die Thür geklemmt! Draußen hängt die Wäsche im Garten; sie kostet mich manche Mühe und Anstrengung, und da zerren wohl an die zwanzig Katzen daran herum, reißen sie von der Leine herunter in den Schmutz und wälzen sich darin herum, als ob der Leibhaftige in sie gefahren sei. Ich springe hinaus, um zu retten, was noch zu retten ist und bekomme nun dafür den Hagel an den Kopf. Die Hausthür ist[276] kein Schwanzfutteral, das muß die Doris wissen, und wenn sie ihn dennoch hineinsteckt, so kann ich nichts dafür. Und wenn ich nicht mehr zu gebrauchen bin, so kann ich gehen. Eine solche Herrschaft bekomme ich in jeder Kurzwaarenhandlung für drei Pfennige!«

»Nimm Deine Zunge in Acht, Christine, sonst mache ich heut einmal Ernst!«

»Ernst? Denken Sie vielleicht, mir ists ein Spaß? Also meine Zunge hat weniger Recht wie ein Katzenschwanz! Der darf sogar[277] zwischen die Thür gesteckt werden, ich aber soll mich nicht vertheidigen? Dieses Leben habe ich satt!«

»So kannst Du gehen. Komm herein! Ich zahle Dir Deinen Lohn, und dann fort mit Dir!«

»Schön! Einverstanden! Sie werden sehen, ob Sie wieder so Eine bekommen, die die Geduld und Langmuth selber ist!« –

Um dieselbe Zeit sitzt Herr August Hildebrandt an seinem Geldschranke und schreibt Nummern ein. Es muß trotz der weiten Entfernung eine Art Rapport zwischen ihnen stattfinden.

»Morgen werden die Formulare gefüllt; ich steige um eine Klasse höher. Das wird sie natürlich hören und ganz außer sich darüber gerathen. Wenn ich mir ihr Gesicht dabei vorstelle, so muß ich heimlich lachen. Ich habe es wohl mehrere Jahre lang nicht gesehen und muß nun einmal suchen, ob ich das Bild noch finde!«

Er hat erst gestern die Photographie wohl eine halbe Stunde lang betrachtet und weiß ganz genau, daß sie im geheimen Fache bei den Werthsachen liegt. Der Mensch ist oft ein recht wunderbares Geschöpf, das schließlich der selbsterfundenen Unwahrheit Glauben schenkt.

»Sie ist schön, wahrhaftig, sie ist schön, aber falsch und untreu wie die Katzen, die sie hält, weil ich das heimtückische Viehzeug niemals habe leiden können. Wenn sie anders wäre, hätte sie schon längst Einen gefunden, der sie von der Schande errettet, keinen Mann zu bekommen!«

In diesem Augenblicke erhob sich draußen in der Küche ein fürchterliches Geheul. Er springt auf und eilt hinaus. Christian hat einen Stock in der Hand und bearbeitet den schönsten Pudel, den man sich nur den ken kann, aus Leibeskräften.

»Halt, Mensch, was fällt Dir ein? Ich glaube gar, Du willst den Leo ermorden!«

»Ja, ermorden will ich ihn, todtgeschlagen wird er, der Hallunke, todtgeschlagen wird die ganze Hundesippschaft, sonst fahre ich noch vor Aerger aus der Haut!«

»Laß ihn los, sage ich Dir, sonst bekommst Du selbst den Stock!«

»Was? Ich selber? I, sehen Sie doch einmal an, was Sie mir da sagen!« Der gute Christian schleudert den Pudel an die Wand, daß alle Knochen krachen und stellt sich in Positur. »Ja, das glaube ich, das traue ich Ihnen wirklich zu! Wie ein Hund wird man hier behandelt, und es ist ein blaues Wunder, daß man immer wieder herläuft, wenn man einmal so gescheidt gewesen ist fortzugehen. Frißt mir das Thier mein ganzes Fleisch, welches ich für die halbe Woche eingekauft habe, vom Tische herunter, ich habe nun weder Saft noch Braten mehr und kann nun gleich wieder in die Stadt laufen, um anderes zu holen. Die Hundewirthschaft wird mir nun endlich zu Gift und Opperment, und entweder wird das Viehzeug abgeschafft oder ich gehe meiner Wege!«

»So geh!«

»Gut! Geben Sie mir mein Geld heraus! Ich gehe gleich und komme gewiß diesmal nicht wieder. Sie können lange suchen, ehe Sie so Einen finden, wie ich gewesen bin!«

Er bekommt den Lohn ausgezahlt, packt seine Sachen und geht.

Er lenkt seine Schritte nicht nach Wiesenburg, sondern wandert dem bekannten Halteorte zu, wo er sich ein Billet nach Wiesenthal löst. So ist es stets gewesen, wenn er fortgegangen oder fortgeschickt worden ist. Dort hat er den Herrn Referendar aufgesucht, um demselben seine Noth zu klagen und ist dann stets mit der stehenden Rede in seinen Dienst zurückgekehrt: »Es fiel mir gar nicht ein wiederzukommen, aber ich traf den Herrn Referendar zufällig, und da mich dieser bat, diesen Brief zu besorgen, so konnte ich nicht anders!«

In Wiesenthal angekommen, ist er noch nicht mit sich einig, ob er heut einmal Ernst machen oder den Referendar aufsuchen solle. Er tritt also in das Wartezimmer, um Zeit zur Ueberlegung zu finden. Während dem kommt ein Personenzug aus der Wiesenberger Richtung, und unter den Ausgestiegenen befindet sich eine robuste Frauengestalt, die ihren zaudernden Bewegungen nach auch nicht mit sich einig zu sein scheint.

Es ist Christine. Bei jedem Bruche mit ihrer Herrin ist sie nach Wiesenthal gefahren, um Fräulein Pauline aufzusuchen, die ein wahrer Engel ist und sie stets mit einem Schreiben zurückgeschickt hat, welches mit den Worten übergeben wurde: »Eigentlich sollte ich mich gar nicht mehr um Sie bekümmern, aber weil ich zufällig Jungfer Paulinchen traf und es ihr nicht abschlagen wollte, so bringe ich noch einmal diesen Brief. Es ist aber der allerletzte!«

Weil sie noch nicht weiß, ob sie sich zur Strenge oder Milde entschließen soll, so tritt sie in das Wartezimmer und nimmt, da dasselbe klein und sehr besetzt ist, an dem Tische Platz, an welchem Christian sitzt.

»Woher?« fragte dieser nach dem gegenseitigen Gruße, mehr aus Höflichkeit, als eine Unterhaltung, an der ihm ja gar Nichts liegt, anzubahnen.

»Aus Wiesenberg.«

»Aus Wiesenberg?« Seine Theilnahme beginnt zu erwachen. »Kennen Sie da vielleicht einen Drachen, welcher Auguste Hildebrandt heißt?«

Sie zögert vorsichtig mit der Antwort und fragt dann:

»Woher kommen Sie?«

»Aus Wiesenburg.«

»Aus Wiesenburg? Kennen Sie da vielleicht einen andern Drachen, Namens August Hildebrandt?«

»Das ist mein Herr.«

»Nicht möglich!« ruft Christine. »Der Wiesenberger Drache ist meine Herrin.«

»Alle Wetter! Wie heißen Sie?«

»Christine. Ich bin fast fünfzehn Jahre in dem Dienst. Wie heißen Sie?«

»Christian, und diene grad ebenso lange bei ihm. Was wollen Sie in Wiesenthal?«

»Ich bin abgezogen.«

»Ich auch; es war nicht länger auszuhalten!«

Die Unterhaltung wird von Minute zu Minute lebhafter, und bald kennt Jedes die traurigen Erfahrungen des Andern. Sie beschließen, sich für heut Gesellschaft zu leisten und wandern mit einander dem Städtchen zu, welches in einiger Entfernung von dem Bahnhofe liegt. Sie besuchen weder den Referendar noch Fräulein Pauline und haben am Abende schon solches Wohlgefallen an einander gefunden, daß sie Arm in Arm die Promenade abspazieren und allerlei angelegentliche Pläne schmieden.

»Weißt Du was, Christine? Ich hab das ganze Leben hier satt, ich gehe nach Amerika. Gehst Du mit? Wir haben uns Beide ein Sümmchen gespart und hier keine Verwandten und Angehörigen. Hier bleiben wir, was wir sind, drüben aber kommt man rasch vorwärts, und wir können dann auch in den Geldschrank greifen wie unsre beiden Drachen.«

»Nimmst Du mich denn mit?«

»Freilich; es paßt ja Niemand besser zusammen als wir.«

»Als was denn?«

»Als meine Frau. Willst Du?«

»Ja,« bringt sie nach einer Pause der schicklichen Verschämung hervor.

»Abgemacht!« Eine kräftige Umarmung besiegelt den süßen Bund. »Aber ehe wir fortmachen, nehme ich noch Rache.«

»Ich auch.«

»Bravo! Wir haben uns genug gefallen lassen und wollen uns nun einmal eine Freude machen. Aber wie?« Nach einem kurzen Nachdenken lacht er auf. »Ich hab's. Hör' einmal!«

Er beginnt, ihr seinen Plan mitzutheilen, wird aber durch einen Aufschrei Christinens unterbrochen.

»Himmel, rasch auf die Seite!«

»Warum?«

»Dort kommt Fräulein Pauline!«

»Das ist sie? Sapperlot, mit meinem Referendar, und noch dazu Arm in Arm wie wir! Komm hinter die Bäume!«

Sie glauben, nicht erkannt worden zu sein, haben sich aber geirrt, wie aus den Blicken des Pärchens, dessen Augen ihren hastigen Bewegungen verwundert folgen, zu ersehen ist. Der Mond ist ein zwar langjähriger Vertrauter der Liebenden, hat aber auch seine schwachen Augenblicke, in denen sein Licht das Plaudern nicht lassen kann.

Quelle:
Die Universalerben. Eine rachgierige Geschichte von Karl Hohenthal. In: All-Deutschland! 3. Jg. Stuttgart (1879). Nr. 18, S. 275-278.
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