III.

[523] Nun war es volle zwanzig Jahre später. Heute jährte sich der Tag, an welchem Herr Frömmelt damals seine Frau und ihren Vater so auf einmal und plötzlich verloren hatte. Darum ging er mit Fräulein Rosalia, welche einen großen Blumenstrauß trug, zum Gottesacker, um die lieben Toten zu besuchen. Diese lagen nebeneinander. Ein gemeinsames Denkmal berichtete über sie. Unter ihren Geburts- und Todestagen stand zu lesen: ›Vereint geschieden, ruh'n sie in Frieden, um dort im Paradiesesgarten, des Lebens Früchte zu erwarten. Die trauernden Hinterlassenen.‹

Als Vater und Tochter vor dem Doppelgrabe standen, sagte der erstere in tief bewegtem Ton:[523]

»Ich mache mir noch heute Vorwürfe darüber, daß ich, streng genommen, auch mit schuld an ihrem Tode bin. Ich hatte ein großes Faß voll Most kommen lassen, um den armen Webern ein Mostfest zu bereiten. Das Faß war nicht dicht, es lief aus. Dadurch füllte sich der kleine Keller im alten Hause mit tödlichen Gasen, an denen sie starben, als sie so unvorsichtig waren, miteinander hinunterzugehen, um den Most zu holen. So kann die Wohltat, welche für andere bestimmt ist, zum eigenen Verderben werden!«

»Und nicht wahr, es war derselbe Tag, an welchem der Musteranton sich ersäufte?« fragte die Tochter.

»Ja, das böse Gewissen trieb ihn in das Wasser. Ich war spazieren gegangen und wußte also nicht, wie das Unglück sich ereignet hatte. Er hatte deine arme Mutter um einige Flaschen Most für seine Frau angebettelt. Da stieg sie mit dem Vater hinab, um ihn aus dem Faß zu schöpfen, worin aber keiner mehr war. Der giftige Dunst warf beide gleich an den Stufen hin, wo ich sie fand. Am Abend lauerte mich der Anton heimlich ab. Er hatte gehört, was geschehen war, und gestand mir, daß er mit seiner Leckerei sie in den Tod getrieben habe. Er möge es gar nicht überleben, daß er ein Mörder sei. Als am anderen Tage seine Frau von der vornehmen Wagenfahrt heimkehrte, sah sie ihn beim Brückle tot im Wasser liegen. Er hatte dich um die Mutter und um den Großvater gebracht. Aber seiner Frau und seiner Tochter wollen wir das nicht nachtragen, weil wir Christen sind und daran zu denken haben, daß auch wir einst sterben müssen!«

Als sie ihre Blumenspende vor dem Denkmal niedergelegt hatten und eine Wanderung über den[524] Kirchhof machten, sahen sie, daß der Totengräber beschäftigt war, ein neues Grab zu graben. Sie gingen hin.

»Wer kommt denn da hinein?« fragte der Musterwirt.

»Der Neubertbauer, der sich bei dir erstochen hat,« lautete die Antwort. »Er liegt drüben in der Leichenhalle und muß nach dem Gesetze in der Gemeinde begraben werden, in welcher er gestorben ist. Denn er ist so verarmt, daß seine Tochter kein Geld hat, ihn hinüber in sein Dorf schaffen zu lassen.«

»Und da kommt er in Reih' und Glied mit ehrlichen Menschen, die keine Selbstmörder sind?« fuhr Herr Frömmelt auf.

»Ja. Der Herr Pastor hat das so befohlen. Und das Kirchengeläut' bekommt er auch.«

»Das fehlte noch! Für solche Verbrecher haben wir die Glocken nicht bezahlt. Ich bin Mitglied des Kirchen- und Schulvorstandes und werde sofort hinüber zum Pfarrer gehen, um ihn zur Rede zu stellen! Komm, Rosalia!«

Sie ging bis zum Pfarrhause mit, welches an den Gottesacker grenzte. Dort wartete sie. Der Vater ging hinein. Der Pfarrer war daheim. Er hörte ruhig an, was der Musterwirt vorbrachte. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Herr Frommhold Uhlig, Sie werden meine Antwort nicht hier hören, sondern an dem Orte, an dem es sich geziemt. Wenn Sie dann noch wünschen, daß der Verstorbene ohne Geläute und ohne Segen hinter in die letzte Ecke begraben werden soll, dann mag es geschehen. Kommen Sie mit mir!«

»Wohin?«

»Das werden Sie sehen!«

Er führte ihn zur Leichenhalle und trat dort mit[525] ihm ein. Fräulein Rosalia ging hinterher und blieb dann draußen stehen. Sie hörte die laute, mahnende Stimme des Geistlichen, verstand aber die Worte nicht. Zuweilen sprach auch ihr Vater, aber nur kurz und unterdrückt. Das dauerte wohl eine halbe Stunde lang. Dann kam der Vater allein heraus. Der Pfarrer war drin geblieben, um zu beten. Fräulein Rosalia erschrak. Der Musterwirt war ganz verstört. Er schien sie gar nicht zu sehen.

»Hast du den Neubertbauer liegen sehen?« fragte sie.

»Ja, und er mich auch!« antwortete er. »Er hat die Augen offen! Diese Augen, diese Augen! Er hat nur immer mich, mich, mich angesehen! Den Pastor nicht! Was will er von mir? Ich habe ihm alles versprochen und erlaubt. Ich gehe sogar mit zu Grabe. Dann macht er mir vielleicht wieder andere Augen. O, diese Augen, Augen, Augen! Die sind wie die Bohrer, wie die Bohrer! Ich fühle, wie sie wühlen, wühlen, wühlen, immer tiefer, immer tiefer! Ich ergreife die Flucht, die Flucht, die Flucht!«

Er rannte fort. Sie vermochte nicht, ihn aufzuhalten. Niemand hatte jemals gesehen, daß Herr Frömmelt solche Schritte machen konnte. Dabei sah er sich von Zeit zu Zeit um, als ob er jemand hinter sich herrennen höre. Als er nach Hause kam, lange noch vor seiner Tochter, eilte er nach seiner Stube, riß einen Kasten auf, nahm das Messer heraus, mit welchem der Neubertbauer sich erstochen hatte, schüttelte sich wie tief in sich hinein und sagte:

»Du, dich muß ich vergraben! Du mußt weg! Sonst kannst du mir gefährlich werden. Das weiß ich jetzt; ich fühle es!«

Er ging in den Busch hinaus, der ihm gehörte.[526] Da hatte er eine Klafter Holz schlagen und einpfählen lassen. Er steckte das Messer unter die Scheite und kehrte dann zurück, einstweilen beruhigt. Aber er hatte das Dorf noch nicht wieder erreicht, so sah er den Erstochenen schon wieder vor sich liegen.

»Diese Augen, diese Augen!« klagte er wieder. »Wie gut, daß er morgen unter die Erde kommt! Ich darf ihn nicht mehr zu sehen bekommen, sonst fängt er wohl gar noch mit mir zu reden an! Und dann müßte ich alles tun, was er will, alles, alles, alles! Das fühle ich! Ich weiß noch jedes Wort, jedes, was er gesprochen hat, ehe er zum Messer griff. Und als er es sich in das Herz gestoßen hatte, was sagte er da? ›Musterwirt, so stirbst auch du – – genau – mit diesem Messer – – –!‹ Brrrrrr! Es schüttelt mich!«

»Wer? Wer schüttelt mich?« fragte er, indem er stehen blieb und sich ängstlich umschaute. »Ist er etwa da? Nein! Aber er kann kommen, denn der Pastor sagte: ›Die Toten stehen auf und rächen sich!‹ Die Toten – –! O, Musteranton! Bist du tot? Wirklich, wirklich? Brrrrrr! Ich muß machen, daß ich zu Leuten komme. Die müssen mich zusammenhalten, daß ich nicht aus mir herausfahre! Denn mir ist, als wolle jemand in mich hinein, der nicht hineingehört, wenn ich der bleiben soll, der ich bin!«

Er schüttelte sich abermals, dann förderte er den übrigen Weg, um so schnell wie möglich heimzukommen. Da traf er mit dem Herrn Lehrer zusammen, der bei seiner Tochter stand und, wie es schien, von ihr ausgescholten wurde.

»Denke dir,« sagte sie, »er ist gestern am ganzen Nachmittage drüben bei dem Herzle gewesen! Hier[527] war er nicht, und ich habe ihn auch nicht hinübergehen sehen; aber jetzt hat er es mir eingestanden. Nun soll er mit mir nach der Stadt fahren, wohin ich wegen des seidenen Kleides muß, und das will er nicht. Er sagt, er habe keine Zeit dazu, aber zum Kaffeetrinken beim Herzle hat er Zeit!«

»Kommen Sie mit herauf in meine Stube, Herr Lehrer!« sagte der Wirt.

Ueber Bernsteins Gesicht ging ein stilles Lächeln. Er folgte ihm.

»Jetzt wird er von dem Vater abgekanzelt, und dann, dann habe ich ihn fest,« dachte Fräulein Rosalia, indem sie nach dem Gastzimmer ging. »Mein Mann muß er werden, unbedingt! Aber das Herrschen und das Befehlen, das bekommt er nicht. Das werde ich behalten!«

In der Stube des Musterwirtes angekommen, setzte sich dieser an den Tisch, zog den Kasten heraus und griff nach einem Buche, welches drin lag. Der Lehrer aber trat sofort an das offene Fenster und schaute in einer Weise zu demselben hinaus, als ob ihn Herr Frömmelt gar nichts angehe.

»Herr Lehrer, Sie wissen wohl, wovon ich mit Ihnen reden will?« fragte der Wirt, indem er zu dem Buche ein Päckchen legte, welches aus zusammengebundenen Postquittungen bestand.

»Nein,« antwortete der Gefragte kurz.

»Von meiner Tochter.«

»So! Ich dachte, eher von der Ausstellung. Mir aber gleich. Sie ist ja auch eine.«

»Was?«

»Eine Ausstellung, also für die Oeffentlichkeit. Für das leise, stille, in sich abgeschlossene Glück der[528] Ehe ist sie nicht erzogen worden. Hierzu taugt sie nichts!«

Da sprang der Vater auf.

»Wozu sagen Sie mir das?« rief er aus.

»Um Ihnen anzudeuten, daß ich für gewisse Pläne nicht zu haben bin. Ich kenne sie, weil sie mir nur allzuoft nahe gelegt worden sind. Aber ich sage Ihnen in aller Freimütigkeit: Ich lasse mich nicht zwingen, mit Ihrer Tochter in die Stadt zu fahren, und noch viel weniger werde ich mich dazu pressen lassen, mit ihr durch das Leben zu kutschieren.«

»Herr Lehrer, ich bin fast Millionär!«

»Das ist nichts, gar nichts!«

»Aber was sind denn Sie? Sie sind mein Geschöpf!«

»Ihr – – Geschöpf?« fragte Bernstein staunend, indem er näher trat und den Wirt mit eisigem Blicke scharf in das Auge nahm.

»Ja, mein Geschöpf! Das hätte ich niemals gesagt, auch jetzt nicht. Aber Sie weisen mir soeben meine Tochter zurück, ohne daß ich sie Ihnen schon angeboten habe. Wie kommen Sie dazu? Und wie kommen Sie so plötzlich zu dem Tone, in welchem es geschehen ist?«

»Infolge der oft wiederholten Andeutungen aus Ihrem eigenen Munde. Und besonders infolge der Szene, welche Fräulein Rosalia mir jetzt, bevor Sie kamen, gemacht hat, weil ich gestern auf dem Bergle gewesen bin. Sie legte mir die Heirat mit ihr förmlich vor die Füße. Das widert einen ja an! Das ist unweiblich und abstoßend im höchsten Grade! Dabei behauptete sie, daß ich zu gehorchen habe! Das andere, was sie sagte, will ich verschweigen. Aber es war nun[529] meine Pflicht, Ihnen, dem Vater, sofort und deutlich zu sagen, daß Sie sich auf mich als Schwiegersohn keine Rechnung machen dürfen, nicht die mindeste!«

Da schaute der Musterwirt ihn an, lange, lange Zeit, erst mit festen, dann mit immer unbestimmteren Blicken, zuletzt wie ganz abwesend.

»Wissen Sie noch, wie Ihre Tochter von ihrem eigenen Vater geschildert worden ist?« fuhr der Lehrer fort. »Es war zwar eine andere gemeint, aber es stimmte ganz genau: ›Nun schaut die mal an, wie sie dahergeht! Wie eine Fürstin tritt sie auf, und nichts ist ihr gut und teuer genug gewesen! Ein solches Gehabe muß den Neuberthof herunterbringen!‹«

Da trat der Wirt zurück und griff sich mit den beiden Händen nach dem Kopfe.

»Der Neuberthof, der Neuberthof,« hauchte er. »Der wieder und immer wieder! Die Toten stehen auf und rächen sich, hat der Pastor gesagt! Habe ich denn ein Loch im Kopfe, wo alles hinein kann, was Neubert heißt? Gut, daß er tot ist!«

»Aber noch nicht begraben,« bemerkte Bernstein unwillkürlich.

»Wie?« fragte der Wirt schnell. »Meinen Sie daß er noch nicht fort ist? Etwa hier, hier, hier? Ich sehe seine Augen! Aber ich gehe morgen mit zu Grabe, da schaue ich zu, bis er hinunter ist und die Erde ganz, ganz darauf!«

Er sah sich in der Stube um, so ängstlich, als ob er sich fürchte. Dann goß er sich aus einer auf dem Tische stehenden Schnapsflasche ein großes Glas voll und leerte es auf einen Zug. Das schien zu helfen. Sein Auge wurde wieder klar, seine Haltung selbstbewußt.[530] Auch seine Stimme hatte wieder den alten, stolzen Klang, als er nun sprach:

»Sie sind Lehrer, Herr Bernstein. Wie ist es gekommen, daß Sie das werden konnten?«

»Das weiß doch jedermann im Dorfe. Mein Vater war ein armer Weber, meine Mutter die älteste Tochter einer armen Witwe, bei welcher die Mutter des Herzle als Ziehkind aufgenommen worden war, wofür sie acht gute Groschen wöchentlich erhielt. Meine Mutter war mit dabei, als der Musteranton seine letzte Dame zog und dabei das Bergle gewann. Ich kam in die Schule, und die Lehrer waren mit mir zufrieden. Sie sagten, daß ich ein begabter Junge sei; sie und der Herr Pfarrer gaben mir Privatstunden, ohne Bezahlung dafür zu fordern. Sie sagten, daß ich wenigstens Lehrer werden müsse; für etwas Höheres reiche der Weberlohn nicht aus. Die Eltern stimmten ein, obgleich sie wußten, daß sie Tag und Nacht arbeiten und dabei hungern müßten, um zusammenzubringen, was auf dem Seminar für mich nötig war. Ich bestand das Aufnahmeexamen. Da starb die Mutter. Im nächsten Jahre folgte ihr der Vater nach, weil er sich bei karger Nahrung überarbeitet hatte. Nun war es sicher, daß ich das Seminar wieder verlassen und Weber werden mußte. Mir graute. Der Herr Direktor gab sich zwar Mühe, eine Unterstützung für mich zu erwirken, doch vergeblich. Da plötzlich kam der Postbote zu ihm und brachte Geld. Auf dem Briefe stand geschrieben, ›Monatsbeitrag für den Seminaristen Hermann Bernstein‹. Ich blieb also. Das Geld kam regelmäßig. Es ist nicht ein einziges Mal ausgeblieben, bis ich meine erste Lehrerstelle bekam. Aber den Absender habe ich trotz aller Mühe niemals entdecken können.«[531]

»So sehen Sie hier dieses Päckchen an!« sagte der Wirt, indem er es ihm gab.

Der Lehrer nahm es in die Hand, öffnete es und schaute nach.

»Die Postquittungen für die Geldbriefe, welche der Direktor für mich erhalten hat,« rief er aus.

Seine Stimme klang gar nicht froh. Er legte das Paket auf den Tisch, ging an das offene Fenster und schaute hinaus.

»Nun?« fragte der Wirt. »Wo bleibt die Dankbarkeit?«

»Die Dankbarkeit?« antwortete Bernstein, indem er sich nach ihm umdrehte. »Sie haben sich vorhin ›fast Millionär‹ genannt. Was waren da für Sie die wenigen hundert Taler, welche ich Ihnen noch in diesem Jahre mit Zinsen zurückbezahlen werde! Sie haben mich Ihr ›Geschöpf‹ genannt. Mein Gläubiger sind Sie höchstens, mein Schöpfer aber nicht! Meinem Schöpfer habe ich zu danken, meinem Gläubiger aber nicht, denn er will mehr von mir, als er mir jemals gegeben hat und geben konnte!«

»Gut, also Gläubiger! Sie können mich sofort bezahlen, sofort, mitsamt den Zinsen.«

»Wieso?«

»Sie haben hier dieses kleine Buch geschrieben: ›Die Notlage der Handweberei im Erzgebirge. Eine volkswirtschaftliche Studie.‹ Der Verfasser ist nicht genannt, aber ich weiß, daß Sie es sind. Der Ertrag des Buches soll Ihnen bleiben für alle Zeit. Aber wenn Sie damit einverstanden sind, daß mein Name als der des Verfassers auf den Titel kommt, so quittiere ich Ihnen augenblicklich Ihre ganze Schuld.«

»Wie schlau, verehrtester Herr Frömmelt – –[532] wie so schlau!« lächelte der Lehrer. »Sie wollen da mit meinem Kalbe ackern und meine Saat in Ihre Furchen legen! Sie wissen, daß unsere Ausstellung das erste, praktische Ergebnis dieses meines Buches ist. Sie wissen ebenso, welchen Eindruck gerade dieses Buch im Ministerium gemacht hat. Man soll Sie für die eigentliche Seele der Ausstellung halten, während Sie sich doch nur für sie interessieren, weil sie die Lage der Weber verbessern und infolgedessen die Seiten Ihrer Schuldbücher vermehren soll. Dies ist nämlich Ihre Absicht, Ihre einzige! Sie sind ein materieller, höchst materieller Herr, so materiell, daß Sie von Geist fast keine Spur besitzen. Und doch möchten Sie auch gern für eine Intelligenz gehalten werden, ja, wohl für die bedeutendste, die es hier in der Gegend gibt. Sie wollen mit dieser Intelligenz während unserer Ausstellung prunken, und damit dies geschehen könne, schlagen Sie mir den Schwindel vor, zu dem ich Ihnen die Hand bieten soll. Sie haben sich verrechnet. Die Dankbarkeit, welche Sie von mir erwarten, ist die Dankbarkeit der Halunken. Ich aber bin ein ehrlicher Mann und mache folglich nicht mit!«

Der Wirt sah ihn an, als ob er gar nicht glauben könne, was er hörte.

»Das – das ist Ihr Ernst – Ihr wirklicher Ernst?« fragte er, indem er beinahe stotterte. »Sie weisen also dieses Uebereinkommen ab und dazu auch die Hand meiner Tochter?«

»Ja.«

»Und meine Rache fürchten Sie nicht? Und was wird aus Ihrer Schuld?«

»Hätte ich von ihr gewußt, so wäre sie längst bezahlt. Ich habe aber noch ein zweites Buch geschrieben,[533] dessen Titel lautet: ›Die Arbeiterarmut und das unlautere Kapital‹. Nächstens wird mir das Honorar ausgezahlt, und davon bringe ich Ihnen so viel, wie Sie zu bekommen haben. Als ehrlicher Mann sage ich Ihnen, daß dieses Buch besonders gegen Sie und Ihr Geschäftsgebaren gerichtet ist, und es wäre mir also schon aus diesem Grunde unmöglich, Ihr Schwiegersohn zu werden.«

»Also haben Sie gar die Absicht, öffentlich gegen mich aufzutreten?«

»Ja.«

Da kam der Wirt mit geballten Fäusten auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und schrie ihn an:

»Mensch, so vernichte ich dich!«

»Vernichten? Pah!« antwortete der Lehrer. »Sie wären mir der Kerl, der mir gefährlich werden könnte! Ich bin ein Kind des Hungers und der Not; darum schreibe ich für mein liebes, armes Volk, für den hungernden Arbeiter! Ich bin es, der unsere Ausstellung in das Werk gesetzt hat, um ihm den Weg zu zeigen, auf welchem es sich helfen kann, durch eigene Kraft, durch eigenes Verdienst. Sie aber sind der Schröpfkopf, der ihm auf dem Rücken sitzt, der Vampyr, der an seinem Blute saugt, der Egel, der an jeder seiner Adern hängt! Sie sind auf meinen Ausstellungsplan sofort gern eingegangen, weil Sie meinten, daß er Ihren dunklen Zwecken dienlich sei. Man wird aber mehr zu sehen bekommen, als Sie denken. Ich stelle nämlich auch aus.«

»Was?« fragte der Wirt.

»Den Herrn Vorsitzenden unseres Komitees mit seinem Etablissement. Es ist an der Zeit, daß man die ›Musterwirtschaft‹ derer kennen lerne, welche glauben,[534] die Kirchenglocken und des Pfarrers Segen seien nur für Leute da, die in dem Hauptbuche irgend eines ›Herrn Frömmelt‹ stehen! Wenn so ein Frömmelt glaubt, mit mir anbinden und mich vernichten zu können, weil ich nur ein armer Lehrer bin, so wollen wir abwarten, wie er einst hinausgetragen wird ins Leichenhaus! Sie haben mir Ihre Verwandtschaft angeboten; ich aber mag sie nicht, weil mir vor dem jetzigen Besitzer des Neuberthofes graut. Der erstochene Bauer geht dort um!«

Da fuhr der Wirt blitzschnell um mehrere Schritte zurück, duckte sich zusammen, spreizte alle zehn Finger abwehrend von sich und fragte:

»Hat man ihn gesehen, schon, schon, schon? Was hat er gesagt von mir, von mir, von mir?«

Bernstein sah ihn betroffen an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte:

»Musterwirt, warum erschrecken Sie bei diesen meinen Worten? Warum dieses Entsetzen? Warum kommt mir gerade jetzt das Sprichwort in den Sinn: ›Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber schrecklich klein!‹«

»Mahlen, mahlen, mahlen!« Er griff sich wieder mit den Händen nach den Kopf. »Sind das die Mühlsteine, die da aufeinander reiben? Das knirscht, das knirscht! Das beutelt bis hinunter! Herr Lehrer, ich bin Ihr Freund, Ihr lieber, guter Freund. Sie greifen nach dem Hut. Gehen Sie nicht fort, nicht jetzt, nicht jetzt! Bleiben Sie bei mir! Trinken Sie einen Schnaps mit mir! Es ist Kognak, echter, alter Kognak, ganz eigenes und bestes Fabrikat!«

Er griff nach der Flasche, um das Glas zu füllen.

»Mir graut vor Ihnen. Ich habe es Ihnen bereits[535] gesagt. Rufen Sie den Neubertbauer! Sie haben ihn ja um den Hof geschnapst!«

Er setzte den Hut auf und ging. Ehe er die Tür zumachte, hörte er es hinter sich stöhnen:

»Um den Hof geschnapst! Der kommt vielleicht – –!«

Als er hinunterkam, stand der leichte Schnellwagen des Musterwirtes vor der Tür. Der Kutscher mit den blanken Rockknöpfen saß wartend auf dem Bocke, hinter ihm Fräulein Rosalia.

»Nun, fertig, abgemacht?« fragte sie den Lehrer mit ihrem freundlichsten Lächeln.

»Ja, abgemacht,« antwortete er.

»So steigen Sie ein! Wir kaufen gleich das Tuch zum Hochzeitsfrack.«

»Damit hat es gar keine Eile. Zum Frack fehlt mir die Braut.«

Er zog den Hut, grüßte und ging. Sie saß wie starr. Dann aber richtete sie sich auf, stieß ein schmetterndes Lachen aus und schrie den Kutscher an:

»Auf wen wartest du denn, Esel! Bist wohl hier angewachsen? Mach', daß du von der Stelle kommst!«

Da knallte er los; die Pferde zogen an, und Fräulein Rosalia, die ›oberste der Festjungfrauen‹, fuhr nach der Stadt – – des weißen, seidenen Kleides wegen! – –

Am nächsten Tage wurde der Neubertbauer begraben. Seine Tochter war gekommen und nach dem Pfarrhofe gegangen, um dort bis zur bestimmten Stunde Schutz zu suchen. Da kam noch eine andere, nämlich das Herzle. Sie reichte erst dem Herrn Pastor, dann der Frau Pfarrerin die Hand und hierauf der Tochter des Verstorbenen.[536]

»Ich sah dich drüben vom Berg herunterkommen, ganz allein,« sagte sie. »Hast schon eine Freundin, die bei dir ist in dieser schweren Stunde?«

»Nein, keinen Menschen,« war die weinende Antwort. »Ich habe mich hier versteckt und will erst zum Grabe gehen, wenn alle Leute dann fortgegangen sind.«

»Verstecken willst du dich vor deinem Vater? Weißt du, ob er nicht vielleicht auf dich wartet? Was gehen dich die anderen Leute an? Als ich sah, daß du allein warst, da habe ich sogleich das dunkle Kleid geholt und Rosen abgepflückt! Dann kam ich her zu dir, um dir die Hand zu geben, damit du jemand habest, der, wenn die Glocken zu läuten beginnen, mit dir zum Vater geht. Wirst es mir erlauben?«

Da schlang die andere ihre Arme um das Herzle, zog es an sich und antwortete, indem sie laut aufweinte:

»Du bist das Herzle, immer, stets das Herzle! Ich war ein stolzes, hochmütiges Bauernkind; nun aber bin ich arm, viel ärmer noch als du. Das Messer, weißt, das Messer, das hat nicht bloß den Vater getroffen, sondern auch mich, tief, tief in die Seele hinein. Darum hast du recht: Ich gehöre hin zu ihm, und du, du sollst mich führen.«

»Ja, ich führe dich und gebe dir meine Rosen; die sollst du ihm noch schenken.«

Da legte der Pfarrer seine Hände auf ihre beiden Köpfe und sprach:

»Mir ist, als ob der Abgeschiedene mich bäte, dir, seinem Kinde, seinen Segen zu erteilen, und dir, mein gutes Herzle, seinen Dank. Hört! Die Glocken klingen schon. Ihr geht mit mir hinaus. Denn jeder, der im[537] Leide des Lebens steht, der steht in Gottes Hand und in seines Priesters Schutz!«

Als sie aus dem Pfarrhause traten, sahen sie, daß sich fast der ganze Kirchhof mit Menschen gefüllt hatte. Es gab viele, viele da, welche gegen ein solches ›ehrliches‹ Begräbnis des Selbstmörders gewesen waren, nun aber der greise, im wahren Sinne christlich denkende Pfarrer es durchgesetzt hatte, daß seine Gemeinde ebenso zu vergeben habe, wie sie von Gott Vergebung erwarte, war man gekommen, um zu zeigen, daß die Tat verziehen sei. Der Tote hatte ja nur sich selbst gerichtet.

Er lag im offenen Sarge über seinem offenen Grabe. Das war so Sitte hier im Dorfe. Die ganze aufgeworfene Erde wurde rund um die tiefe Grube aufgehäuft. Hierüber kamen zwei Querhölzer, auf welche der Sarg lang gesetzt wurde. Der Deckel lag daneben. Die Adjuvanten und Kurrendaner sangen ein Lied. Hierauf hielt der Pfarrer über der unverhüllten Leiche seine Rede, worauf der Sarg geschlossen und hinabgelassen wurde, nachdem die Querhölzer entfernt worden waren. Und erst dann, wenn er unten lag, gab der Geistliche seinen Segen. Von einem Zunageln, Zuschrauben oder einer sonstigen Befestigung des Deckels pflegte keine Rede zu sein. Die Leisten schlossen auch ohne dies eng aneinander. Und die Schwere der nachgeschaufelten Erde machte jeden anderen Verschluß überflüssig.

Zufälligerweise gab es morgen wieder ein Begräbnis. Das Grab war schon fertig. Es lag neben dem des Neubertbauers. Darum konnte die versammelte Menge von dieser Seite nicht ganz an das letztere herantreten. So standen in der unmittelbaren Nähe des[538] Sarges also nur die dazu Berechtigten oder Verpflichteten. Das waren die Tochter mit dem Herzle, der Pfarrer, der Totengräber, die Träger des Sarges und die Mitglieder der Ortsbehörde, welche in diesem Falle offiziell anwesend zu sein hatten; zu ihnen gehörte auch der Musterwirt, weil er sich in den Kirchenvorstand hatte wählen lassen. Er hätte heute auf seine Obliegenheiten freilich mehr als gern verzichtet; aber der Geistliche hatte ihm gestern derart in das Gewissen gesprochen, daß es ihm geradezu unmöglich gewesen war, daheim zu bleiben.

Er stand am Fußende des Grabes und schaute unausgesetzt in dieses hinab. Es war ihm durchaus unmöglich, die offen daliegende Leiche oder gar deren Gesicht anzusehen. Der Tote hatte die Augen noch immer offen, denn niemand war auf den Gedanken gekommen, ihm vor der eingetretenen Leichenstarre die Lider zuzudrücken.

Das Lied wurde gesungen. Hierauf folgte die Begräbnisrede. Der Pfarrer verstand es, zum Herzen zu sprechen. Die Tochter des Verstorbenen schien sich in Tränen auflösen zu wollen; das Herzle weinte still, doch unausgesetzt vor sich hin, wobei sie die arme, neue Freundin fest an der Hand hielt. Wer von den übrigen nicht weinte der war doch tief ergriffen. Der Musterwirt starrte immer in die Grube nieder; aber daß er hörte, was der Prediger sprach, das sah man ihm an. Er griff sich mit den Händen bald an das Herz, bald an die Kehle, als ob sie ausgetrocknet sei. Zuweilen holte er wie konvulsivisch Atem. Von Zeit zu Zeit nahm er den Hut vom Kopfe und wischte sich die Stirn, auf welcher der Schweiß in großen Tropfen stand. Es ging ein immerwährendes Rucken[539] und Zucken durch seinen Körper, durch alle seine Glieder. Dabei war es, als ob er auf dem Sprunge stehe, der großen, inneren Qual zu entfliehen, die fast stärker war, als er zu tragen vermochte.

Das Thema der Predigt waren nur die wenigen, von der Seligpreisung abgeschnittenen Bibelworte: »Und ihre Werke folgen ihnen nach!« Kein Toter läßt zurück, was er hier tat und sprach. Und je näher dem Tode es getan oder gesprochen wurde, um so fester ist und bleibt es mit ihm verbunden. Wehe dem unglücklichen Menschen, von dem ein Sterbender scheidet, indem er ihn verflucht! Und wohl dem Glücklichen, den ein Scheidender segnet; es ist ein Segen wie von Himmelshand!

Da war es dem Musterwirt nicht möglich, länger stehen zu bleiben. Fort konnte und durfte er nicht, wenn er nicht ungeheures Aufsehen erregen wollte. Er setzte sich also nieder, auf eines der Bretter, mit denen die lockere, um das Grab hoch aufgeschaufelte Erde gestützt worden war. Der Pfarrer mochte Mitleid mit ihm fühlen. Er sprach von jetzt an schneller. Am Schlusse der Predigt gab er das Zeichen, daß der Sarg zu schließen sei. Die Tochter legte dem toten Vater die Rosen des Herzle auf die Brust, nahm weinend seine Hand zum letzten Male in die ihrige, und dann wurde der Deckel aufgelegt. Die Träger zogen zwei Seile unter den Sarg hinweg und hielten sie hüben und drüben fest, um ihn langsam und vorsichtig hinabzulassen, nachdem die Querhölzer entfernt worden waren. Der Totengräber trat hinzu, um dies zu tun. Er begann mit dem, welches unter dem Fußende des Sarges lag. Dabei stemmte er sich mit seinen Füßen gegen die dünne Erdwand, welche er zwischen dem heutigen[540] und dem morgenden Grabe gelassen hatte. Sie gab dem zu starken Drucke nach und stürzte in die jenseitige Grube. Der aufgeschaufelte Erdwall folgte an dieser Stelle nach, das untere Querholz mit und ebenso der Mann, der hier hüben das Seil zu halten hatte. Er ließ es los und verschwand sofort im Nebengrabe.

Hierdurch hatte der untere Teil des Sarges den letzten Halt verloren; er neigte sich nach unten. So verlor die ganze Last das Gleichgewicht und war nicht mehr zu halten; den schmalen Teil voran, rutschte der Sarg auch von der anderen Stütze ab und schoß mit dumpfklingendem Anschlage in die Tiefe. Unten grad in der Mitte auftreffend, wurde er durch den Stoß auseinander geteilt, die eine Hälfte, in welcher der Tote lag, lehnte sich, aufrecht bleibend, nach der einen schmalen Seite des Grabes hinüber; der leere Deckel kam ebenso aufrecht an die andere zu liegen.

Ein vielstimmiger Schrei war erschollen. Am lautesten brüllte der Musterwirt. Er wollte aufspringen; aber das Brett, auf dem er saß, hatte nun keinen Stützpunkt mehr und legte sich um. Er verlor mitten im Aufspringen den Boden unter den Füßen, kreischte noch einmal auf und schloß die Augen. Es war ihm, als ob er tiefer, tiefer und immer tiefer sinke, stundenlang, ja wohl tagelang. Dann stand oder lehnte er irgendwo. Er hörte hoch, hoch, unendlich hoch über sich schreien. Er wollte sehen, wo er sich befand; aber es machte ihm Anstrengung, die Augen wieder aufzuschlagen. Endlich gelang ihm dies. Er sah sich im oberen Teile des Sarges schief aufgerichtet lehnen. In dem anderen Teile stand der Neubertbauer, der ihm mit offenen, fürchterlich verglasten Augen grad in das Gesicht starrte. Die Erde schoß in einzelnen, größeren[541] und kleineren Klumpen auf sie beide herab. Das sah genau so aus, als ob der Bauer sich bewege, und auf ihn zukomme.

»Er kommt; er kommt!« brüllte er in fürchterlichster Angst. »Ich muß ihm nach, ihm nach – – – ihm nach!«

Er wollte aus dem Sargdeckel heraus und griff nach den beiden Kanten desselben, um mit einer konvulsivischen Bewegung loszukommen. Dabei stemmte er seine Füße unwillkürlich unten an den Sargteil, in welchem sein entsetzliches Gegenüber stand. Das verursachte einen schiebenden Druck, und die bisher scheinbare Bewegung wurde zur wirklichen. Der Neubertbauer bewegte sich nach vorn. Die gläsernen Augen starr auf ihn gerichtet, neigte er sich zu ihm herüber.

»Die Toten erwachen – – – aber ich räche mich – – ich, ich, ich!« zeterte der Musterwirt. »Ich erwürge ihn! Er muß ersticken, ersticken – – – ersticken!«

Er schlug die beiden Arme um den Toten und preßte ihn mit der Anstrengung aller seiner Kräfte an sich. Oben über den beiden war alles in Bewegung, die Erde auch. Sie kam herunter und verschüttete das Grab fast bis zur Hälfte. Dabei flog die andere Querstütze mit herab. Sie stieß erst drüben auf und schmetterte dann hüben mit dem anderen Ende auf den entblößten Kopf des Musterwirtes nieder. Das war ein Schlag, der sehr leicht töten konnte.

Man kann sich denken, in welcher Aufregung sich die auf dem Kirchhofe befindliche Menschenmenge hin- und herbewegte. Der Pfarrer und der Lehrer Bernstein waren fast die einzigen, welche sich nicht vom Schrecke beherrschen ließen. Während der Lehrer sich[542] bemühte, unter den Dorfbewohnern die verlorene Ruhe wieder herzustellen, sorgte der Geistliche zunächst für die Entfernung der Tochter des nun doch noch nicht Begrabenen. Das Herzle mußte sie in das Pfarrhaus bringen, wo die Frau Pastorin sich liebevoll ihrer annahm. Doch blieb das Herzle auch bei ihr.

Sodann mußte vor allen Dingen der Lebende von dem Toten getrennt und aus dem Grabe herausgeholt werden. Aber als man dies versuchte, lagen die Arme des Wirtes so fest und starr um die Leiche, daß man sie unmöglich auseinander bringen konnte. Es hatte ganz den Anschein, als ob der erstere vor Schreck nun auch gestorben sei. Das war beinahe grauenhaft! Sie wurden, beide vereint, mit großer Mühe emporgeschafft und einstweilen neben dem Grabe hingelegt. Was sollte man nun mit ihnen machen?

Man versuchte noch einmal, die Arme und Hände des Wirtes vom Bauer loszumachen, aber es ging nicht. Da war der Pfarrer der Ansicht, daß ein Arzt zu holen sei. Im Dorfe gab es keinen, und bis in die Stadt war ein weiter Weg. Es wurde also nach dem Gasthofe geschickt; der Kutscher solle sofort anspannen und den dortigen Bezirksarzt holen, da vielleicht ein plötzlicher Todesfall zu konstatieren sei. Wo aber inzwischen mit den beiden so fest vereinten Körpern hin? Auch hier wußte der Geistliche den besten Rat.

»Hoffentlich lebt Herr Frömmelt noch,« sagte er. »In diesem Falle gehört er nach Hause; aber da müßte er von dem Verstorbenen los, und das geht leider nicht. Oder vielleicht in das Leichenhaus? Nein, denn dort gehört kein Lebender hin. Schafft sie hinüber in meine Sakristei; ich hole schnell den[543] Schlüssel. Aber deckt sie zu. So ein Anblick ist nicht für neugierige Menschen!«

Er ging. Die Träger zogen, schnell bei der Hand, den unteren Teil des Sarges aus dem Grabe und legten die beiden hinein. Daß dabei der Wirt nach unten zu liegen kam, das ließen sie als einfachen Zufall gelten; sie dachten nicht daran, daß ein Unterschied zwischen lebendig und tot zu machen sei. Hierauf wurde der Sarg auf die Bahre gestellt. Dann holten sie auch den Deckel, welcher über die Körper gelegt wurde, weil er doch einmal zum Sarge gehörte. Ueber das Ganze breitete man das Leichentuch – – der Neugierde wegen, wie der Pfarrer gesagt hatte. Auf den Schlüssel brauchte man nicht zu warten. Es war ja mit den Glocken geläutet worden und die Kirche also offen. Man trug die Bahre hinein.

Das letztere alles hatte der Totengräber geleitet. Er war der Beamte hierzu und ein erfahrener Mann. Darum sorgte er pflichtgemäß dafür, daß kein Unberufener mit in die Kirche kam, er war also mit den Trägern dort allein. Er eilte ihnen voraus nach der Tür zur Sakristei. Sie war nur für die Figur des Geistlichen berechnet und erschien ihm für die breite Bahre zu schmal zu sein. Darum ließ er die letztere einstweilen auf dem Altarplatze niedersetzen. Die Träger kamen zu ihm, um auch zu begutachten, ob hindurchzukommen sei. Sie taten das mit leisen Stimmen. Das erforderte der heilige Ort, an dem man sich befand, und an welchem nur der Pfarrer in lauten Worten sprechen durfte.

In diesem Augenblicke kam dieser ihnen nach, den überflüssigen Schlüssel in der Hand. Er stand am vorderen Eingange und überschaute schnell die[544] Situation. Von rechts her schien die Sonne durch das Fenster, gerade auf das große Altarbild, welches Herr Frömmelt vor zwei Jahren zum Kirchenjubiläum gestiftet hatte. Es stellte die Auferstehung von dem Tode dar, nach der Ansicht des betreffenden Malers. Der Körper lag im Sarge, sichtbar schon in Verwesung übergegangen. Aus dieser Verwesung stieg der Geist heraus, dem der Künstler die Gesichtszüge des frommen Spenders gegeben hatte. Sie traten jetzt im Sonnenstrahle mit größter Deutlichkeit hervor.

Vor diesem Bilde stand die Bahre in jenem Halbdunkel, welches selbst am hellen Tage kleinfensterigen Kirchen eigen ist. Der Geistliche erschrak, als er sah, in welcher Weise man seine Anordnungen ausgeführt hatte. Er eilte herbei, um das schwere, erstickende Tuch schnell herabzureißen, war aber noch nicht ganz heran, so blieb er stehen. Das Tuch bewegte sich.

Es wurde auf der einen Seite mit samt dem Sargdeckel hoch emporgehoben. Von innen erschien eine Hand, welche es herunterzog. Hierbei stürzte der Deckel auf die Seite. Zwei Gestalten erschienen, von denen die eine, welche sich mit der anderen aufgerichtet hatte, diese andere noch mit einem Arm umschlossen hielt. Es war der Musterwirt mit seinem toten Staatsanwalt. Er sah der Leiche in das Gesicht, doch sonderbarer Weise nicht mit dem Ausdrucke des früheren Entsetzens. Indem er aus dem Sarge heraustrat, ließ er den Toten langsam wieder niedergleiten. Dann richtete er sich auf, hoch und kerzengerade. Sein Blick fiel auf das Altarbild und blieb auf demselben haften. Etwas anderes schien er nicht zu sehen. Die Anwesenden, auch der Pfarrer, wagten nicht, sich zu bewegen. Es war ihnen zu Mute, als ob sie sich nicht hier[545] in der kleinen Dorfkirche, sondern in einer ganz anderen, unendlich weiten und geheimnisvollen Welt befänden. Und das Gesicht des so plötzlich aus dem Sarge Auferstandenen hatte einen Ausdruck, der ihnen unbeschreiblich erschien. Nun erhob er die Hand gegen das Bild, ballte sie zur Faust und sprach mit so lauter Stimme, daß es durch die ganze Kirche schallte:

»Bist du das, frommer Musterwirt? So schön, so rein steigst du aus deinen Sünden? Die Menschen konntest du mit dem Bilde betrügen, mich aber nicht, und auch nicht Gott, den Herrn! Schau her, und sieh dir eine andere Auferstehung an, keine gemalte, sondern eine echte! Hier, wo ich bin, da steht soeben der Neubertbauer, den du gemordet hast durch seine eigene Hand, von seinem Tode auf. Da liegt im Sarge der Körper, mit dem Messerstiche in der Brust. Ich aber bin der Geist, sein Geist, der Geist des Neubertbauers! Hörst du mich? Die Toten stehen auf und rächen sich. Drum gehe ich fort von hier und suche nach einem Messer! Und sobald ich es gefunden habe, triffst du dich ganz genau so, wie ich mich – – – mit deiner eigenen Hand! Wie hat meine Leichenrede geklungen, die auch die deine war? ›Wehe dem unglücklichen Menschen, von dem ein Sterbender scheidet, indem er ihn verflucht!‹ Den Leib hast du mir genommen. Nun nehme ich dir den deinen. Es geht jetzt Geist gegen Geist!«

Er hob die geballte Faust noch einmal gegen das Bild empor; dann griff er sich mit beiden Händen nach dem Kopfe und brach langsam, langsam in sich selbst zusammen.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Herzle saß mit der Mutter vor dem Hause[546] und klöppelte. Die Ziege war hinunter an das Wasser gegangen, um zu trinken, denn man hatte heute einen gar heißen, durstig machenden Tag. Auch Ziegen merken das, zumal wenn man eine so feinempfindliche ist, wie das Karlinchen war. Das galt nicht bloß dem Wetter, sondern fast noch mehr den Menschen. Es gab Personen, von denen das Karlinchen absolut nichts wissen wollte, zum Beispiel Fräulein Rosalia, die jetzt über die Wiese herüberkam, wahrscheinlich um das Herzle aufzusuchen, obgleich sie sich kürzlich wegen des Herrn Lehrers so schlecht gegen dasselbe benommen hatte. Karlinchen war, wie man wohl noch wissen wird, persönlich dabei gewesen. Sie hatte jedes Wort gehört und es sich in den Kopf gesetzt, das ungezogene Frauenzimmer gar nicht wieder auf das Bergle heraufzulassen. Wenn sich aber eine Ziege etwas in den Kopf nimmt, so schafft sie es bis in die Hörner hinauf, und so kann man sich sehr leicht denken, daß sich das Karlinchen jetzt auf die Brücke stellte und die widerwärtige Mustertochter, als sie herüberwollte, mit den Hörnern zu bearbeiten begann. Sie ließ erst dann von ihr ab, als das Herzle herbeigeeilt kam und zu ihr sagte:

»Karlinchen, geh' hinauf zur Mutter; die hat noch eine Semmel für dich vom Herrn Lehrer.«

»War er heute wieder hier?« fragte Fräulein Rosalia.

»Ja,« antwortete das Herzle. »Er fragte nach meinen Spitzen, ob sie in vier Wochen fertig sein werden, weil da die Ausstellung beginnt.«

»Er kann immer zu dir kommen; ich habe nichts mehr dagegen. Ich mag ihn nämlich nicht. Ich habe ihn gern gehabt, aber ich kann ihn nicht mehr leiden;[547] er ist mir zuwider. Darum werfe ich ihn weg. Ich schenke ihn dir. Hebe ihn auf. Du kannst ihn neh men!«

Da flammte es in dem sonst so freundlich ruhigen Gesichtchen des Herzle zornig auf.

»Bilde dir das ja nicht ein, was du sagst!« rief sie aus. »Du kennst den Herrn Lehrer nicht. Er steht höher, viel höher als du und ich und die anderen alle, den Herrn Pastor ausgenommen. Du und ich, wir sind es gar nicht wert, daß er sich überhaupt mit uns abgibt. Und gar heiraten? Das würde ja genau so sein, als ob zwei Salatpflanzen sich einbildeten, es werde ein Bräutigam kommen und eine von ihnen als Rose an seine Brust stecken! An eine solche Stelle gehört das Allerbeste, was es nur geben kann. Du hast dir eingedünkelt, das zu sein, ich aber nun und nimmermehr! Und ihn mir schenken, und ich ihn nehmen? Oder gar du ihn wegwerfen, und ich ihn aufheben, etwa wie einen Ball, der mit sich spielen lassen muß, wie es beliebt? Das ist eine Dreistigkeit, die er sich ganz gewiß verbitten wird, und ich verbitte sie mir auch! Er ist für mich ebenso unerreichbar wie für dich, und darum habe ich ihn mir mit keinem einzigen Gedanken jemals eingebildet; aber ich sage dir trotzdem, daß nicht einmal meine Ziege etwas nehmen würde, was Fräulein Rosalia weggeworfen hat, viel weniger das Herzle. Da hast du es!«

Nämlich das Karlinchen hatte zwar die Mutter um die Semmel angemeckert, war aber nicht allsogleich verstanden worden. Das war ihr ganz von Natur aus in die Hörner gestiegen. Da man aber auf keinen Fall die eigene Herrin mit ihnen bearbeiten kann, so nahm sich das schnell entschlossene Karlinchen eine angenehme Verwechslung der Personen vor. Sie holte[548] wütend aus, rannte das Bergle hinab, wo durch die Abschüssigkeit des militärischen Geländes der Angriff sehr an Vehemenz gewann, und fuhr dem Fräulein Rosalia derartig von hinten in die Beine, daß die Mustertochter sofort zunächst auf die Ziege und dann gar auf die Erde zu sitzen kam.

»Hinterlistige Bestie!« schrie sie zornig. »Hebe mich auf, Herzle. Da, faß mich bei den Händen!«

»Du hast soeben gehört, daß ich nichts von dir aufhebe, am allerwenigsten dich selbst!«

Bei diesen Worten drehte sie sich um, ließ sie sitzen und ging das Bergle hinauf zur Mutter. Das Karlinchen hatte sich die Wut aus den Hörnern gestoßen und befand sich also wieder in loyaler Stimmung. Sie folgte ihr, sah sie oben fragend an und bekam also ohne weitere Supplik die jetzt sehr wohlverdiente Semmel. Fräulein Rosalia aber richtete sich mit Unterstützung des gleich neben ihr stehenden Rettichbirnbaumes langsam wieder auf, strich die Falten ihres rot und gelb gewürfelten Poil de chêvre-Rockes glatt und hinkte, mit sich selbst teils wohl-, teils unzufrieden, hinterdrein. Oben angekommen, machte sie einen weiten Bogen um das Karlinchen herum und sagte:

»Ich würde sogleich wieder fortgegangen sein, wenn ich nicht etwas sehr Wichtiges zu sagen hätte. Nämlich das Zeug zum neuen, seidenen Kleid ist da. Und als sie mir den fast ganz toten Vater in das Haus brachten, da bin ich gleich wieder in die Stadt gefahren und habe mir die schwarzen Trauerstoffe geholt. Das gibt drei andere, neue, dunkle Kleider, ohne die Schleier, die Hüte und das Schulterumgehänge aus Trauerflor. Du hast keine Zeit, das alles zu machen, Herzle, und doch muß es schnell fertig sein. Denn was soll denn[549] werden, wenn der Vater vollends stirbt, und ich habe nichts auf dem Leib, um zu zeigen, daß ich darüber betrübt und wehklagend bin! Darum habe ich mir zwei Nähterinnen aus der Stadt bestellt. Die sind vorhin angekommen. Aber ich habe gleich gemerkt, daß sie nicht wissen, wie sie es mit einer richtigen Trauer anzufangen haben. Ich möchte also, daß du kommst und die Aufsicht übernimmst. Hast nur die Angaben zu machen. Kannst deine Klöppelei mitbringen und an den Spitzen arbeiten, wirst aber doch bezahlt, als ob du für mich arbeitetest. Das ist doch nobel von mir. Nicht?«

»Wie steht es mit deinem Vater?« fragte das Herzle, ohne auf die letzten Worte einzugehen.

»Der liegt in seiner Stube.«

»Und du bist bei ihm, um ihn zu pflegen?«

»Ich? Wo denkst du hin! Was sollten die Gäste sagen, wenn ich nicht immerfort bei ihnen säße? Es würde bald keiner mehr kommen. Das ist eine Not! Und dabei die schwere Sorge um die Kleider! Als die Anführerin der Festjungfrauen muß ich doch etwas so ganz Apartes haben. Und wo bekommt man das her, wenn man nicht immerfort darüber nachdenkt? Und beim Begräbnis des Vaters bin ich doch ebenfalls die Hauptperson, die einen Anzug haben muß wie keine andere. Ich sinne mir beinahe die Gedanken aus dem Kopf! Der Vater aber liegt in seinem Bette und tut ganz gleich dazu, was um ihn geschieht. Ich glaube, dem ist es ganz egal, ob der Sarg schwarze oder silberne Beine hat. Ich habe aber goldene bestellt. Die kosten nur zwei Taler mehr als silberne. Der Knecht geht täglich dreimal zu ihm hinauf, früh, mittags und abends, um nachzusehen, wie es mit ihm steht.[550] Auch der Pfarrer war schon zweimal da. Das ist doch Zuspruch und Besuch genug.«

»Was sagt der Arzt?«

»Der schüttelt den Kopf. Er meint, das sei ein ganz eigener Fall, mehr seelisch, als wohl körperlich, weil der Vater nicht aufwache und die Augen nicht öffne, aber immerfort leise vor sich hinspreche. Es sei möglich, daß er wieder gesund werde; nun, da hebt man sich die Trauerkleider eben für später auf; aber da sein müssen sie für alle Fälle. Viel wahrscheinlicher aber werde er sterben. Der Schlag mit dem Querholze sei höchst lebensgefährlich gewesen. Die Betäubung werde langsam in den Tod übergehen. Der Doktor widerspricht sich überhaupt. Ich möchte keinen Arzt zum Manne haben! Es ist zwar sehr schön, daß man den Mann da nicht den ganzen Tag vor den Augen haben muß, aber wer nicht einmal weiß, wie er mit einem Kranken daran ist, wo soll der das Geschick dann hernehmen, einen gesunden Menschen oder gar eine junge Frau Doktorin zu behandeln! Also, du kommst, Herzle?«

»Eigentlich habe ich keine Zeit dazu; ich werde es aber dennoch tun, wenn ich einen Wunsch haben darf.«

»Welchen?«

»Ich komme nur dann in die Nähstube, wenn ich dort etwas anzuordnen habe; sonst aber sitze ich droben bei deinem Vater!«

Da stand die Mutter auf, ging auf die andere Seite des Tisches zu ihrem Herzle hinüber, gab ihr einen Kuß auf die Stirn und kehrte dann an ihren Platz zurück. Das tat sie, ohne ein Wort dazu zu sagen. Fräulein Rosalia aber sprach:

»Das ist wieder eine deiner Mucken, die kein[551] anderer Mensch begreifen kann. Ich will dir aber deinen Willen tun, weil ich weiß, daß sonst nichts Richtiges aus den Kleidern wird. Denke aber nicht etwa, daß ich zu dir und ihm hinaufkomme! Es ist mir ganz unmöglich, bei jemand zu sein, der krank ist. Das stößt mich ab; da werde ich selber krank! Ich habe mich zu erhalten! Mußt aber so bald wie möglich kommen. Ich warte schon jetzt auf dich!«

»In einer halben Stunde bin ich drüben.«

»So gehe ich jetzt voraus. Haltet die Ziege fest, damit sie mich nicht wieder stößt!«

»Habe keine Sorge! Gehen läßt sie dich gern; nur das Kommen kann sie nicht leiden.«

Als das Karlinchen sah, daß Fräulein Rosalia sich entfernen wollte, senkte sie den Kopf, schielte ihr warnend in das Gesicht und zeigte ihr die Hörner. Das bedeutet im erzgebirgischen Dialekte ungefähr so viel wie: »Mach' dich fort, und laß dich ja nicht wieder sehen, sonst setze ich dich abermals auf deinen bunten Poil de chêvre-Rock!«

Das Herzle hielt Wort. Nach einer halben Stunde war sie drüben im ›Etablissement‹. Und nach wieder einer halben Stunde trat sie mit ihrem niederländischen Klöppelkissen, welches bekanntlich nicht rund, sondern viereckig ist, in die Stube des Musterwirtes. Dort zog sie sich ganz, ganz leise den Tisch an das Fenster und legte das Kissen darauf. Nachdem sie ebenso leise einen Stuhl herbeigeholt hatte, schlich sie sich auf den Zehen zu dem Kranken hin, um ihn zu betrachten. Sein Kopf war verbunden, der Verband vollständig trocken. Die Lippen bewegten sich, als ob sie sprechen wollten und doch nicht könnten. Da ging sie fort und holte Wasser. Sie nahm den Verband ab, befeuchtete[552] ihn und legte ihn dann wieder auf. Kaum hatte sie das getan, so ging in den Zügen des Musterwirtes eine Veränderung vor. Er lächelte; das beruhigte sie; sie hatte das Richtige getroffen.

Hierauf kehrte sie nach dem Tische zurück und begann, zu klöppeln, möglichst leise. Es war so still, so ruhig in dem Raume. Das Geräusch der Straße und der rücksichtslosen Geschäftigkeit drang nicht herauf. Die in den beiden kleinen Händchen sich bewegenden Klöppel klangen aneinander, als ob unsichtbare Engel Kastagnetten spielten. Zuweilen ruhten sie für kurze Zeit, nämlich wenn das Herzle an dem Bette stand, um den Verband wieder anzufeuchten.

Es war beim vierten oder fünften Male, daß sie das tat, da öffnete er die Augen zum ersten Male, seit er sich hier befand. Er sah sie lange, lange an, erst ohne allen Ausdruck; dann aber trat das Leben langsam in die Augen.

»Gib mir Wasser!« flüsterte er.

Das klang, als ob in seinem Innern alles trocken sei. Sie holte einen Löffel, schob ihm die Hand unter den Nacken und flößte ihm die kühle Flüssigkeit in den durstig sich öffnenden Mund. Er sog sie mit Begierde ein und sah sie dabei so innig dankbar an, daß sie es heiß und feucht aus ihrem Herzen steigen fühlte.

»Wie heißest du?« fragte er sie sodann.

»Ich bin das Herzle,« sagte sie, der vollen Wahrheit gemäß.

Da sann er nach, längere Zeit. Ein helles Lächeln kam.

»Ich kenne dich. Du warst mit ihr beim Pfarrer und dann an meinem Grabe. Du brachtest Rosen mit! Laß mich jetzt ruhen!«[553]

Sie kehrte an ihre Arbeit zurück und dachte während derselben an seine Worte. Dabei lauschte sie aufmerksam zu ihm hinüber.

»Herzle, Wasser!« klang es nach einiger Zeit.

Sie gab es ihm.

»Schieb' den Riegel vor!« bat er. »Laß niemand ein!«

Sie tat es und kehrte dann zu ihm zurück.

»Herzle, tu' mir zweierlei!« sagte er.

»Sehr gern!« antwortete sie.

»Laß die Rosalia nicht herein – – – auf keinen Fall! Ich will nur dich – – – und dann die – – die – – die andere – – – heut' in der Nacht.«

»Wen?«

Da machte er ein sehr geheimnisvolles Gesicht und sagte:

»Die Tochter des Neubertbauers.«

»Die ist noch bei der Frau Pastorin, weil der Herr Pfarrer es so wollte. Ich gehe hin, es ihr zu sagen.«

»Aber hier im Hause darf es niemand wissen. Herzle, gib mir die Hand darauf!«

Sie gab sie ihm. Er schwieg eine ganze Weile. Sie sah ihm an, daß er sich erholen oder sammeln müsse. Dann sprach er weiter:

»Wenn alles schläft und niemand etwas sieht, dann bringst du sie mir herauf, eher nicht. Kein anderer Mensch als du darf vorher hier in der Stube sein. Tu' genau das, was ich sage; ich werde es dir lohnen! Jetzt aber will ich schlafen!«

Und er schlief, tief und fest, wie es schien. Sie wartete, bis die Dämmerung vorüber war. Dann schlich sie sich, nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, hinunter und zu dem Hause hinaus.[554] Sie ging zum Pfarrer und sagte ihm, was sie wollte, denn das hatte ihr der Kranke ja nicht verboten. Der geistliche Herr war zwar verwundert, aber doch der Meinung, daß man tun müsse, um was der Patient gebeten habe. Auch verschwiegen müsse man sein. Die Tochter des Neubertbauers, welche Anna hieß, solle um ein Uhr des Nachts im Mustergarten stehen, um von dem Herzle dort abgeholt zu werden. Dieses ging hierauf zur Mutter und teilte ihr mit, daß sie heut' nicht nach Hause kommen werde. Dann nach dem Gasthofe zu rückgekehrt, verbot sie dem Knecht, heute abend nach dem Kranken zu sehen, denn sie sei da und werde über ihn wachen.

Inzwischen war die Zeit zum Abendessen gekommen. Das nahm sie mit Fräulein Rosalia und den Nähterinnen ein. Dabei bat sie die erstere, heute nacht beim Vater bleiben zu dürfen, weil sie die Nacht gern durcharbeiten wolle und die Mutter ihr das nicht erlauben werde. Die Tochter antwortete:

»Tu', was du willst; ich habe nichts dagegen, wenn du dich nicht bei der halben Leiche fürchtest. Mich aber bringst du nicht hinauf!«

So war dem Herzle also alles gelungen, als es den Schlüssel oben wieder in die Tür steckte. Sie hatte sich eine wohlgefüllte Schirmlampe geben lassen und stellte sie so auf ihren Tisch, daß kein Lichtstrahl das Gesicht des Kranken traf. Dieser schlief noch immer. Später wachte er einige Male auf. Da reichte sie ihm Wasser und befeuchtete den Verband. Dabei war er still. Nur einmal fragte er:

»Wird sie kommen?«

»Ja. Um ein Uhr,« nickte das Herzle.

»Ich danke dir!« Dann schlief er weiter.[555]

Sie hatte das Fenster geöffnet. Die Luft trug süßen Grummetduft herein. Es schlug Mitternacht, dann ein, zwei, drei Viertel. Da ging das Herzle hinab, zur hinteren Tür hinaus, die sie öffnen konnte, und durch den Hof in den Garten. Sie war die einzige Wachende im Hause. Die Anna stand, schon seit einiger Zeit wartend, bereit.

»Mir ist die Brust so eng,« sagte sie. »Das war bei mir noch nie.«

»Hast wohl Angst?« fragte das Herzle. »Er ist so lieb und so gut, gar nicht, wie man ihn bisher gekannt hat!«

»Angst ist es nicht, aber was, das weiß ich nicht.«

Sie kamen glücklich und unbemerkt hinauf. Das Herzle verriegelte die Tür. Der Kranke hatte die Augen zu. Sie traten miteinander leise an das Bett, Hand in Hand. Da nahmen seine Züge langsam, nach und nach, einen frohen Ausdruck an. Nicht seine Lider, aber seine Lippen öffneten sich, und er sprach:

»Mein Kind, ich erteile dir meinen Segen, und dir, mein gutes Herzle, meinen Dank!«

Sie sahen einander an, im höchsten Grade erstaunt. Das waren ja dieselben Worte, welche der Pfarrer in seiner Stube zu ihnen gesprochen hatte! War das Zufall? Der Musterwirt konnte sie doch unmöglich kennen! Nach einiger Zeit sprach er weiter:

»Das Herzle setzt sich an den Tisch. Die Anna bleibt hier bei mir und gibt mir ihre Hand!«

Sie taten es. Hierauf sagte er, ohne die Augen aufzuschlagen:

»Aus meinem Grabe ist ein großes Geheimnis auf gestiegen. Es befindet sich hier bei uns in dieser Stube. Wer es nicht sieht, dem kann man es nicht[556] erklären. Auch ich weiß es nicht ganz; drum muß ich darüber schweigen. Hast du deinen Vater lieb gehabt, Anna?«

Da begann sie sofort zu weinen.

»Mehr, als ich selbst gewußt habe,« antwortete sie. »Das fühle ich erst jetzt, wo er tot ist. Ich habe viel, viel an ihm gutzumachen. Wenn ich es doch könnte!«

»Du kannst es. Und es ist nicht schwer.«

»Was.«

»Etwas Sonderbares. Aber wie, wie würde dein Vater sich freuen, wenn du es tätest!«

»Ich tue es ganz gewiß, wenn ich kann!«

»So will ich es dir sagen. Nämlich es wird von jetzt an zuweilen eine große Sehnsucht nach deinem Vater über dich kommen, so groß, daß du ihr nicht widerstehen kannst. Laß dich aber von ihr nicht nach seinem Grabe treiben, denn dieses Grab ist die allergrößte Lüge, die es hier auf der Erde gibt. Zu ihr sollst du nicht gehen, sondern zur Wahrheit, und die ist hier bei mir!«

Sie sah ihn unter Tränen verständnislos an. Er schien das zu fühlen, obgleich seine Augen fest geschlossen waren, denn er sprach nach einer kurzen Pause weiter:

»Das begreifst du nicht. Es ist das Geheimnis, von dem ich redete. Wenn diese Sehnsucht dich ergreift, so machst du dich sofort auf und kommst zu mir, du magst sein, wo du willst. Du fragst hier nach mir und wirst mich dann schon finden. Fürchtest du dich vor mir?«

»Jetzt nicht,« antwortete sie.

»Aber dann! Ich weiß es wohl. Das darf dich aber nicht hindern. Du mußt, du mußt, du mußt dich[557] an mich wagen! Du mußt, du mußt, du mußt mir immer grad in die Augen schauen, darfst keinen Blick von mir wenden. Du sprichst dabei alles, was dir gerade einfallen mag. Die Hauptsache sind nicht deine Worte, sondern deine Augen, die du nicht von mir wegkehren darfst. Es mag sein, wo es will, und es mag dabeistehen, wer da will, das ist ganz gleich! Ich werde es nicht leiden wollen. Ich werde schimpfen. Ich werde dich fortjagen. Du wirst aber nicht gehen, sondern bleiben und mich dabei ansehen. Da wird mein Zorn sich nach und nach verringern, bis er ganz weg ist. Dann werde ich deine Hand erfassen und dir danken, daß du bei mir geblieben bist. Und jetzt paß auf: Dann werde ich dir sogar einen Kuß geben, am liebsten auf das Haar. Von da an, aber ja nicht eher, mußt du alles tun, was ich dir sage, denn es ist bestimmt, an deinem Vater gut zu machen, was an ihm verbrochen worden ist. Hast du mich verstanden? Genau?«

»Ja, ganz!« antwortete sie.

»Und willst du mir versprechen, es zu tun?«

»Es ist sehr schwer!«

»Ich wußte es! Du fürchtest dich vor mir. Aber ich will dir Mut machen. Höre auf das Jetzige! Versuche es einmal, nur ein einziges Mal! Wenn du es tust, so bringe ich dir die erste Hypothek, welche ich auf deinen Neuberthof in den Händen habe. Ich schenke sie dir; du kannst sie verbrennen. Für das zweite Mal gebe ich dir die zweite Hypothek. So gebe ich dir in einiger Zeit den ganzen Neuberthof zurück und verlange dafür nichts von dir, als daß du tust, was ich dir soeben gesagt habe. Willst du nun, Anna?«

»Ja,« antwortete sie, denn der Preis war groß,[558] und er hatte sie beim Vornamen genannt, ganz in demselben lieben Ton, wie früher oft der verstorbene Vater.

»Versprich es mir hier in die Hand!«

Sie ergriff die seinige mit beiden Händen und sagte:

»Ich will mich nicht genieren und mich nicht fürchten; ich werde es tun; du kannst dich darauf verlassen!«

»So sei das Herzle unser Zeuge! Geh' zu ihr, wenn es dir zu sauer wird, zu ihr, zu ihr! Sie ist unsere Vertraute. Kein Mensch darf es weiter wissen. Ich halte dich beim Wort. Sie wird das fühlen und dir nicht eher Ruhe lassen, als bis du zu mir kommst. Sie ist auch Zeugin meines eigenen Versprechens, das ich dir so bestimmt halten werde, wie ich dich hier vor meinen Augen sehe.«

Er schlug sie auf und sah sie mit einer Liebe an, die sie fast in Verwirrung bringen wollte.

»Gib deinen Kopf herbei!« bat er. »Ich muß dich küssen, so, wie ich es dir vorhin gesagt habe.«

Sie neigte ihm gehorsam ihre Stirn zu. Er hob die beiden Hände, zog ihr Haupt ganz zu sich heran und küßte sie zweimal, dreimal auf das krause Haar.

»So, mein Kind, meine Anna! Wenn meine Lippen so auf deinem Haar gewesen sind wie jetzt, dann mußt du mich für deinen Vater ansehen und alles tun, was ich dir sage, bis, – – – bis die Rosalia kommt, länger nicht, ja nicht! Denn die bringt den mit, welcher – – welcher – –«

Er hielt inne und hob den Kopf ein wenig empor, als ob er lausche. Dann zuckte er zusammen und fuhr in ängstlichem Tone fort:

»Wenn die kommt, nachher wird es so, wie es[559] jetzt werden wird. Herzle, Herzle, bring' die Anna wieder hinab! Schnell, schnell, es ist keine Zeit! Der Zwang ist da, daß ich schlafen muß, dann kommt der andere – – der andere!«

Er legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Das Herzle ging mit der Freundin fort. Als sie wiederkam, schlief er fest und tief. Sie setzte sich an den Tisch. Aber sie begann nicht sogleich wieder zu arbeiten. Es war ein fremder Tisch. Sie durfte mit ihm gar nichts zu schaffen haben, und doch schaute sie unverwandt nach dem Kasten. Wie kam es nur, daß es sie innerlich so fremdartig drängte, diesen Tischkasten auszuziehen und hineinzusehen? Der Drang war so groß, daß sie ihm gehorchen mußte.

Als sie es getan hatte, sah sie lauter alte, gleichgültige Sachen liegen, einen alten, leeren Geldbeutel, ein Messer, eine Lichtputze, ein paar Nägel und so ähnliche Sachen. Aber weiter hinten war ein besonderes Fach. Als sie es öffnete, sah sie zunächst ein Buch. Der Titel war: ›Die Notlage der Handweberei im Erzgebirge. Eine volkswirtschaftliche Studie.‹ Sie kannte es. Sie wußte, daß der Herr Lehrer es geschrieben hatte. Als sie es wieder hintun wollte, sah sie, was darunter gelegen hatte, nämlich einen Lochtaler, der an einer Schnur hing. Da begann der Kranke, unruhig zu werden. Er bewegte sich hin und her. Sie achtete aber nicht darauf, weil der Taler ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie zog ihn hervor, um ihn zu betrachten. Er war vom Jahre 1846. Zugleich mit ihm hing an der Schnur eine echte, aber ganz verkrüppelte Elsterperle, die infolgedessen keinen Wert besaß. Das Herzle mußte sich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Das war ja der[560] Taler ihres Vaters mit ganz derselben Schnur, mit welcher er an der Uhr gehangen hatte! Sie wäre wohl vor Schreck aufgesprungen; aber der Musterwirt warf sich grad jetzt so ängstlich hin und her, daß sie sich ganz still verhielt. Er stöhnte leise dazu.

Und was lag noch weiter in dem geöffneten Fach? Ein Paket mit Postquittungen! Sie las die oberste. Zehn Taler an den Seminardirektor! Hatte der Musterwirt etwa auch Geld eingezahlt? Sie mußte das wissen und öffnete das Paket. Das unterste Papier war keine Quittung, sondern ein alter Klöppelbrief, nämlich von der allerersten Spitze, welche das Herzle als kleines Mädchen gearbeitet hatte. Er war von der Mutter zu diesen Quittungen gelegt worden, um ihn gut aufzubewahren, denn das Päckchen bildete ein großes und verschwiegenes Heiligtum, weil niemand erfahren durfte, daß die Mutter und das Herzle es gewesen waren, von deren Spargroschen der Herr Lehrer während seiner Seminarzeit gelebt hatte. Er sollte das niemals im Leben wissen.

Da gab es drüben bei dem Kranken einen lauten Ruck. Er war bisher so sanft und schwach gewesen. Jetzt hatte er sich absichtlich aufgerichtet und starrte zu ihr hinüber.

»Wer bist du?« fragte er mit lauter, kräftiger Stimme. »Bist du etwa das Herzle?«

»Ja,« antwortete sie.

»Wie kommst du in meine Stube? Was treibst du hier? Ich kann nicht auf! Dein Stöbern hat mich geweckt! Aber ich werde bald auf können, denn ich habe sie geholt. Sie kommt; sie kommt!«

Draußen erklangen Schritte, und die Tür, welche jetzt nicht mehr von innen verschlossen war, wurde geöffnet.[561] Fräulein Rosalia trat herein, verschlafen, mit ganz verwirrten Haaren. Sie schaute zunächst gar nicht zum Vater hin, sondern gleich hierher zum Herzle. Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, sagte sie in gehässigem Tone:

»Das ist ja schauderhaft! Ich habe aufstehen gemußt und herauf zu dir! Es war eine richtige Todesangst! Die weckte mich aus dem Schlafe. Die warf mich von einer Seite auf die andere. Die brachte mich zum Schwitzen, daß ich am ganzen Körper naß geworden bin! Ich will ja nicht herauf, nicht nicht, nicht nicht! Aber sie war stärker als ich. Sie schob mich aus der Stube und über den Gang hierher. Ich mußte mit der Hand an die Klinke und dann herein – herein! Weißt du etwas davon, Kleine? Hast du mich etwa verhext?«

Anstatt des Herzle antwortete der Vater. Er holte tief, tief Atem, als ob er etwas sehr Schweres überstanden habe. Dabei hielt er seinen Kopf in beiden Händen. Dann ließ er sie herabsinken und sprach:

»Du bist nicht verhext. Ich war im Traum bei dir. Was ist mit mir geschehen? O, dieser Traum, dieser Traum! Wäre er wahr, wie schrecklich, wie schrecklich!«

»Jammere nicht!« fuhr sie ihn an. »Du scheinst ja wieder ganz munter zu sein! Warum hast du so getan, als ob der Schlag dir so gefährlich gewesen wäre?«

»Der Schlag? Ja, ich bekam einen Schlag, einen Keulenschlag auf den Kopf. Dann kam der Traum. Ich hatte den Körper verloren. Ich war nichts und war doch etwas; aber ich wußte nicht, was! Ich sah mich nicht; ich hörte mich nicht, und ich fühlte mich nicht. Es war nichts, aber auch gar nichts um mich[562] her. Alles leer; alles, alles leer! Ich auch! Ich konnte nicht stehen, nicht gehen, nicht liegen, nicht sehen, nicht sprechen. Ich konnte nichts, gar nichts! Das dauerte einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr, hundert Jahre, Billionen Jahrhunderttausende! Da gingen zwei die Treppe hinab. Die eine war fort; die andere kam wieder. Sie setzte sich an den Tisch, machte einen Kasten auf und begann, nach ihren Sachen zu suchen. Da schickte ich meine Angst zu dir hinüber und ließ dich von ihr wecken. Du solltest kommen und die Diebin aus dem Hause schaffen. Ich kann das nicht, denn ich bin noch immer nichts, nichts, nichts. Du aber bist etwas, und das, das muß ich haben!«

»Sie hat nach ihren Sachen gesucht?« fragte Fräulein Rosalia, ohne den Zustand ihres Vaters weiter zu beachten. »Nach welchen Sachen? Das möchte ich doch sehen!«

Sie näherte sich dem Tische. Ihr Blick fiel auf das offene Paket. Da war es beinahe ein Sprung, den sie tat, um es an sich zu reißen.

»Unsere Quittungen!« schrie sie auf. »Einbrecherin, wie kommen die in deine Pfoten?«

»Sie sind unser,« antwortete das Herzle ruhig. »Ich habe noch gar nicht gewußt, daß sie uns abhanden gekommen sind und nun hier bei euch liegen!«

»Nein, unser sind sie, unser! Wir, wir haben für den Lehrer bezahlt! Du lügst, und ich werfe dich hinaus!«

»Und mein Klöppelbrief, der auch dabei liegt?«

»Der ist mein, mein, mein!«

»Du hast ja nie geklöppelt!«

»Das geht dich gar nichts an! Ich will doch sehen, ob – – ah, da fällt mir etwas ein! Du sagst,[563] die Zettel seien euer. Wollen es doch einmal versuchen. Hier hast du sie; da, da!«

Sie schleuderte ihr die Quittungen in drei, vier, fünf Würfen in das Gesicht, von wo sie auf die Diele niederflatterten, und fuhr dann höhnisch fort:

»Du hast gesagt, daß du nie etwas aufheben werdest, was ich weggeworfen habe. Wenn sie euch gehören, so hebe sie auf! Lässest du sie aber liegen, so sind sie unser.«

Sie schaute triumphierend zu ihr hin, was sie wohl machen werde. Das Herzle schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:

»Das ist so ganz nach eurer Art! Der Arme hat's erworben; der Reiche nimmt's ihm weg! Entscheiden aber wird der liebe Gott! Du hast es ihm hier vor seinen Richterstuhl geworfen. Ich lasse es liegen; er aber hebt es auf. Jetzt gehe ich. Den Taler nehme ich mit!«

»Welchen Taler?«

»Den Uhrentaler meines Vaters, der auch hier bei euch lag. Die anderen neunundvierzig, die uns in seiner Todesnacht gestohlen worden sind, die werden sich wohl auch noch dazu finden!«

Da geschah etwas ganz Unerwartetes. Der Kranke sprang mit einem einzigen Satz aus seinem Bett heraus, stürzte nach dem Tisch, raffte dort den Taler weg und schrie, indem er wie wahnsinnig auf das Herzle starrte:

»Musteranton, das ist dein Werk! Aber hüte dich! Da unten ist noch heute der Herd, und da stehen auch noch solche Flaschen!«

In der einen Hand den Taler, faßte er mit der der anderen das Herzle beim Kragen ihres Gewandes, schüttelte sie hin und her und knirschte dabei drohend:[564]

»Jetzt bin ich plötzlich nicht mehr nichts; ich bin etwas geworden! Wenn du wüßtest, was, so würdest du auf die Kniee niederfallen und mich um Gnade bitten!«

»Ich kniee nur vor einem,« sprach das Herzle ruhig, »und der, der steht mir gegen dich bei, Musterwirt! Was du mit dem Herd und mit den Flaschen meinst, das weiß ich nicht; aber der, von dem ich soeben sprach, der wird mir's sagen. Behalte nur den Taler! Denn wo dieser ist, da ist mein toter Vater; der hält ihn fest in deiner eigenen Hand und hebt ihn auf für den Staatsanwalt, der seinen Sitz in – –«

»Staatsanwalt!« brüllte der Wirt auf. »Der seinen Sitz in – – –! Wo hat er seinen Sitz, wo? Der Neubertbauer, der Neubertbauer! Da kommt er; da ist er; in meinem Kopf, in meinem Kopf! Da reibt es – – – da mahlt es – – – da beutelt es! Da ringt er mich nieder! Haltet mich! Bleibt da; bleibt da, alle beide! Geht nicht fort! Laßt mich nicht mit ihm allein, allein, allein!«

Er sank da, wo er stand, auf den Boden nieder, mitten in die Quittungen hinein.

»Was hat er nur, der verrückte, der unausstehliche Kerl!« jammerte Fräulein Rosalia. »Ich muß fort; ich kann ihn keinen Augenblick länger ausstehen, sonst werde ich auch verrückt. Ich habe mich zu erhalten!«

»Aber du darfst ihn doch nicht so hier liegen lassen!« warf das Herzle mitleidig ein. »Greif' mit zu! Wir heben ihn auf und schaffen ihn nach dem Lager!«

»Ich? Ich bin ebenso stolz wie du; ich hebe auch nichts auf, was sich mir vor die Füße geworfen hat! Ich lasse ihn mit seinem Staatsanwalt hier auf[565] den Zetteln liegen. Aber den Taler nehme ich mit. Ich sehe ihn heute zum allerersten Mal. Mit ihm hast du uns auch angelogen, daß er von deinem Vater sei, denn wer sich selbst ersäuft, der ist keinen Taler wert.«

Sie riß dem ohnmächtigen Vater das Geldstück aus der Hand, lachte verächtlich auf und ging zur Tür hinaus. – – –

Quelle:
Das Geldmännle. In: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Karl Mays Erstlingswerke. Band I. – Dresden-Niedersedlitz (1903). S. 439–648, S. 523-566.
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