V.

[607] Es war am Nachmittag. Die Sonne schaute so warm auf das Bergle herab, als ob sie es ganz besonders in ihr Herz geschlossen und heute sehr liebevolle, heimliche Absichten habe, denn sie hatte einen seinen Federwölkchenschleier vor ihr Gesicht gezogen. Das tut sie nämlich immer, wenn sie den Schalk im Nacken hat.

Die Mutter sah mit frohem Lächeln über den Tisch zum Herzle hinüber, denn diese hatte das Klöppelkissen beiseite geschoben und die soeben fertig gewordene Spitze in der Hand.

»Karlinchen, komm her!« sagte sie. »Stelle dich auf wie eine Dame, die beiden Vorderhände hier auf den Stuhl! Ich will dir die Spitzen anprobieren, denn nur dann, wenn sie dir gut stehen, kann man mit ihnen zufrieden sein!«[607]

Das Karlinchen gehorchte. Sie war sich der Wichtigkeit dieses Augenblickes im höchsten Grade bewußt. Denn als die Mutter den Spiegel holte und ihn ihr vor die Nase hielt, machte sie ein Gesicht, als ob sie sich wenigstens für eine Kommerzienrätin, wahrscheinlich aber für eine noch viel höherstehende Dame halte. Sie schielte auf den feinen Spitzenkragen genau wie eine titulierte Exzellenz herab.

Aber ja nicht lange. Denn mit einem Male nahm sie die Beine vom Stuhle, schwenkte vom Tische ab und rannte mit samt dem Spitzenkragen zu gleichen Füßen nach dem Brückle hinunter. Nämlich der Herr Lehrer kam. Da entstand in dem Herzle eine schreckliche Angst, natürlich nicht vor dem Herrn Lehrer, sondern um ihre kostbaren Spitzen. Sie sprang auf und lief hinter drein, dabei laut rufend:

»Meine Dangtell de Brüsell, meine Dangtell de Brüsell!«

Weil man in Brüssel französisch spricht, so stand in den Briefen des dortigen Kaufmanns immer anstatt des deutschen Wortes ›Brüsseler Spitzen‹ das französische Dantelles de Bruxelles. Und es hat kein Mensch das Recht, es einem deutschen Mädchen zu verübeln, wenn es nur in dem ganz besonderen Falle französisch redet, daß ihm die Ziege in die Wicken geht. Dann aber auch ordentlich! So ungefähr wie jetzt das Herzle! Nun war dem Karlinchen zwar alle Weisheit sehr wohl bekannt, von der Zeder bis zum Ysop herunter, genau wie dem Könige Salomo; aber da es kein Institut für höhere Töchter im Dorfe gab, so war sie in keines der französischen Wörterbücher eingeführt worden und wußte also gar nicht, was das Herzle wollte. Einer braven Ziege kommt alles, was wie ang, ong oder[608] öng zu lauten hat, viel mehr chinesisch als französisch vor. Und so kam es, daß das Herzle und das Karlinchen leider erst da zusammentrafen, wo sich der Herr Lehrer unweit des Brückle ihnen beiden mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt hatte. Er war scharfsinnig genug gewesen, sofort zu erkennen, daß eine von ihnen in die Wicken gehen wollte. Doch welche, das mußte die Untersuchung lehren. Darum hatte er die Absicht, sie um keinen Preis vorüber zu lassen, sondern das Verhör sofort zu beginnen. Sie hatten der Abschüssigkeit des Weges nicht die gehörige Rechnung getragen und kamen angesaust, wie aus einer Doppelpistole geschossen, die Ziege aus dem ersten und das Herzle aus dem zweiten Laufe. Der Herr Lehrer aber war der Kugelfang.

Nun kann man aber sehen, was der Urlaub oder die Ferien auf jeden, der sich mit ihnen abzugeben hat, für einen verderblichen Einfluß äußern. Der Herr Lehrer hatte sein Amt erst seit einigen Tagen an den Vikar abgetreten; aber seine Kenntnisse in der Mathematik waren doch schon so weit zurückgegangen daß er absolut nicht mehr berechnen konnte, wie hoch die Arme eines erwachsenen Mannes sind, und wie niedrig dagegen der Rücken einer Ziege ist. Und doch war er in der Algebra eigentlich sehr wohl zu Hause. Diese lehrt, daß die Armhöhe eines Mannes gleich X, die Rückenhöhe einer Ziege aber gleich Z ist. Der Unterschied zwischen beiden wird Y genannt. Nun war es aber wegen der verderblichen Ferienwirkung und infolge der rapiden Schnelligkeit, mit welcher sich die beiden Kugeln bewegten, dem Herrn Lehrer nicht möglich, zwischen dem X und dem Z sofort die notwendige Gleichung herzustellen. Darum war es das[609] Karlinchen, welches unter seinem Arm hindurch in die Wicken ging, während das Herzle dagegen zwischen X und Z hängen blieb und von den beiden Armen an dem Y festgehalten wurde.

Da sie von der Algebra soviel wie nichts verstand, so konnte sie das ihr bisher fremde Fazit zunächst gar nicht begreifen. Sie sagte kein Wort. Aber sie blickte so erschrocken zu dem Lehrer auf, daß dieser seine Arme auseinander nahm. Da glitt sie langsam auf den Boden nieder, als ob sie die Kraft, stehen zu bleiben, verloren habe. Das war da beim Rettichsbirnenbaum, genau an der Stelle, wo die Ziege das Fräulein Rosalia niedergeworfen hatte. Wie sonderbar das ist!

»Herzle, mein liebes, liebes Herzle, warum erschrickst du so?« fragte der Lehrer.

Ihr Gesichtchen war wie mit Blut übergossen; aber sie antwortete nicht. Es wäre ihr unmöglich gewesen, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Und nun geschah das gerade Gegenteil von dem, was Fräulein Rosalia gesagt hatte, nämlich nicht das Herzle hob den Herrn Lehrer auf, sondern er sie. Er nahm sie wieder in die Arme und drückte sie fest an sich.

»Weißt du denn wirklich nicht,« fragte er, »daß wir zusammengehören? Daß wir eine einzige Menschenseele sind? Herzle, Herzle, diese Unwissenheit müssen wir der Mutter klagen. Komm!«

Da geschah gleich zweierlei auf einmal. Nämlich die Sonne nahm ihren Federwölkchenschleier ab und lachte der ›einzigen Menschenseele‹ fröhlich in die glückstrahlenden Augen. Und das Karlinchen war nur ein kleines Stückchen bis über das Brückle hinausgeschossen und dann stehen geblieben, ganz ohne jeden Kugelfang.[610] Die Spitzen hingen ihr noch fest am Halse. Jetzt kehrte sie zurück. Sie sah ihre beiden Lieblinge Arm in Arm. Da dachte sie an ihren Lieblingsdichter: »Ich sei, gewährt mir die Bitte, beim Hermann und Herzle die dritte!« Sie schob sich zärtlich zwischen sie hinein, und kam als Mittelste mit ihnen bei der Mutter an.

Da nun die Sache in vollster Ordnung war, legte die Sonne den Schleier wieder vor. Man weiß ja, daß sie nicht so neugierig ist wie andere Leute, zum Beispiel abends der Mond. Der stand heute schon am Himmel, als es noch gar nicht dunkel geworden war. Da sah er am Häusle drei Menschen sitzen, welche trotz der Größe ihres Glückes sehr ernst gestimmt waren. Denn sie sprachen nicht von sich selbst, sondern von dem Musterwirt.

»Die Beichte war grad vorüber, da hörte ich die Anna an der vorderen Tür,« sagte der Lehrer. »Der Wirt wollte sie zunächst nicht hereinlassen, öffnete ihr aber doch. Was sie für einen unbegreiflichen Einfluß hatte! In zehn Minuten war er wie ganz vertauscht. Er klopfte an meine Tür und forderte mich auf, herauszukommen. Ich bin noch blasser gewesen als die Leiche dort im Bette; so sagte Anna. Ich hätte es keinen Augenblick in der Stube aushalten können. Mir war, als ob ich lauter Geister um mich sähe, mit Fratzen anstatt richtiger Gesichter. Darum gingen wir fort. Unten gab er den Befehl, den Arzt aus der Stadt zu holen, der die Rosalia untersuchen und den Totenschein ausstellen solle. Die Anna durfte heim. Mich aber nahm er mit hinaus in den Busch, wo wir das Messer fanden. Er steckte es ein. Was wir dabei gesprochen haben, das werdet ihr erfahren, aber[611] nicht jetzt, und nicht auf einmal, sondern nach und nach. Ich habe nicht nur mit ›ihm‹, sondern auch mit ›ihm‹ geredet. Das klingt zwar irr, ist aber richtig. Denn er verwandelte sich im Laufe des Gespräches. Was ich während dieser Verwandlung beobachtete und was ich dann mit vorher verglichen habe, das war fast zu viel für mich. Es wird lange dauern, ehe es in mir zur Klarheit und zur Ruhe gekommen ist. Dann aber gehe ich meinen richtigen Weg und frage keinen Menschen, ob er mich für verrückt hält oder nicht. Wer Larve bleiben will, der mag es bleiben; ich aber nehme mir die Maske vom Gesicht. Ich laufe dann zwar Gefahr, daß die Larven gerade die Wahrheit dieses Gesichtes für Lüge halten und mich verhöhnen werden, doch ändert das nicht das geringste an meinem Entschlusse. Der Hohn trifft sie selbst, nicht mich!«

Er war vom Tische aufgestanden, um zu gehen.

»Heute war ein großer Tag für mich,« sagte er noch. »Er hat mir wahrscheinlich viel, sehr viel genommen. Ich fühle, das Alte bricht in mir zusammen, um neu, vollständig neu zu werden. Für das Scheidende habe ich mehr als reichen Ersatz. Ohne ihn, den heutigen Tag, würde mir mein Herzle nur ein liebes, liebes Weible werden, weiter nichts. Sie hat mir aber mehr, viel mehr zu werden, und ich ihr ebenso. Ich weiß, daß Ihr mich nicht versteht; verstehe ich mich doch selbst noch nicht genau! Aber bis zum ersten Ausstellungsmorgen werde ich bekommen, was mir noch fehlt. So lange habe ich nämlich dem Musterwirte Frist gegeben. Dann muß ich ihn anzeigen, wenn nicht der Neubertbauer ihm schon vorher das wohlverdiente Urteil spricht. Es werden[612] drüben im Etablissement jetzt einige schwere Tage sein. Die Leiche wurde hinaus auf den Kirchhof geschafft, in die Totenhalle. Hinweg mit ihr! Dort, wo sie lag, da drüben in der Stube, gibt es noch eine andere Leiche. Die sitzt am Tische und schreibt und rechnet in ihren geheimen Büchern. Wir wollen ihr wünschen, daß sie sich mehr herausrechnet als nur den Sarg und das Grab! Jetzt gute Nacht, ihr Lieben, Lieben! Morgen früh komme ich wieder!«

Da stand die Mutter auf und sprach:

»Morgen früh! So sagte auch mein Anton, als wir uns hier am Bergle zum ersten Abende die Abschiedshände reichten. Am nächsten Morgen brachte er mir das Geld.«

»Und ich werde es aber holen. Das mußte ich dem Herrn Frömmelt versprechen. Er will es wiederhaben. Wozu, das bat er, mir noch verschweigen zu dürfen. Werdet Ihr es mir geben?«

»Wie gern! Wenn ich nur wüßte, wem diese stille Hypothek gehört! Wir haben so viel, daß wir sie zurückzahlen können.«

»Das soll sich finden, hat er mir in die Hand gelobt. Wer begleitet mich jetzt bis an das Brückle? Das Herzle oder nur das Karlinchen?«

»Alle beide!« riefen alle beide.

Das heißt, das Herzle sagte es mit Worten, das Karlinchen aber mit den Beinen, jedoch ganz ebenso laut. Sie sprang den beiden voran. Am Brückle machte sie Halt und sah sich nach ihnen um. Als sie kamen, lief sie weiter. Sie dachte, heut' sei ein Ausnahmetag. Wie kam es nur, daß sie hernach auf der Wiese grad da stehen blieb, wo der Musteranton seine Marie damals um den ersten Kuß gebeten hatte? War[613] das vielleicht ein hierfür ganz besonders geeigneter Ort? Wie bereits gesagt, wußte das Karlinchen alles, von der Zeder bis zum Ysop herunter. Sogar den Sauerampfer kannte sie, der hier in großer Menge gegen den Aurikelrausch gewachsen ist. Wahrscheinlich stand da noch etwas, ein Kräutlein, süß und lieb, so ganz zum Küssen! Man muß nur suchen, um es zu entdecken! Und als der Herr Lehrer mit dem Herzle herangekommen war, da machte sich das Karlinchen sofort an das Suchen, und zwar so eifrig, daß ihr dabei Hören und Sehen verging. Als aber nichts, gar nichts zu finden war, da drehte sie sich doch endlich einmal nach ihnen um. Ja, was war denn das? Die hatten sich ja gar nicht mehr! Nach dem Dorfe zu war der Lehrer schon fast verschwunden! Und das Herzle stand auf dem Brückle und schaute herüber! Ob nach ihm oder nach dem Karlinchen, das konnte man bei dieser Dämmerung nicht deutlich sehen. Da hört doch alles und außerdem noch verschiedenes auf! Jetzt geht es aber heim! Denn – – – es wird bald Zeit, die Mutter wieder zu hypnotisieren! Oder war es Suggestion? Sie will zwar freiwillig auflassen, aber besser ist besser! Das Karlinchen hat die Schwachheit der Menschen kennen gelernt. Ohne Suggestion kommt man mit ihnen nicht fort!

Von jetzt an ist auf der Wiese niemand mehr zu sehen. Der Mond steigt höher und immer höher. Er hat das eine Auge zu und das andere auf und blinzelt mit diesem anderen sehnsüchtig nach dem Sauerampfer nieder. Ob er etwa – – –? Hm! Sollte er irgendwo da oben auch über ein Aurikelbeet geraten sein? Jedenfalls hat er es satt. Denn er steigt nun wieder nieder. Im Dorfe klappern noch[614] alle Webstühle. Das geht ihm auf die Nerven. Man sieht es den paar Wolken an, die an seinem Wege stehen, daß er sich beeilt. Es wird auch Zeit, denn soeben schlägt es zwölf. Und – – – was ist denn das? Wer tanzt da plötzlich hier? Erst eine steifbeinige Polakka, hierauf einen Hüppelschottisch, dann einen feschen Linksumgalopp und endlich gar auch noch den wohlbekannten – – – aber nein; das ist heut' ein Menuett! Graziös wiegend, vornehm gütig, herablassend, mit kleinen, hoheitsvollen Schritten. Denn man ist heut' eine Kommerzienrätin gewesen, wenigstens! Vielleicht gar eine Exzellenz! Und man kommt dabei nicht so ganz außer Atem, wie es gestern leider war. Man hat sich doch zu erhalten, sagt Fräulein Rosalia!

Infolge dieses aristokratischen Betragens ist es heut' nicht nötig, die Lunge erst wieder groß in Ordnung zu bringen. Die choreographische Einleitung ist vorüber, und die Wanderung kann sofort beginnen.

Das Karlinchen sieht dabei den Gasthofsgarten wieder vor sich liegen, schlägt aber einen weiten Bogen um ihn herum, denn die Aurikel haben ein höchst unangenehmes Souvenir hinterlassen. Auch gibt es noch ganz andere Delikatessen als bloß Kohl. Besonders Zuckerrüben! Aber die richtige Sorte muß es sein! Die kleine, niedliche; höchstens drei Stück auf ein Pfund! Das ist ungeheuer zart! Das zerläuft fast auf der Zunge! Man weiß auch, wo sie wachsen. Andere Ziegen haben es verraten. Nämlich grad aus dem Wirtshause heraus, bloß über die Straße hinüber und dann die hohe Böschung hinauf, da liegt das große Zuckerrübenfeld. Man geht zwar nicht aufs Stehlen aus; aber die alte Bauernregel sagt: Ein Rüblein in Ehren – – ist nicht zu verwehren. Na, also – –![615]

Das Karlinchen geht leise um das Etablissement herum, klettert drüben an der Böschung hinauf und sieht dann das Feld wie eine grenzenlose Seligkeit weit vor sich ausgebreitet. Eben will sie das Rüblein, das einzige, beim Schopfe fassen, da hört sie plötzlich ganz in der Nähe sagen:

»Es ist nur eine Ziege. Wir können sitzen bleiben.«

Sie erschrickt zwar ein klein wenig, aber da sie sich an der Rübe noch nicht vergriffen hat, so ist für diesmal ihr Gewissen rein. Es kann sie weder ein Gendarm noch sonst wer arretieren. Dagegen aber hat nun sie die Pflicht, sich angelegentlichst darum zu bekümmern, was für Vagabunden sich bei nachtschlafender Zeit hier in der Nähe der kostbaren Rüben herumzutreiben haben. Im Falle einer Kollision hat sie ja ihre Hörner! Sie tut also, als ob sie es nur auf das jedermann erlaubte Gras der Böschung abgesehen habe, und frißt sich immer näher an den wilden Schlehenbusch, hinter welchem die Worte hervorgeklungen sind.

»Ich bin kolossal neugierig, ob es klappen wird,« sagte jetzt eine zweite Stimme. »Geht er darauf ein, so machen wir einen Schlager, der uns Hunderttausende einbringt.«

»Aber wenn er nicht ehrlich ist, so verlieren wir auch alles, was wir dabei riskieren, und das ist ein Vermögen, wie es in dieser armen Gegend gewiß kein Mensch besitzt!«

»Er ist noch reicher. Für mich gibt es also keine Angst. Bei einem solchen Geschäft ist es selbstverständlich, daß er Vorherzahlung fordert; aber er liefert dann auch zweifellos. Uebrigens gehen wir ja ohne Revers auf gar nichts ein! Wenn ich irgend eine Besorgnis habe, so ist es die, daß er es unserm[616] Kompagnon übelnimmt, uns verraten zu haben, wer das Geldmännle eigentlich ist. Dieser war der einzige, der es bisher wußte. Er hat schon mit dem alten, kleinen Musterwirte lohnende Geschäfte gemacht. Die Höhe der Summen, um welche es sich bei dem jetzigen handelt, wird seinen Verrat wahrscheinlich entschuldigen. Hauptsache ist, daß wir uns so verhalten, wie das Geldmännle es im Verkehr mit ihm eingeführt hat: Vertrauen zu ihm, Zahlung gleich bei der Bestellung, keine überflüssigen Anforderungen, möglichste Kürze in allem, was man tut und sagt. Horch! Die Tür geht auf. Es sind zwei Personen. Er bringt ihn also mit. Das ist ein gutes Zeichen. Er hat ihn überredet. Nun mache mir ja nicht etwa den Fehler, durch Mißtrauen oder Weitschweifigkeiten alles wieder zu verderben.«

»Ich werde schweigen. Sag' du, was zu sagen ist! Aber mache mir auch dann keinen Vorwurf, wenn wir mit einem Schlage zu Bettlern werden!«

»Lächerlich! Uebrigens wären wir dann genau wieder das, was wir gewesen sind, wenn wir nicht gar etwas noch anderes waren!«

Sie hatten bisher gesessen. Jetzt standen sie auf. Das Karlinchen sah, daß sie städtisch gekleidet waren. Sie duckte sich ganz nahe an den Busch, denn diese Sache kam ihr trotz ihrer Hörner denn doch etwas bedenklich vor. Zwei Männer näherten sich über die Straße herüber. Sie stiegen die Böschung herauf. Der eine von ihnen war der Herr Frömmelt. Dieser schaute die Wartenden scharf an, als er sie erreicht hatte, und fragte in kurzem, fast gebieterischem Tone:

»Sie sind Bankiers, meine Herren?«

Der von ihnen, welcher sprechen sollte, antwortete:[617]

»Hm! Aufrichtigkeit gegen Aufrichtigkeit! Sie sind das sogenannte Geldmännle und nennen sich den Musterwirt. Wir sind Ritter des sogenannten Glückes und nennen uns Bankiers. Sie wissen, was wir wollen?«

»Ja. Ich war über die Schwatzhaftigkeit Ihres Kompagnons empört. Sie hätte ihm leicht das Leben kosten können, wird es ihm auch kosten, wenn er weiter schwatzt! Aber Ihre Aufrichtigkeit gefällt mir. Ich bin geneigt, das Geschäft mit Ihnen abzuschließen.«

»Trotz der Sie jedenfalls überraschenden Höhe der Beträge?«

»Grad wegen dieser Höhe. Ueberraschen kann mich nichts. Ich hoffe, daß auch Sie sich nicht überraschen lassen durch das, was ich Ihnen sage, nämlich: Kommt der Abschluß nicht jetzt zustande, so ist es mit Ihnen aus. Wer das Geldmännle kennt, der hat sehr viel gewagt! Ich lasse mich nicht verraten!«

»Keine Sorge, Herr Frömmelt, wir wissen zu schweigen!«

»Das erwarte ich. Sie haben das Geld mit?«

»Ja. Aber es ist unser ganzes Vermögen, und auch noch etwas mehr. Wann werden Sie liefern und wo?«

»Kommen Sie am ersten Ausstellungstage mittags punkt zwölf Uhr in meine Gaststube! Weiter sage ich nichts. Das Geldmännle ist verschwiegen. Gehen Sie darauf ein?«

»Unter der Bedingung, daß Sie uns den Revers aus stellen, den unser Kompagnon Ihnen abverlangt haben wird. In diesem Dokumente erklären Sie unterschriftlich und mit Ihrem Petschafte, daß Sie das Geldmännle sind. Sind punkt zwölf Uhr die falschen[618] Scheine nicht in unseren Händen, so liegt punkt ein Uhr der Revers bei der Polizei. Nehmen Sie uns das übel?«

»Nein. Der Revers ist schon fertig. Ich schrieb ihn sofort und habe ihn in der Tasche.«

»Dann gut. Geld gegen Revers. Wo werden Sie zählen?«

»Gleich hier. Je kürzer, desto besser!«

Er zog eine kleine Blendlaterne hervor, welche jetzt wohl nicht zum ersten Male zu einem solchen Geschäft zu leuchten hatte. Der andere brachte aus seinem Ueberrock eine große, wohlgefüllte Banknotentasche, welche er ihm reichte. Der Wirt begann zu zählen. Es dauerte ziemlich lange, ehe er fertig war. Dann griff er in seine Brusttasche, in welcher der Revers steckte, und gab ihn hin. Die drei betrachteten die Schrift und das Siegel genau und erklärten sich dann zufriedengestellt. Da steckte er die Banknoten zu sich, blies das Lichtchen aus, stand auf und sagte:

»So wie ich dieses Licht verlösche, so sei auch das Leben dessen ausgelöscht, der nicht hält, was er jetzt hier versprochen hat! Sie können gehen!«

Seine Worte hatten einen so schweren, gewichtigen Klang, daß die drei Männer ihnen sofort gehorchten. Sie blieben zwar unten auf der Straße noch einmal stehen, um leise Worte auszutauschen, denn es war kein Spaß für sie, ein ganzes Vermögen einstweilen gegen nur drei geschriebene Zeilen hingegeben zu haben; dann aber entfernten sie sich. Als der Musterwirt ihre Schritte nicht mehr hörte, legte er die Hand auf die Stelle, unter welcher die Banknoten steckten, sah nach dem niedrigen, breiten Fenster der Druckerei hinüber und sagte:[619]

»Verbrecherpack! Wer ist es, der grad heute diese Halunken zu mir schickte? Der Schwiegervater und die Frau, oder der Musteranton? Vielleicht gar alle drei zusammen! Dieses Geld ist Sündengeld. Auf falschem Weg erworben! Heute wird das Geldmännle zum ersten Male etwas tun, was es bisher niemals fertig brachte, nämlich seine Schuld mit echtem Geld bezahlen! Es reicht mit meinem Hab und Gut grad aus, mein irdisches Soll und Haben auszugleichen. Die andere Schuld – – – die habe ich gebeichtet, die liegt im Leichenhaus, die kommt ganz in die hinterste Ecke, wo ich den Neubertbauer hinhaben wollte. Ins Doppelgrab – – – die Schuld und dann das Beichtkind mit dazu!«

Er sah sich um, als ob er jemand suche.

»Wie kommt es doch, daß ich jetzt von den Toten reden kann, ohne daß sie sogleich in mir erscheinen? Der Neubertbauer auch! Ist es mein Entschluß, als ich das Messer so unerwartet in meiner Tasche fand? Warten sie vielleicht von fern, was ich tun werde? Wenn sie mich hören, so will ich es ihnen sagen: Ich zahle für das Geld hier in der Tasche nicht falsche Hundertscheine, sondern ich tue, was ich vorhin mit meinen letzten Worten sagte; das Licht verlöscht. Dann habe ich es mir ehrlich erworben, und ehrlich soll es wieder ausgegeben werden! Nur noch zwei Tage und drei Nächte – – – dann, Neubertbauer, komme ich zu dir!«

Da raschelte der Schlehenbusch neben ihm. Er trat auf die andere Seite desselben und sah die Ziege, die er im Mondschein sofort erkannte! Wie kam es doch, daß ihn ihr Anblick nicht im mindesten befremdete, und daß auch sie so ruhig stehen blieb?[620]

»Karlinchen, du?« sagte er freundlich. »Bist heimlich von dem Bergle fort? Wohl wegen meiner Zuckerrüben hier? Wer dort im Häusle wohnt, der ist kein Dieb, der kann nicht stehlen. Ich stehe in eurer Schuld. Komm her, ich werde dich füttern!«

Er zog so viel Rüben aus dem Acker, wie er dachte, daß die Ziege fressen könne. Die trug er ihr hin und setzte sich dazu. Dann brachte er ein langes Messer aus der Tasche, welches sorgfältig eingewickelt war. Mit diesem putzte er die Rüben und schnitt sie klein. Das Karlinchen stand vor ihm, ohne sich zu scheuen, und fraß aus seiner Hand. Zuweilen hielt es im Kauen inne und sah ihm verwundert in das Gesicht. Wohl weil er weinte, so ganz still, doch immer in einem fort! Wenn doch das Herzle da wäre! Die würde ihm wohl sagen, daß kein Mensch zu weinen brauche, wenn er etwas Gutes tut, an wem, das bleibt sich gleich, sogar an einer Ziege.

Als es so weit war, daß sich das Karlinchen genau so kugelrund fühlte wie gestern und ihr auch ebenso die Beine zu wackeln begannen, stand er auf, steckte das Messer ein und sagte:

»Jetzt ist's genug! Das reicht zur Morgenmilch fürs kleine Häusle. Ich werde dich nun heimbringen. Komm!«

Sie folgte ihm sogleich und willig die Böschung hinab, obwohl das bei ihrem gegenwärtigen Embonpoint eine ganz bedeutende Leistung war, die Straße hinüber und um den Gasthof nach der Wiese. Sie dachte dabei gar nicht an die gestrigen Aurikeln, mit deren Vernichtung sie ihn hatte erbosen wollen. Er sprach so lieb und so vernünftig mit ihr, daß sie bei sich dachte:[621]

»Nein, aber hat sich der verändert! Wenn er mit der Anna auch so gewesen ist, wie jetzt mit mir, da ist es gar kein Wunder, daß er seinen Schnurrbart hat auf ihr Haar drücken dürfen! Ich meinte damals, daß ich an ihrer Stelle ihm die Hörner zeigen würde, aber – – – hm!«

Während dieser ihrer Gedanken war man bei dem Brückle angekommen. Da blieb er stehen und sagte:

»Hier ist die Grenze. Das weißt du wohl am besten. Nun geh hinauf und schlafe dich recht aus! Der Schlaf – – – der Schlaf – – – der Schlaf!«

Er griff sich mit beiden Händen nach dem Kopfe, was er in der letzten Zeit so oft getan hatte. Dann bog er sich nieder und schaute ihr in das Gesicht.

»Was du für gute, gute Augen hast, Karlinchen!« sagte er.

Und was geschah jetzt? War es die Möglichkeit! Sie fühlte plötzlich zwischen diesen ihren Augen seine Lippen. Dann richtete er sich schnell wieder auf, drehte sich um und ging fort. Sie sah ihm so lange nach, bis er verschwand.

»Bin ich denn die Anna?« dachte sie. »Oder irre ich mich in ihm? Ist er ein anderer?«

Diesen Gedankengang verfolgte sie über das Brückle hinüber, das Bergle hinauf bis in den Stall. Dort legte sie sich auf ihr heute sehr gutes Gewissen und schlief darum wohlbefriedigt ein.

Eben, als sie am Morgen aufwachte, kam die Mutter mit dem Herzle, um nach ihr zu schauen. Sie war nicht eine Spur so verschlafen, wie gestern früh und gab doch ganz dasselbe Quantum der schönsten, gelblich weißen Milch. War das ein Verwundern![622] Wahrscheinlich hat die Luft viel mehr Nährbestandteile, als man meint. Vielleicht grad so viel wie die Leguminosen, wenn auch nicht ganz so viel wie Rind- oder Schweinefleisch. Da versteht es sich ganz von selbst, daß man den Stall nie wieder zuriegeln wird, wenigstens im Sommer. Im Winter aber zehrt die Luft. Das sieht man am deutlichsten, wenn der Schnee immer mehr alle und aller wird.

Nach einiger Zeit kam der Herr Lehrer. Natürlich brachte er heut' nicht eine einzelne Pfennigsemmel, sondern gleich zwei ganze Dreierbrötchen, die aber das Paar bloß fünf Pfennige kosten. Dafür nahm er die wohlbewußten Taler für den Musterwirt mit.

Von jetzt an ereignete sich nichts mehr, was für das Karlinchen von größerem Interesse war. Aber drüben im Dorfe geschah so manches, was andere interessierte. Da hörte man zunächst mit größtem Staunen, daß Fräulein Rosalia ganz ohne Sang und Klang in die hinterste Ecke des Kirchhofes begraben werde, und zwar in ein Doppelgrab, dessen andere Hälfte einstweilen offen bleibe. Das hatte der Musterwirt partout so verlangt, wogegen aller Einspruch des Pfarrers vergeblich gewesen war.

Sodann erregte es großes Aufsehen in der ganzen Umgegend, daß alle Schuldner des Musterwirtes ihre Borgbücher sofort einzuliefern hatten. Sehr viele von ihnen taten dies in der Ueberzeugung, daß sie ausgepfändet werden sollten. Diese Angst vergällte fast die ganze Freude, mit welcher man der Ausstellung entgegengesehen hatte.

Auch entstand, man wußte nicht wie, das Gerücht, daß Herr Frömmelt eine ganz besondere Ausstellung eröffnen werde. Was für eine, das konnte man nicht[623] erfahren. Man hörte, daß die Gaststube dazu bestimmt sei. Der Schankbetrieb war also eingestellt. Wenn man bedachte, was die Ausstellung grad diesem Betriebe eingebracht hätte, so gab es gar keine Zweifel mehr, daß der Wirt wirklich wahnsinnig sei.

Ein jeder Dorfbewohner war jetzt in diesen letzten Tagen eifrig bemüht, seine Wohnung festlich einzurichten. Es hatte sich größerer Zuspruch angemeldet, als zu erwarten gewesen war. Man konnte überzeugt sein, daß selbst das kleinste Häuschen von fremden Interessenten besucht sein werde. Das hatte man besonders der geschickten Leitung des Herrn Lehres zu verdanken, der eine ganz hervorragende Begabung entwickelte, in dieser Weise für das öffentliche Wohl zu wirken.

Herr Frömmelt ließ sich von fast niemand sehen. Es hieß, er arbeite in seinen Büchern. Er hatte sich alles, was zur Buchführung gehörte, in das Gastzimmer bringen lassen, welches außer ihm niemand betreten durfte. Nur einmal stand es offen, nämlich als die Tagelöhner alle die Gegenstände bringen mußten, welche sich in der Druckerstube und in der Stereotypie befunden hatten. Dann schloß er wieder zu. Er war dabei so aufgeregt gewesen und hatte so widersinnige Reden angeführt. Aber man wunderte sich nicht mehr darüber, denn er war ja verrückt!

Natürlich mußte es einen Festplatz geben; das war die Wiese, welche vor dem Bergle lag. Dort wurden viele Tische und Bänke eingeschlagen, von Brettern und Pfählen, die man aus der Schneidemühle holte. Der einzige Ladenbesitzer, der sich nicht duch das ›Etablissement‹ hatte werfen lassen, baute eine große Schank- und Speisebude hin. Weiter oben am Bache, auf der Waldwiese, wurde alles Nötige zu einem[624] Schulfeste eingerichtet, an welchem auch die Jugend der umliegenden Ortschaften teilnehmen sollte.

Nun traten auch die Festjungfrauen in ihre Pflichten ein. Sie hatten die Kirche zu schmücken, denn auf dem Platze vor derselben sollte die Ausstellung eröffnet werden. Auch sollten sie an dem Festzuge teilnehmen und dabei grad hinter der Musik hergehen. Sie hatten dazu ihre gewöhnlichen Werktagsgewänder anzulegen und ihre Klöppelkissen in den Händen zu tragen, mit einigen Blumen geschmückt. Ferner war es ihre Obliegenheit, die Ehrengäste des Festplatzes als Kellnerinnen zu bedienen. Der König hatte nämlich befohlen, daß am Nachmittage alle arbeitsunfähigen Armen des Kirchspieles zu einem Festmahle vereinigt werden sollten. Es waren hierfür zehn Taler pro Person bestimmt. Der Ueberschuß solle jedem bar herausgezahlt werden. Diese Armen waren die Ehrengäste.

Als Bernstein dem Musterwirte heut' früh die falschen Taler von Bergle brachte, legte dieser sie ruhig vor sich hin und sagte:

»Dieses Geld kommt mit in meine Ausstellung. Sie sprachen davon, daß auch Sie eine eröffnen werden – – – gegen mich. In welcher Weise werden Sie das tun?«

»Ich wollte jedem Ausstellenden zwei Exemplare meiner Bücher geben und Sie damit vollständig zu Grunde richten,« antwortete der Lehrer. »Auch sollten sie drüben auf dem Festplatze an jedermann zum Herstellungspreis verkauft werden. Es werden Tausende kommen. Wissen Sie, was das für Sie bedeutet? Den Ruin! Aber nachdem ich Zeuge Ihrer Beichte war, habe ich mich anders besonnen. Ich halte es nicht mehr – – –«[625]

»Warum anders besonnen?« fiel da der Wirt schnell ein. »Der Neubertbauer hat Ihnen in bester Absicht den Schlüssel zu meiner Kammer gegeben. Diese Absicht wurde erreicht. Haben Sie das Recht, nun plötzlich gegen sie zu handeln? Ich verlange von Ihnen, daß Sie unbedingt tun, was Sie beschlossen hatten! Ich verbiete Ihnen, mich zu schonen, denn ich schone mich selbst auch nicht! Hierbei will ich gleich erwähnen, daß ich wegen meiner Tochter vorhin beim Pfarrer war. Sie wird einen Tag später begraben, denn auch ich will dabei sein, und eher kann ich nicht – – – auch – – ich – – will – – dabei sein!«

Der Lehrer fühlte sich von der besonders schwer betonten Wiederholung dieser Worte ganz eigenartig berührt. Frömmelt aber fuhr schnell fort:

»Ich habe für meine Person auf den Schankbetrieb verzichtet. Aber bei dem großen Zuspruch, den Sie erwarten, wird der Gasthof gebraucht, denn es ist kein anderer da. Ich trete ihn für die Ausstellungszeit dem alten, braven Krämer ab, der durch mein Etablissement bankerott geworden ist. Er kann sich die Schlüssel holen. Nur das Gastzimmer bekommt er nicht, denn da stelle ich aus. Er mag sich den Saal dafür herrichten. Dazu braucht er Geld. Bitte, geben Sie ihm diese fünf Hunderttalerscheine. Ich leihe sie ihm. Haben Sie keine Sorge, sie sind echt. Mit der Falschheit ist's bei mir vorüber! Nun gehen Sie!«

Er gab ihm die bereit liegenden Scheine in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. – – –

Am Nachmittag stellten sich die ersten fremden Gäste ein, nämlich die Herrschaften aus Brüssel mit dem Herrn aus Mexiko. Sie nahmen Zimmer im[626] Gasthofe, wo der Krämer schon froh seines Geschäftes wartete, und gingen dann hinüber nach dem Bergle. Der Mexikaner sprach nur sehr gebrochen, was besonders dem Karlinchen sehr viel Spaß machte. Es kam ihr halb deutsch und halb spanisch, keineswegs aber erzgebirgisch vor. Sie konnte vieles nicht verstehen, was er sagte; aber das ihr nun bekannte Wort Rebozo kam so häufig vor, daß sie dennoch wußte, woran sie war. Das Herzle mußte alles vorzeigen, was sie für die Ausstellung bereit liegen hatte. Man war entzückt, so entzückt, daß man eine Tasse Kaffee nach der andern trank, ohne sie zu zählen. Die Mutter mußte die Kanne drei- oder gar viermal neu aufgießen. Nicht etwa ›Bliemchenkaffee‹, der eine riesenhafte Verleumdung ist, denn nirgends wird der Kaffee so gut und so verständnisinnig gekocht wie grad in Sachsen. Das Karlinchen weiß das ganz genau, denn sie kann es täglich dreimal mit eigenen Augen sehen. Von der so hochgepriesenen ›Karlsbader Mischung‹ aber kommt ihr schon der Geruch so widerwärtig panslavisch vor! Eine richtige Ziege beobachtet eben alles!

Der Herr Lehrer ließ sich entschuldigen. Er könne heut' nicht kommen, weil er gar so viel zu tun habe. Man ging zeitig schlafen. Das Karlinchen auch. Sie wollte punkt zwölf Uhr wieder in das Dorf hinüber, denn die Tür stand auf. Es war aber noch nicht ganz um zehn. Darum beschloß sie, vorher ein kleines Nickerchen zu machen. Leider aber ist es mit so einem Nickerchen stets eine eigene Sache. Das nickt und nickt, bis man so fest eingenickt ist, daß man sich gar nicht wieder aufnicken kann! Als das Karlinchen wieder zu sich selbst kam, war es schon heller, lichter Tag, und die Mutter stand mit dem Melkeimer vor dem[627] Stalle. Glücklicherweise hatte die Ziege von Blaukohl und von Rosenkohl, sogar auch von Zuckerrüben geträumt. Vielleicht hatte das einigen Einfluß auf die Wirklichkeit. Sie ging also nicht ganz hoffnungslos hinaus und stellte sich in Positur. Da kam ihr ein köstlicher Gedanke.

»Wie wäre es, wenn ich den Melkeimer hypnotisierte?« dachte sie. »Hilft die Suggestion bei der Mutter, so hilft sie höchst wahrscheinlich auch bei ihm!«

Sie wendete also den Kopf, so weit es ging, nach hinten und nahm ihn scharf und drohend in die Augen. Probatum est! Der Eimer wurde voll. Zwar fühlte sie sich dann etwas angegriffen und ermüdet, aber die Quetschkartoffeln mit Roggenkleie und einer Prise Feldkümmel daran machten das schnell wieder gut. Besonders der Feldkümmel wirkt im höchsten Grade belebend!

Die fremden Herrschaften kamen wieder. Sie brachten den Herrn Lehrer mit, den sie als Schriftführer des Komitees schon brieflich kennen gelernt hatten. Er teilte den Frauen einigermaßen enttäuscht mit, daß ein Brief des Herrn Ministers angekommen sei. Man solle morgen mit der Eröffnung nicht auf ihn warten. Uebermorgen aber werde er sicher im Dorfe sein, und die anderen Herren auch. Das warf eine kleine Trübung auf die frohe Stimmung, in der man sich befand, war aber nicht zu ändern.

Der Mexikaner schien es mit den Herzlespitzen sehr eilig zu haben. Das Karlinchen hörte von einem Kontrakte. Der Herr Lehrer setzte ihn auf; dann wurde er unterschrieben, und zwar von beiden Seiten, und hierauf auch von den Zeugen. Als dies geschehen war, schauten alle verwundert auf die Ziege. Die hatte[628] nämlich bis jetzt erwartungsvoll zugesehen. Nun aber sprang sie auf und begann, die Beine zu bewegen, daß jedem, der sich dabei befand, Hören und Sehen vergehen mußte. Sie rannte, wieder einmal wie aus der Pistole geschossen, das Bergle hinab und über das Brückle auf die Wiese hinüber und tanzte dort zunächst eine steifbeinige Polakka, hierauf einen Hüppelschottisch, dann einen feschen Linksumgalopp und endlich gar ein so tolles Ringelrennen, daß der Herr Lehrer ausrief:

»Wo hat sie das her?! Das sieht doch ganz so aus, als ob sie es in guter Uebung habe! Gibst du ihr etwa heimlich Unterricht, Herzle?«

Man war über diese großartige, equilibristische Leistung der hochbegabten Ziege so entzückt, daß sie nach ihrer Rückkehr sofort das größte Stück Ausstellungskuchen bekam, welches auf dem Teller lag. Dann zählte der Mexikaner auf einem anderen Teller eine ganze Menge Banknoten vor, denn er hatte den sämtlichen Spitzenvorrat des Herzle aufgekauft und dazu eine Bestellung gemacht, welche auf Jahre hinaus sehr lohnende Arbeit gab. Das war die erste Frucht des klugen Versuchs der hiesigen Bevölkerung, sich von dem unlauteren Kapitale zu befreien und auf die eigenen Füße zu stellen.

Ehe der Herr Lehrer sich mit den Herrschaften wieder entfernte, sagte er, das Herzle brauche ihr eigenes Klöppelkissen nicht mit nach dem Kirchenplatze zu bringen. Es sei für ein anderes gesorgt, welches sie im Festzuge zu tragen habe.

Der Tag verging in Ruhe, zwar nicht für das Dorf, doch aber für das Bergle. Gegen die Dämmerungszeit kam die Anna. Sie war von ihrer Gönnerin, der Frau Pastorin, eingeladen worden, einige[629] Tage auf dem Pfarrhofe zu wohnen, um inmitten des Festes zu sein. Kurze Zeit darauf ging noch eine andere Person gerade über die Wiese und auf das Brückle zu. Das war der Musterwirt. Er blieb am Bache stehen und starrte in das Wasser, finster, mit fast drohenden Augen.

Von rechts her, wo droben die Waldwiese liegt, kam der Lehrer. Er hatte den Platz für das Schulfest inspiziert und sah Herrn Frömmelt stehen. Es zog ihn zu ihm hin.

»Hier ging sie in das Wasser,« sagte der Wirt, als sie sich begrüßt hatten. »Genau da, wo ich mein Verbrechen in dasselbe Wasser warf! Es kam in ihrer Gestalt zurück und legte sich mir aufs Bett. Seitdem habe ich keine Stunde geschlafen, keinen einzigen Augenblick. Ob ich wohl jemals wieder schlafen werde? Vielleicht niemals, in alle Ewigkeit! Ich werde es erfahren, und zwar sehr bald – – – sehr bald!«

»Das ist der Musterwirt, nicht der Neubertbauer,« dachte der Lehrer. »Da oben sitzt die Anna. Vielleicht bringe ich ihn durch sie dazu, sich in ihn umzuwandeln!«

Er bat ihn, mit nach dem Häusle zu kommen.

»Nein, nie!« antwortete da der Wirt heftig. »Das Brückle ist die Grenze zwischen Gut und Bös! Der Gute kann herüber, der Böse aber nicht hinüber! Es ist leichter, viel, viel leichter, daß ein Guter bös, als daß ein Böser gut werde!«

»Aber Sie waren ja schon drüben!«

»Ich?! Wann?«

»Als Sie das Geld brachten, welches Sie der Leiche Ihrer Tochter aus der Tasche genommen hatten.«

»Ich? Ich – –? Ich – – –?« rief er[630] fast schreiend aus. »Ich hätte es gebracht? Nicht die Rosalia?«

»Ja, Sie, Sie selbst!«

»Und wer hat die Quittung verlangt?«

»Auch Sie selbst. Sie haben sie sogar diktiert!«

Da war es, als ob der Wirt zusammenbrechen müsse. Er hielt sich an den Lehrer fest.

»So hat sie – – – gar nicht in – – – das Wasser gewollt!« hauchte er, indem sein Kopf schwer nach vorn fiel. »Sie ist – – – keine Selbstmörderin, sondern sie ist – – – sie wurde – –«

Er sann – – – er lauschte – – – wie in sich selbst hinein. Dann hob er mit einem Male wieder den Kopf, richtete sich auf und fuhr hastig fort:

»Das war nicht ich, der das tat, sondern der Neubertbauer! Ich habe ihn zum Trunk, zum Spiel verführt, zum Spiel, um ihn zu betrügen. Da hat er sich gerächt! ›Geist gegen Geist!‹ So hat er in der Kirche gesagt, als er in meinem Leibe auferstand. Ich habe es erfahren! Ein abgeschiedener, freier Geist gegen einen Geist, der noch den Körper hat, der noch in Fesseln liegt! Da mußte ich das Spiel verlieren! Er hat mit mir genau eine solche Dame gespielt, wie damals der Musteranton mit meinem Schwiegervater, und hat das Spiel gewonnen. Der Preis war meine Beichte. Ich war betrunken von mir selbst, wie dort mein Schwiegervater von seinem eigenen Weine! Ich bildete mir ein, durch diese meine Beichte für hier und jenseits zu siegen. Und grad durch diese Beichte habe ich alles, alles verloren, sogar vielleicht mich selbst! Der Musteranton hatte seine beiden Damensteine grad auf das Mittelfeld gestellt. Da war das Spiel aus! Und der Neubertbauer hat Sie, seinen besten Damenstein,[631] in meine Kammer gesteckt, damit Sie alles hörten. So ging auch dieses Spiel verloren! Und doch habe ich geglaubt, der beste Spieler zu sein, den es nur geben kann! Herr Lehrer, mir ahnt, mir ahnt etwas! Wenn Menschen es wagen, gegen Mächte zu spielen, die sie nicht begreifen und nicht fassen können, so werden sie zwar manche geringe Partie gewinnen, die wichtigste aber, die größte, die letzte, auf die alles ankommt, nie – – nie – – – nie! Der Neubertbauer hat es mir bewiesen!«

Da kamen die Frauen das Bergle herab, das Karlinchen hinterher. Sie hatten die beiden Männer gesehen und wollten sie bitten, mit hinaufzugehen. Das Karlinchen begrüßte erst den Lehrer, dann den Musterwirt. Sie dachte an die süßen, zarten Rüben und leckte ihm dankbar die Hand. Vielleicht dachte sie gar auch an den sonderbaren Kuß! Der Lehrer beobachtete ihn heimlich, aber scharf. Denn wenn irgend noch jemals, so mußte die Verwandlung jetzt vor sich gehen.

Herr Frömmelt zog erst die Hand zurück. Auch vermied er es, der Anna in die Augen zu sehen. Es wurde dabei Gleichgültiges gesprochen. Bald aber reichte er dem Karlinchen die Hand wieder hin. Dann streichelte er sie. Er wich dem Blicke der Anna nicht mehr aus. Er begann sogar, ihre Augen zu suchen. Die seinen bekamen nach und nach ein milderes, freundliches Licht. Er lächelte. Hierauf kam sogar ein Scherz. Er ging zur Anna hin und faßte ihre Hand. Nach kurzem zog er sie näher an sich heran. Und endlich ließ er ein fröhliches Lachen hören und sprach:

»Warum stehen wir da vor dem Brückle, als ob wir nicht alle hinübergehörten? Gehen wir doch hinauf nach dem Häusle! Komm, liebe Anna, komm! Dort[632] färbt die Sonne schon die Wolken rot und gibt ihnen goldene Ränder. Ich will sie hier noch einmal untergehen sehen!«

Er führte sie hinauf. Die anderen folgten. Droben setzte man sich an den Tisch. Niemand sprach. Er schaute beharrlich nach dem purpurnen Westen. Die anderen hatten alle ein unbestimmtes Gefühl, daß sie ihn nicht durch Worte stören dürften. Bei dem Lehrer kam hierzu noch die Ueberzeugung, daß er jetzt den Neubertbauer vor sich habe, vielleicht zum letzten Male. Wie sonderbar, daß dieser sich grad jetzt zu ihm herumdrehte und ihn fragte:

»Für wen halten Sie mich? In diesem Augenblick?«

»Nicht für den Musterwirt,« antwortete der Gefragte, in dem etwas aufstieg, was ihn zwingen wollte, den Frager zu umarmen und an das Herz zu drücken. Er begnügte sich aber damit, ihm nur die Hand hinüberzureichen. Der Wahnsinnige griff nach ihr, hielt sie fest, schaute wieder nach dem Abendrot und sprach:

»Also sind Sie nicht mehr irre, Herr Lehrer! Sie haben gesagt, ich spreche ganz anders wie der Neubertbauer und sogar noch besser wie der Musterwirt. Das ist doch selbstverständlich! Der Geist hat keine Grenzen, hat weder Konturen noch Linien. Der Geist ist keine Figur. Er ist Kraft, Gesetz und Wille. Das aber sind Dinge, die ineinanderfließen, wenn es gilt, eine Wirkung zu erreichen. Dem Musterwirt mußte der Neubertbauer gegenüberstehen. Das war aber nur der äußere Behelf. Hinter diesem Namen aber gab es noch etwas ganz anderes. So sehen Sie da drüben Wolke an Wolke, Farbe an Farbe, Hauch[633] an Hauch. Hinter dem allen aber steht die Sonne. Sie scheidet. Sie hat ihr Tagewerk vollbracht.«

Er gab die ergriffene Hand wieder frei, stand auf, küßte Anna auf das Haar, legte ihr die Hände auf das Haupt und sprach weiter:

»So gehe nun auch ich. Mein Kind, wenn dich die Sehnsucht nach mir überkommt, so wird es dir von morgen mittag an unmöglich sein, mich aufzusuchen. Gehe auch nicht an mein Grab. Ich bin nicht dort. Gehe zum Herzle! Nur da, wo du Liebe findest, kann ich bei dir sein, obgleich du mich nicht siehst. Sonst nirgendwo! Jetzt scheiden wir. Du und ich. Für dieses Mal. Ich bleibe hier. Denn ich habe hier noch der Musterwirt zu sein – – – hier dieser Körper. Du aber begibst dich zur Frau Pfarrerin. Bete mit ihr morgen mittag für ihn – – – für den Musterwirt. Er wird es nötig haben!«

Es wurde ihr schwer, zu gehen. Aber sie gehorchte. Sie weinte dabei. Er strich sich mit der Hand über die Augen und wendete sich ab, um ihr nicht nachzusehen. Sein Blick war jetzt wieder dorthin gerichtet, wo die Abendröte nun sehr schnell erbleichte. Der Lehrer beobachtete ihn mit der größten Spannung, in der er sich jemals befunden hatte. Nun mußte es sich ja zeigen, ob Wahnsinn oder nicht!

Nach einer Weile zuckte der Wirt zusammen, als ob er wie aus einem Schlaf erwache. Er drehte sich um, sah, bei wem er sich befand, erschrak und rief ängstlich aus:

»Auf dem Damenbergle! Bei der Marie und beim Herzle! Das Brückle ist doch die Grenze! Soeben stand ich noch unten! Ich sollte herauf, konnte[634] aber nicht! Ich will fort, fort, fort – – – denn hier muß mich der Neubertbauer packen!«

Er schob zurück, was ihm im Wege stand, um sich schleunigst zu entfernen. Da sprang der Lehrer auf, hielt ihn fest und sagte.

»Bleiben Sie hier, Herr Frömmelt! Soeben hat der Neubertbauer seiner Tochter anbefohlen, morgen mittag für Sie zu beten! Er hat von ihr Abschied genommen und wird nicht wiederkommen. Denn Sie haben die Grenze zwischen Gut und Bös überschritten. Wollen Sie etwa wieder zurück?«

Da sank der Wirt auf seinen Stuhl nieder, faltete die Hände und fragte:

»Die Anna – – –? Für mich beten – –? Herr Lehrer, ist das wahr?«

»Die vollste Wahrheit! Hier sitzen zwei Zeuginnen, die es auch gehört haben.«

»Ja, dann – – dann – – – dann ist das ja Verzeihung! Der Neubertbauer und seine Anna beten für mich! Und aber ihr – – –? Ihr beiden anderen – – –?«

Da sprang das Herzle auf, ging zu ihm hinüber, legte ihm den Arm um den Hals und sagte:

»Wir verzeihen auch. Wir beten ebenso!«

Da stand er langsam wieder auf, sah sie nacheinander an, breitete seine Hände aus, als ob er sie segnen wolle, und sprach:

»So habt ihr mich erlöst! – – – Ich wollte morgen vor den Herrgott treten und ihn fragen, wer schuld an allen meinen schlimmen Taten ist. Ich dachte mir, ich sei es nicht! Wie ich von dem Geiste meines Feindes gezwungen worden bin, aus meinen Sünden genau so herauszusteigen, wie es in der Kirche[635] auf meinem Altarbild zu sehen ist, so hat es vorher in mir aber einen falschen Freund gegeben, dem zu Gefallen ich alles Böse tat, was er von mir verlangte. Diesen Freund wollte ich mir morgen vor den Herrgott fordern, um mit ihm abzurechnen. Jetzt kenne ich ihn. Es ist der – – – Mensch! Der Mensch in meinem Körper! Und nun ich ihn kenne, rechne ich nicht erst drüben mit ihm ab, sondern schon hier, hier, hier! Er hat gehofft, daß ich ihn mit hinübernehmen werde. Und er hätte sich auch wirklich mit mir hinübergeschlichen, ohne daß ich es ahnte, wenn – – – wenn ich nicht von dem Neubertbauer gezwungen worden wäre, hier bei euch zu hören, daß ihr alle für mich beten wollt! Wie ich euch dafür danke – – – schon hier – – – und dann auch dort, das werdet ihr erfahren!«

Er küßte das Herzle auf das Haar, tat dasselbe auch bei der Mutter, gab dem Lehrer die Hand und ging dann mit schnellen Schritten fort, als ob er keinen Augenblick mehr zu verlieren habe.

Die Mutter zitterte vor Aufregung. Sie sagte:

»Jetzt ist der Wahnsinn vollständig bei ihm ausgebrochen. Nun gibt es für ihn weiter nichts, als nur das Irrenhaus!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Glocken begannen zu läuten. Der Kirchhof war ebenso wie der Kirchenplatz voller Leute gewesen, die nun in das Gotteshaus strömten. Viele von ihnen waren in die Leichenhalle getreten, um die Mustertochter anzusehen, welche im weißseidenen Festjungfrauenkleide im schwarzen Sarg mit goldenen Füßen lag, in demselben, den sie für ihren Vater bestellt hatte!

Das Innere der Kirche war mit Girlanden und[636] Kränzen geschmückt. Die Festjungfrauen saßen in ihren Alltagsgewändern auf den vordersten Frauenbänken. Das Herzle auch. Sie war, wie immer, weiß gekleidet, die einzige von allen. Der Pfarrer hielt eine schöne, sehr wohldurchdachte Predigt über das Bibelwort: ›Wirket, so lange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!‹ Nach dem Gottesdienste eilte alles hinaus, um möglichst nahe an die Tribüne zu gelangen, von welcher aus der Herr Lehrer die Ausstellung zu eröffnen hatte. Um das Gedränge zu vermeiden, durften die Festjungfrauen gleich durch die Sakristei hinaus. Da stand ein Fremder. Er hatte einen Touristenanzug an und ein Plaid am Riemen hängen. Der trat auf das Herzle zu und sagte:

»Mein liebes Kind, ich möchte gern alles hören und sehen. Gibt es vielleicht einen Platz, von welchem aus das möglich ist?«

Sie schaute ihn an. Er hatte so brave, treuherzige Augen. Die gefielen dem Herzle so gut, daß sie schnell antwortete:

»Kommen Sie! Ich gebe Ihnen meinen Stuhl.«

Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich fort.

Vor der Tribüne war ein Platz besonders abgesteckt. Da stand ein blumengeschmückter Webstuhl, ein Scherrahmen, ein Treibrad, ein Spulrad, ein Aufbäumegestell und noch vieles andere, was zur Handweberei gehört, alles mit Kränzen und Blumen behangen. Und da gab es auch die Sitze für die Festjungfrauen. Rundum, bis weit in das Dorf hinein, stand eine Menschenmenge, Kopf an Kopf. Das Herzle brachte den Fremden bis an den Scherrahmen und holte ihm ihren Stuhl. Einen besseren Platz gab es[637] nicht in der ganzen Welt! Zwar hatte sie nun keinen besonderen Sitz, aber bei der bescheidenen Art von Festjungfrauen, wie die gegenwärtigen waren, ist dem leicht abzuhelfen. Es setzen sich einfach drei von ihnen auf zwei Stühle. Das geht sehr leicht, zumal das Herzle nichts in den Händen hat, weil sie ja ihr Klöppelkissen nicht hat mitbringen sollen. Die anderen aber haben die ihrigen alle.

Nun wird von der ersten Klarinette das eingestrichene a angeblasen, damit die anderen Instrumente erfahren, daß sie jetzt b zu sagen haben, worauf sie alle das Lied anstimmen ›Den König segne Gott!‹ Jedermann fällt mit seiner Stimme ein! Am Schlusse des Gesanges besteigt der Herr Lehrer die Tribüne, auf welcher ein Gegenstand liegt, der sehr schön eingewickelt ist. Er hält die Eröffnungsrede. Er spricht vom Weben und Wirken. Das soll ein jeder für sich, aber auch für andere tun! Für das Haus, für die Gemeinde, für das Volk, sogar für die ganze Menschheit. Der Menschheit ist keiner nütze, der immer nur an sich selbst denkt. Für sich selbst sorge man am besten, wenn man für seinen Nächsten sorge. Das tue jeder brave Mensch, sogar auch Seine Majestät der König. Es sei allgemein bekannt, wie huldvoll er sich der hiesigen Armen angenommen habe. Und daß sich auch Ihre Majestät, die Frau Königin, für die fleißigen Klöpplerinnen warm interessiere, das wolle er jetzt beweisen. Sie habe ihm nämlich schriftlich befohlen, das wohlbekannte Herzle freundlich zu grüßen und ihr das hier vor ihm liegende Ehrenklöppelkissen zu überreichen.

Bei diesen Worten öffnete er das Paket und brachte seinem vor Wonne ganz sprachlosen Herzle das königliche Geschenk von der Tribüne herunter. Wenn[638] man aber denkt, daß er wieder hinaufgestiegen sei, um seine Rede zu vollenden und dann ein dreimaliges Hoch auf die Majestäten auszubringen, so irrt man sich. Es war zwar seine Absicht, dies zu tun, aber das Volk wartete diesmal gar nicht darauf, von dem Volksredner erst kunstmäßig begeistert zu werden, sondern die Begeisterung war schon gleich fertig vorhanden. Sie brach sich Bahn, wie damals das Musterbergle, als es aus dem Erdinnern herausgeflogen kam.

»Hurrah der König! Vivat die Königin! Dreimal Hurrah und zehnmal und tausendmal Vivat alle beide! Das Herzle auch! Der Herr Lehrer! Der Herr Pastor! Die Ausstellung! Das Klöppelkissen! Hurrah! Vivat!« so riefen und jubelten viele Hunderte von Kehlen, bis man gar weiter nichts mehr hörte als nur ein einziges großes Gewitter von lauter ›– –rrah‹ und ›– –vat‹.

Der Herr Lehrer hörte eine ganze Weile lachend zu. Aber als es gar kein Ende nehmen wollte, befahl er der Musik, den Festmarsch zu beginnen. Sofort fuhren die Instrumente an die Lippen, und es ging los: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus, Städtele hinaus!« Das ging sogleich bis in die Beine. Ein jeder hörte, daß man nicht mehr zu vivaten, sondern zu marschieren habe. Man ließ die Musik durch, hinter ihr die Festjungfrauen mit ihren Klöppelkissen, das Herzle mit dem Frau Königlichen! Dann kam das Komitee, und hierauf folgten die Gewerbe und Gewerke in der Ordnung, welche jedermann bekannt gegeben worden war.

Der fremde Herr war auch dabei, denn als der Zug begann, hatte das Herzle ihn wieder bei der Hand genommen und grad vor sich hingestellt. So sah er[639] sich gezwungen, mit als Festjungfrau anzutreten, was ihn aber ganz und gar nicht zu ärgern schien, denn er lachte am ganzen Gesicht. Er marschierte mit, das ganze Dorf hinauf und hinab, bis sich der Zug auf dem Festplatze aufzulösen hatte. Dort fragte er das Herzle, wo es einen Ort gebe, an dem man sich ein Stündchen ausruhen könne, ohne von zu großem Lärm belästigt zu werden. Da nahm sie ihn zum dritten Male bei der Hand und führte ihn über das Brückle und das Bergle hinauf nach dem Häusle, wo er sich zur Mutter setzte, die ihm sogleich den Kuchenteller vor die Hände schob. Das Karlinchen war auch da. Sie sah ihn an und dachte bei sich selbst:

»Der gefällt mir! Dem Herzle auch! Mit dem muß man es also halten!«

Das Herzle hatte nur schnell den Gast abgeliefert und das Kissen auf den Tisch gelegt und war dann wieder fortgeeilt, um ihren vielen Pflichten als ›Oberste‹ der Festjungfrauen zu genügen. Die Mutter wußte schon, woran sie mit dem Kissen war, denn während des Festmarsches durch das Dorf hatten sich alle möglichen Freundinnen bei ihr eingestellt, um es ihr zu berichten und dann schnell in das Dorf zurückzukehren. Man kann sich also denken, wovon und worüber sie mit dem Fremden sprach! Auf dem Tisch lag noch ein kleines Paket, welches der Musterwirt vorhin für den Herrn Lehrer geschickt hatte. Es wurde jetzt gar nicht beachtet.

Als es nach einiger Zeit zwölf schlug, entschuldigte sich die Mutter, daß sie einmal in die Küche schauen müsse, denn halb ein Uhr werde der Herr Lehrer kommen, um mit ihnen zu essen.

»Das Herzle auch?« fragte der Herr.[640]

»Ja.«

»Was gibt es denn heut' Gutes?«

»So was man auf dem Dorfe hat, wenn Ausstellung ist. Eine Griessuppe mit Petersilie, grüngenüffte Klöße mit Sauerbraten und Speckgriefen, einen Eierkuchen mit Heidelbeermansch und hinterdrein einen Apfelbrei mit Zimmetgestreu. Das ist gar etwas Gutes. Man hat es nicht alle Tage, nicht einmal alle Jahre!«

»Ja, wenn man da mittun dürfte!« rief er aus.

»Warum denn nicht? Wollen Sie?«

»Wie gern!«

»Aber wahr muß es auch sein! Nicht so bloß ein Spaß von den vornehmen Stadtherren auf dem Dorfe!«

»Es ist mein Ernst, liebe Frau. Ich bitte, mich vollständig als Ihren Gast zu betrachten. Es gefällt mir hier bei Ihnen. Hier ist ein kleines Paradies. Da müssen gute, gute Geister walten! Gehen Sie also in die Küche, und pflegen Sie Ihres Amtes. Mich stört es nicht, allein zu sein.«

Wie dankbar sie ihn anschaute, ehe sie in das Häusle trat. Nun war er der einzige am Tisch. So dachte er. Aber grad auch am Tisch lag ja das Karlinchen. Während er mit lebhaften Augen das Treiben unten auf der Wiese beobachtete, betrachtete sie ihn immerfort und dachte dabei: »Ich wollte, der wohnte immer hier bei uns! Der ist brav! Der paßt gut zum Herrn Lehrer. Da gäbe es gewiß zweimal Semmel, anstatt täglich nur ein einziges Mal!«

Kurz vor halb ein Uhr kam das Herzle. Sie nahm weg, was auf dem Tische lag, und breitete ein blütenweißes Eßtuch auf.[641]

»Herzle, ich speise auch mit,« sagte der Gast.

»Das habe ich mir gewünscht!« antwortete sie. »Man sieht es Ihnen ja sogleich an, daß Sie anderen Leuten gern eine Freude machen!«

Nun stellte sich auch der Herr Lehrer ein, welcher dem Gaste die Hand reichte und ihn bat, fürlieb zu nehmen. Die Mutter brachte die Suppe, und dann ging es los! Wie es aber auch dem fremden Herrn schmeckte! Man mußte die helle Freude daran haben! Und wie gut und warm er sprach und fragte! Er holte einem alles so recht grad aus dem Herzen heraus. So schön hatte man sich fast noch niemals unterhalten. Besonders der Herr Lehrer, der noch keinen gefunden hatte, bei dem er ein so tiefes und klares Verständnis für das wahre Wohl der arbeitenden Klasse bemerkte. Sie drückten einander schon bei den Klößen die Hände. Und während der Apfelspeise sagte der Fremde im Ton der Ueberzeugung:

»Herr Lehrer, Sie sind in der Dorfschule nicht an der richtigen Stelle. Hätte ich etwas zu befehlen, so wüßte ich, was ich machte!«

»Nun, was?« fragte da das Herzle.

»Das sage ich nicht. Ich werde es Ihnen aber zeigen. Warten Sie nur, Sie gutes Herzle, Sie! Wenn Ihr Freund sich nur nicht in so gedrückter Stimmung befände! Er hat etwas auf dem Herzen, was er uns verbirgt.«

»Haben Sie mir das wirklich angemerkt?« fragte Bernstein. »Ich gab mir alle Mühe, es nicht merken zu lassen, weil ich wußte, daß es das Essen verderben würde. Nun dieses aber vorüber ist, kann ich reden. Ihr seid ja berechtigt, es vor allen anderen zuerst zu erfahren.«[642]

Er legte sich in seinem Stuhle zurück, holte tief Atem und sagte.

»Das Geldmännle ist tot und hat sein ganzes, ganzes Geschäft offen zur Schau gestellt, von Anfang bis zum Ende!«

Man kann sich denken, was diese Worte für einen Eindruck machten, den größten vielleicht auf den fremden Herrn, der sich aber Mühe gab, dies nicht merken zu lassen! Die Frauen hatten gleich eine ganze Menge Fragen. Der Herr Lehrer bat aber, ihn ruhig anzuhören.

»Also das Geldmännle hat ausgestellt,« wiederholte er. »Alle seine Geheimnisse. Elf Tische voll. Die Druckmaschine mit den nachgemachten Platten. Die Münzstöcke für das falsche Silbergeld. Einen großen Haufen unechte Hundertscheine. Eure Taler mit den zwei durchlöcherten und den Elsterperlen dabei. Alle Werkzeuge, die in Gebrauch gewesen sind. Viele Chemikalien. Darunter auch das Zeug, an welchem man ersticken muß, wenn es ins Feuer geworfen wird. An jedem Gegenstande, an jeder Flasche befindet sich ein Zettel, welcher den Gebrauch genau bezeichnet. Sodann die heimliche Buchführung vom ersten bis zum letzten Tage. Man sieht da bis auf den Pfennig, welche Summe das Ganze ergibt. Die Namen der Abnehmer aber sind herausgeschnitten und jedenfalls vernichtet worden. Es soll niemand unglücklich gemacht werden. Sodann ist auch die ganze Buchführung des ›Etablissements‹ in Ordnung gebracht und ausgestellt, mit der Bilanz auf den heutigen Tag. Alle armen Schuldner sind ausgestrichen. Ihre Borgbücher liegen in hohen Haufen da, bis auf den letzten Heller quittiert; das wird eine Freude geben, so weit[643] die Kundschaft reicht! Auf einem besonderen Tische liegt ein geschriebenes Heft. Es enthält das ganze, ausführliche Sündenbekenntnis des Geldmännle, seine letzten Gedanken und auch sein Testament. Auf dem letzten Blatte des Hauptbuches steht die Schlußrechnung. Ein eiserner Kasten enthält eine Menge gutes Bargeld in Gold und Silber und mehrere Pakete echter Kassenscheine, ganz außerordentliche Summen. Wenn man zu diesen Beträgen den Wert der Außenstände, des Grundbesitzes und des Inventars addiert und allen verursachten Schaden damit bezahlt, so bleiben noch an die zwanzigtausend Taler übrig, welche den Erben des Musteranton gehören sollen, weil das Geldmännle der Mörder desselben ist.«

Die Mutter und das Herzle waren still, ganz still. Der Fremde aber hatte sich weit herübergebogen und rief aus:

»Aber das ist ja ein Ereignis von allergrößter Wichtigkeit für diese ganze Gegend, und auch für – hm! Bitte, erzählen Sie weiter, weiter, weiter!«

»Punkt zwölf suchte der Gasthofskutscher den Herrn Pfarrer und mich,« fuhr der Lehrer fort. »Der Wirt hatte ihn geschickt, um uns beiden den Schlüssel zur Gaststube zu bringen. Herr Frömmelt erwarte uns dort. Wir gingen sogleich hin, schlossen die Tür auf und traten ein. Was wir sahen, ließ uns beinahe erstarren. Es war die Ausstelluug, wie ich sie beschrieben habe. Genau an der Stelle, wo der Neubertbauer sich erstochen hat, stand am Schenktisch ein Stuhl. Darauf saß der Musterwirt, mit demselben Messer im Herzen, bis an das Heft – – – eine Leiche! Wir brauchten einige Zeit, um uns zu fassen. Dann sahen wir die ausgestellten Sachen schnell durch. Wir beschlossen,[644] keinen Menschen hineinzulassen und einen Wagen nach der Stadt zu schicken, um den Staatsanwalt, die Polizei und den Bezirksarzt zu holen. Dann mußte ich hierher zum Essen. Der Herr Pastor hat den Schlüssel. Grad als wir die Tür zuschlossen, kamen drei Fremde, welche zum Musterwirte wollten. Wir sagten ihnen, er sei tot. Sie schienen ungewöhnlich zu erschrecken und behaupteten, daß er ihnen eine Menge Geldes schuldig sei. Sie verlangten in der zudringlichsten Weise, zu seiner Leiche gelassen zu werden, und ließen sogar auf der Straße nicht von uns ab. Da begegnete uns zufälligerweise unser Brüsseler Herr. Kaum sah er sie, da fuhr er auf sie los. Und kaum sahen sie ihn, so ergriffen sie die Flucht. Er rief uns noch zu, zwei von ihnen seien internationale Gauner, die auch ihn bestohlen hätten; dann rannte er hinter ihnen her.«

»Das war eine kleine Nebenszene, weiter nichts,« sagte der Gast. »Solche Individuen scheinen bei jeder Ausstellung unvermeidlich zu sein. Bleiben wir bei der Hauptsache! Sie haben ganz richtig gehandelt, zuzuschließen und nach dem Staatsanwalt zu schicken. Man muß die Ankunft dieses Herrn abwarten und bis dahin verschwiegen sein. Mich aber haben Sie nun einmal eingeweiht, und so bitte ich um die Erlaubnis, einige Fragen aussprechen zu dürfen!«

Natürlich blieb es nicht bei nur einigen Fragen. Der Fremde besaß eine so eigene, gütig zwingende Art, zu erfahren, was er wissen wollte. Es dauerte gar nicht lange, so war er in alles eingeweiht, was sich ereignet hatte. Dann bat er den Lehrer, mit ihm einen Gang durch das Dorf zu machen, um nachzusehen, was von den Bewohnern desselben ausgestellt worden sei.[645]

Sie gingen. Auch das Herzle mußte fort. Sie hatte heut' viele Pflichten, sogar öffentliche, die man noch sorgfältiger zu erfüllen hat, als die gewöhnlichen, häuslichen!

Die Ehrengäste waren mit Musik zusammengeholt worden. Nun speisten sie bei einem lustig schallenden Konzerte. Während desselben kam die Frau Pfarrerin mit der Anna nach dem Bergle. Sie hatte einen köstlichen Gedanken. Wie wäre es, wenn man nach der Speisung der Ehrengäste die sämtlichen Festjungfrauen einlüde, am Nachmittagskaffee hier oben am Häusle teilzunehmen! Die Mutter war sofort einverstanden, und auch das Karlinchen tat einen Freudensprung.

»Habe ich es nicht gesagt!« dachte sie. »Nur eine Festjungfrau hier auf dem Bergle, das war mir viel zu wenig. Ein Dutzend muß es sein. Ich wußte es doch gleich!«

Selbstverständlich dauerte dieser Nachmittagskaffee bis in die blaue Dämmerung hinein. Platz war genug vorhanden, denn man hatte die nötigen Sitzgelegenheiten aus dem Gasthofe holen lassen. Eben hatte die Mutter die letzte Kanne aufgegossen, die aber nun auch wirklich die letzte sein sollte, da kamen noch drei durstige Leute über das Brückle durch das Gärtle herauf, nämlich der Herr Pastor, der Herr Lehrer und der Herr Fremde. Sie fragten, ob es Herren erlaubt sei, sich unter Festjungfrauen zu mischen, worauf das Herzle antwortete, sie habe schon beim Festzuge bewiesen, daß dies nicht verboten sei. Die drei Neuangekommenen setzten sich also zu ihnen.

Wie es schien, hatten sie großen Wohlgefallen aneinander gefunden. Wenigstens zeigte sich der Fremde[646] in alle auf das Bergle bezüglichen Verhältnisse so tief eingeweiht, als ob er schon seit Jahren hier ein täglicher Gast gewesen sei.

»Wer er nur sein mag?« flüsterte das Herzle dem Herrn Lehrer zu.

Dieser neigte sich ganz zu ihr herüber und antwortete leise, leise:

»Er hat es uns doch noch mitgeteilt. Sag' es aber ja nicht weiter, denn er will partout inkognito bleiben. Es ist, denke dir – – – der Herr Minister, Exzellenz!«

Da sprang das Herzle auf, sah den Entlarvten ganz erschrocken an und rief mit lauter Stimme:

»Der Herr Minister, Exzellenz! Mutter, Mutter, der Herr Minister sitzt da neben dir – – – Exzellenz!«

Sofort fuhren auch die anderen elf Festjungfrauen mitsamt der Frau Pfarrerin in die Höhe.

»Exzellenz – – –! Der Herr Minister – – –! Exzellenz – – –! Minister – – –!«

So schallte es um alle drei Tische, daß fast die Tassen wackelten. Wer aber am allerhöchsten auffuhr, das war das Karlinchen.

»Der Herr Minister – – –! Exzellenz!« jubelte es in ihr. »Mir also ebenbürtig! Wenn auch ohne Dangtell de Brüsell! Jetzt weiß man endlich, endlich, was hier die Glocke schlägt!«

Der hohe Herr lachte am ganzen Gesicht und bat, doch ruhig sitzen zu bleiben. Hier auf dem Bergle sei er weder Exzellenz noch Minister, sondern weiter nichts als nur die dreizehnte Festjungfrau. Der Festzug habe das bis zur Evidenz bewiesen! Die dreizehnte pflege zwar nie gern gesehen zu sein, doch bitte er, das[647] Karlinchen als die vierzehnte zu betrachten. Dann sei ja alles gut!

Es muß gesagt werden, daß die Mutter nun doch noch einige Male neu aufzugießen hatte – – – aber um wieviel Uhr zum letzten Male, das hat man zu verschweigen, ganz selbstverständlich aus Rücksicht auf – – – die Exzellenz.

Als dann der Herr Lehrer noch eine kurze Zeit mit der Mutter und dem Herzle allein am Tische saß, fiel der ersteren das Paketchen ein, welches der Musterwirt für ihn geschickt hatte. Sie holte und gab es ihm. Er öffnete es. Es enthielt die Postquittungen. Aber es lag ein Zettel dabei, auf welchem folgendes geschrieben stand:


»Diese Quittungen hat die Rosalia dem Herzle heimlich aus dem offenen Kasten genommen. Nun wissen Sie, Herr Lehrer, wessen Geschöpf Sie sind, das Geschöpf der Liebe, der Sie mit Stolz und gutem Gewissen danken können. Gott segne diese Liebe!« – – –[648]

Quelle:
Das Geldmännle. In: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Karl Mays Erstlingswerke. Band I. – Dresden-Niedersedlitz (1903). S. 439–648, S. 607-649.
Lizenz:
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Cleopatra. Trauerspiel

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Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

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Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

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