IV.

Ueber den Wolken

Es war noch früh am Morgen, wenigstens nach der Zeitrechnung derjenigen Leute, welche nach englischem Modus leben und den Tag beginnen, wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht. Zu dieser Classe von Menschenkindern gehörte der Polizeirath nicht. Von Jugend auf an ernstes, aufmerksames Schaffen und anstrengende Thätigkeit gewöhnt, war es ihm zur Gewohnheit geworden, mit dem Tagesgrauen zu erwachen und diesem Erwachen die Arbeit augenblicklich folgen zu lassen.

So treffen wir ihn auch heute schon bei Zeiten wach und über den Zeitungen sitzend, welche gestern spät noch angekommen sind. Die Aufmerksamkeit für diese Art von Lecture ist Pflicht eines jeden Polizeibeamten und war ihm zu seinem Wohlbefinden unumgänglich nothwendig geworden, obgleich er längst schon seine Pension genoß.

Da hörte er rasche Schritte auf der Treppe, und kaum hatte er sich horchend aufgerichtet, so öffnete sich auch schon die Thür und Hagen trat ein.

»Guten Morgen, Onkel. Verzeihe mir die allzufrühe Störung; aber ich bringe wirklich eine Nach richt, welche Deine ganze Theilnahme in Anspruch nehmen wird.«

»Nun? Du bist mir allerdings jederzeit willkommen.«

»Es ist Verschiedenes. Zunächst wirst Du erstaunen, daß die Baronin von Chlowicki die Tante des hiesigen Essenkehrers Winter ist.«

»Ich bin gewohnt, über Nichts zu erstaunen. Der Polizist darf diesen demüthigenden Gefühlsaffect nicht kennen. Freilich muß ich gestehen daß Deine Neuigkeit sehr nach dem Unwahrscheinlichen klingt.«

»Und doch ist es so. Wenn Du die Art und Weise eines guten Polizisten so genau kennst, so wirst Du ihm auch zuweilen eine kleine Neugierde gestatten, welche Andern nicht erlaubt ist.«

»Gewiß. Bist Du vielleicht neugierig gewesen?«

»Meine Absichten auf Wanda von Chlowicki zwingen mich dazu. Ich habe gestern Abend die Runde um ihre Wohnung gemacht und dabei das Gespräch zweier Personen belauscht, deren eine die Kammerzofe der Baronesse war, während ich nach Erkundigungen, welche ich heut sofort eingezogen habe, in der andern den Buchbinder Thomas vermuthe. Beide haben ein Verhältniß mit einander und gaben sich gestern ein Rendez-vous, dessen Zeuge ich glücklicher Weise war. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich die Neuigkeit, welche ich Dir mittheilte. Das Kammerkätzchen hat nach Art und Weise dieser wißbegierigen dienstbaren Geister die betreffende Unterredung belauscht und wäre natürlich am Herzdrücken gestorben, wenn sie dem Allerliebsten keine Mittheilung davon gemacht hätte. Was sagt Du dazu?«

»Es giebt keine Unmöglichkeit unter der Sonne. Nun sind hierbei zwei Fälle anzunehmen. Entweder nämlich ist Winter adelig, was ich nicht vermuthe, trotzdem ich ihn sehr achte, oder die Baronin ist eine Bürgerliche, und es bestätigt sich also die Wahrheit Dessen, was ich Dir vor kurzer Zeit zu Gehör brachte.«

»Das letztere ist der Fall. Doch ist diese Sache wenigstens für den Augenblick von keinem bedeutenden Interesse für mich; vielmehr wird das Letztere ganz und gar in Anspruch genommen durch einen Brief, welchen der hiesige Postsekretär mir vorhin übergab.«

»Was für Wichtigkeiten enthält er?«

»Ich weiß es selbst noch nicht und muß ihn erst öffnen.«

»Von wem ist er?«

»Von Einem meiner Untergebenen, dem Bruder des vorhin erwähnten Schornsteinfegers.«

»Ah! Von dem Manne, welchen wir kürzlich als Gehülfen des Professors antrafen? Die Sache beginnt interessant zu werden. Was hat er Dir zu schreiben?«

»Mir Nichts. Sein Brief ist vielmehr an einen unserer routinirtesten Staatsanwälte gerichtet. Die Sache ist nämlich so. Winter ist ein kluger Kopf, vielleicht der klügste, intelligenteste, welcher uns zur Verfügung steht; nur macht er in Folge seiner akademischen Laufbahn Ansprüche auf eine gesellschaftliche Gleichberechtigung, welche unsere Anciennitätsverhältnisse vollständig über den Haufen wirft. Er hat Urlaub wegen seiner angeblich bedrohten Gesundheit genommen; aber bei einem Manne von seinem Diensteifer ist eine Reise nur zum Zwecke der Erholung nicht gut anzunehmen. Er ist noch jung, und wenn seine Kräfte auch Etwas in Anspruch genommen worden sind, so ist das Uebelbefinden doch nicht von der Art, daß er in Folge einer längeren Dispensation mehrere Wochen lang jede Gelegenheit zur Auszeichnung versäumen möchte. Deßhalb vermuthete ich bei unserem Zusammentreffen hier sofort irgend eine Diplomatik von seiner Seite und scheine mich auch nicht getäuscht zu haben.«

»Er will den Professor aushorchen, wie Du mir sagtest.«

»Bewahre! Zwar habe ich das Mährchen geglaubt, aber jetzt bin ich überzeugt, daß er mich mit dieser Erklärung blos dupiren wollte. Er ist nur des Barons wegen hier und hat das zufällige Zusammentreffen mit dem Aeronauten blos benutzt, seinem Aufenthalte hier einen einigermaßen stichhaltigen Grund zu geben.«

»Des Barones? Du meinst Säumen?«

»Ja. Ich darf natürlich nicht weniger Scharfsinn besitzen, als mein Untergebener und habe mich also über Alles, was ihn hierher geführt haben kann, zu orientiren gesucht. Da fiel mir zunächst der Verdacht auf, welchen sein Bruder in der Felsenbruchaffaire geäußert hat, und sodann bemerkte ich bei unserer kürzlichen Begegnung das Interesse, welches Beide für den Stock des Barons an den Tag legten. Da[622] ich mir nun zudem denken konnte, daß die geheimnißvolle Thätigkeit Winters sich auch nach Außen hin äußern werde, so gab ich bei dem hiesigen Postamte meine Legitimation ab und bat um Aushändigung aller Briefe, welche von den beiden Winter zur Beförderung aufgegeben würden.«

»Du wagst viel und das Postamt nicht weniger.«

»Pah; man wird es zu verantworten wissen, wenn es überhaupt dazu kommen sollte.«

»Und heute ist Dir ein solches Schreiben zugestellt worden?«

»Ich wurde von dem Sekretär im Vorübergehen angerufen Hier ist es. Ich kann die Unvorsichtigkeit Winters nicht begreifen, seine Einlage mit einem gewöhnlichen Gummicouvert zu umschließen!«

Er befeuchtete bei diesen Worten das Couvert mit der Lippe und öffnete es dann vorsichtig. Der inliegende Briefbogen war vollständig beschrieben, und während Hagen den Inhalt überflog, legte sich seine Stirn in die Falten tiefster Spannung.

»Wahrhaftig; es ist ganz so, wie ich dachte. Mit seiner Stellung zu dem Professor maskirt er seine eigentliche Absicht, und diese ist allerdings eine ganz außerordentliche.«

»Nun?«

»Hier, lies!«

»Ich bin nicht, wie Du, im Amte und habe also kein Recht, ihn zu lesen. Also, welche Absicht hat er?«

»Du erinnerst Dich wohl jenes Mordes, von welchem er zu mir gesprochen hat?«

»Ja.«

»Nun, er beantragt bei der Staatsanwaltschaft das sofortige Ausgraben der Leiche und eine genaue Untersuchung des Stirnbeines. Befindet sich an demselben die Spur einer Vernarbung, welche von einem Schlägerhiebe herrührt, so behauptet er, im Stande zu sein nicht allein die Identität des Ermordeten nachzuweisen, sondern auch sofort den Mörder fassen zu können. Sodann bittet er um vorläufige Discretion und, seiner eigenen Ueberzeugung wegen, um Zusendung des betreffenden Körpertheiles, wenn dieselbe möglich sei.«

»Das ist allerdings Erstaunen erregend. Um diesen Antrag zu stellen, muß er seiner Sache sehr sicher sein.«

»Das ist er auch, wie ich ihn kenne. So gewiß, wie ich seinen Brief in der Hand halte, so zweifellos hält er auch den Mörder fest, und dieser Letztere ist kein Anderer als der Baron.«

»Halt, das ist eine reine Unmöglichkeit!«

»Ich würde ebenso sagen, wenn ich diesen Winter nicht kennte. Aber kannst Du mir nicht vielleicht sagen, welche Universität Säumen besucht hat?«

»Mehrere, wie ich aus dem Munde der Baronin hörte; ich glaube auch Leipzig.«

»Dann ist er es. Es wird zwar vorsichtiger Weise hier kein Name genannt; aber es heißt, daß der Ermordete den Hieb in Leipzig erhalten habe. Sonach hätte der Mörder die That begangen, um sich in den Personal- und Vermögensstand des Getödteten zu setzen.«

»Eine kühne Annahme, in welche ich mich kaum hinein zu arbeiten vermag. Und wenn der Schreiber dieses Briefes Recht hat, so entstehen für Dich Bedenklichkeiten, denen Du Deine ganze Aufmerksamkeit schenken mußt.«

»Allerdings. Zunächst muß es mir unangenehm sein, wenn einer meiner Leute eine Entdeckung macht, welche mir nicht gelungen ist. Und die gegenwärtige ist ja von der größten Wichtigkeit. Die nächste Folge wäre ein Avancement, welches ihn wenigstens neben mich stellte. Unangenehm, sehr unangenehm!«

»Ich kann Dir hier keine Rathschläge geben; aber jetzt hältst Du die Chance noch in Deiner eigenen Hand.«

»Und werde sie jedenfalls auch nicht wieder fortgeben; ein allzu großes Zartgefühl ist hier keinesfalls am rechten Platze, und die Sache wird sich ja bei einiger Vorsicht recht gut arrangiren lassen. Es wäre ja Wahnsinn, eine Karte wegzuwerfen, welche mein Spiel mit den Damen zu einem gewonnenen machen kann.«

»Darauf wollte ich Dich hinweisen. Nur gilt es, sehr zu überlegen, wie der Trumpf zu gebrauchen ist. Ist die Annahme Winters die richtige, so entsteht bei der in Aussicht stehenden Criminaluntersuchung eine höchst demüthigende Blamage nicht nur für die Chlowicki's, welche in eine nähere Verbindung mit dem Mörder einzugehen beabsichtigten, sondern auch für mich, der ich ihn in meinem Hause aufgenommen und mit meiner nachdrücklichsten Empfehlung gedient habe. Hier kannst Du Dir also vielseitigen Dank erwerben.«

»Habe keine Sorge, Onkel! Selbst wenn ich andere Rücksichten nicht zu nehmen hätte, so würde ich doch nie einen Schritt thun, der Dein Ansehen schädigen könnte. Es ist das ein Opfer, welches ich Dir bringe, und Du wirst mich nun wohl nicht mehr der Unaufmerksamkeit gegen Dich zeihen.«

»Lassen wir das! Es gilt jetzt vor allen Dingen zu überlegen, in welcher Weise Du zu handeln hast. Was wirst Du mit dem Briefe vornehmen?«

»Der wird vernichtet. Er ist nicht persönlich übergeben, sondern in den Briefkasten gesteckt worden; die Postanstalt besitzt also keine Verantwortlichkeit für sein Schicksal. Hier ist mir Winter, der doch sonst höchst vorsichtig handelt, geradezu unbegreiflich.«

»Wenn er nicht vielleicht grade aus Vorsicht so gethan hat. Er konnte annehmen, daß Du ein großes Interesse haben mußt für Alles, was er hier vornimmt und hat vielleicht angenommen, daß ein gewöhnlich behandelter Brief Deinen Augen entgehen werde.«

»Nicht sehr schmeichelhaft für mich! Wenn es so ist, so soll er sich verrechnet haben. Aber sagtest Du kürzlich nicht, daß der Ueberlebende in den Vermögensbesitz des Verstorbenen träte, wenn der Baron oder Wanda vom Tode betroffen werde?«

»So ist es.«

»Dann wäre die Polin ja jetzt eigentlich die Besitzerin des Chlowicki'schen Besitzes, und es handelt sich nur darum den Baron ohne öffentliche Sensation zu entlarven. Man würde sich auf diese Weise die Dankbarkeit der Damen doppelt verdienen.«

»Hier will überlegt aber auch schnell gehandelt sein sonst steht zu befürchten, daß die Karte Dir wieder genommen wird. Man kann nicht wissen, welche Schritte Winter noch weiter zu thun beabsichtigt.«

»Es ist klar, daß ich zunächst zu der Baronin zu gehen habe, um sie von dem Bevorstehenden zu benachrichtigen und mir Kenntniß ihrer Wünsche zu erbitten. Das Uebrige richtet sich nach dem Ergebnisse dieser Unterredung.«

»Halt, laß den Hut noch liegen! Mir scheint dies gerade der verkehrteste Weg zu sein.«

»Warum?«

»Du sagtest vorhin, die Baronin sei die Tante Winters?«[623]

»Allerdings.«

»So wird sie ihn von Deinen Mittheilungen sofort benachrichtigen, selbst wenn Du sie um die größte Diskretion bätest. Die Schlüsse, welche er dann ziehen würde, brauche ich nicht erst anzudeuten.«

»Du hast Recht. Aber ich kann doch unmöglich mit dem Baron verhandeln ohne vorher mit den Frauen gesprochen zu haben!«

»Warum nicht? Sie würden ganz gewiß Alles Deinem Ermessen anheimstellen und Dir Vollmacht zum selbstständigen Handeln geben.«

»Wenigstens läßt sich das annehmen. Also zum Barone jetzt!«

»Sei nur nicht unvorsichtig. Wenn er der ist, für den ihn Winter hält, so hast Du es nicht blos mit einem gewiegten Gauner, sondern mit einem Menschen zu thun, der zu Allem fähig ist.«

»Sei ohne Sorge, Onkel! Es wird der Erste nicht sein, den ich von dieser Sorte vor mir habe.«

Mit einem kurzen, selbstbewußten Nicken des Kopfes schritt er hinaus. Es waren sehr wohlthuende Gefühle denen er sich in diesem Augenblicke hingab. Wanda war der Gegenstand seiner Sehnsucht gewesen, seit er sie in der Residenz gesehen hatte; aber theils hatte ihm der Dienst nicht gestattet, sich die nöthigen Musestunden zu erlauben, theils auch war er, selbst wenn seine gesellschaftlichen Beziehungen eine Annäherung ermöglicht hätten, nie Herr eines dunklen Gefühles geworden, welches ihm sagte, daß er dem Gegenstande seiner Wünsche geistig nicht ebenbürtig sei. Die selbstbewußte, imponirende Erscheinung der schönen Polin hatte ihm Achtung eingeflößt und in der gehörigen Entfernung gehalten, und als sie fortgegangen war, hatte er sich die lebhaftesten Vorwürfe gemacht, daß er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit diesem außerordentlichen Wesen gegenüber muthlos gewesen war.

Jetzt nun bot sich ihm die trefflichste Gelegenheit, sich die Dankbarkeit der Frauen zu erwerben, und der Umstand daß der Verlobte Wanda's als ein Verbrecher entlarvt werden sollte, nahm ihr einen guten Theil des Glorienscheines, in welchem er sie zu erblicken gewohnt war. Er konnte ihr heute in polizeilicher Eigenschaft entgegentreten, das gab ihm die früher vermißte Sicherheit wieder und rückte ihm sein Ziel in die erwünschte Nähe herbei.

Freilich galt es vor allen Dingen, erst den Baron zu fassen, und zwar so, daß er sich gefangen geben mußte. Das war jedenfalls nicht leicht; aber gerade diese Schwierigkeit mußte ihm zur Empfehlung dienen und in jeder Beziehung um Vortheile gereichen. Und so begab er sich denn in etwas gehobener Stimmung nach der Wohnung des Barons, wo er denselben anwesend fand und sofort vorgelassen wurde.

»Es ist mir ein Vergnügen, zu sehen, daß Sie unsere kürzlich angeknüpfte Bekanntschaft zu erneuern und zu befestigen wünschen. Nehmen Sie Platz!« begrüßte ihn Säumen.

»Vielleicht ist der Zweck meines Kommens für Sie ein nicht ganz erfreulicher, und was unsere Bekanntschaft betrifft, so ist sie wenigstens meinerseits eine etwas längere, als Sie meinen.«

»Wieso? Ich erinnere mich wirklich nicht, jemals oder irgendwo Ihre Gegenwart genossen zu haben.«

»Darin treffen Sie das Richtige. Aber ich bin Polizist, und Sie wissen ja, daß diese Art Leute ihre Bekanntschaften oft sehr einseitig pflegen.«

»Ich habe also anzunehmen, daß Sie mich gekannt haben, noch ehe ich die Gelegenheit hatte, Sie zu sehen?«

»Ich glaube wenigstens.«

»Möglich. Ein Mann in höherer Stellung wird mehr bemerkt, als er selbst Zeit hat, aufmerksam zu sein. Wo bin ich Ihnen begegnet?«

»Zunächst auf dem Papiere.«

»Ach! Wie ist das möglich? Hier muß ein Irrthum vorliegen; ich bin nicht Literat.«

»Man kann von sich schreiben lassen, auch ohne Schriftsteller zu sein. Freilich ist der Betreffende selten sehr erbaut, wenn er auf die Beschreibung seines Wesens und Treibens stößt.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Baron, aufmerksam werdend.

»Ich wollte nur andeuten, in welcher Weise ich Kenntniß von dem Herrn Baron von Säumen bekam.«

»Ich ersuche Sie, deutlicher zu sein.«

»Sie waren in Paris?«

»Früher; vor längeren Jahren. Warum?«

»Haben Sie während Ihres dortigen Aufenthaltes vielleicht einmal in dem Magazin von Jules Ragellet, marchand tailleur vorgesprochen?«

Das an sich schon blasse Gesicht Säumens wurde bei dieser Frage noch um einen vollen Schatten bleicher. Er erwiederte:

»Persönlich habe ich da nicht verkehrt, obgleich ich bei dem Manne arbeiten ließ. Es befindet sich in meiner gegenwärtigen Garderobe vielleicht sogar noch Einiges von ihm.«

»Können Sie mir die betreffenden Stücke bezeichnen?«

»Dieser Aufgabe ist ein Baron wohl schwerlich gewachsen. Wenden Sie sich an meinen Diener. Im Uebrigen aber kann ich Ihnen versichern, daß Ragellet einer der ersten tailleurs ist, wenn Sie vielleicht die Absicht haben, sein Geschäft mit Aufträgen zu frequentiren.«

»Das liegt weniger in meiner Absicht; nur wurde mir der Name des Mannes zu einer Zeit bekannt, in welcher sich die gesammte Polizei des Landes bemühte, den Urheber eines höchst entsetzlichen Mordes zu entdecken.«

»Ach so! Hatte man vielleicht Verdacht auf den Pariser Schneider?« fragte Säumen, während es ihm nur mit Anstrengung gelang, ein ironisches Lächeln hervorzubringen.

»Sie scherzen. Es war bemerkt worden, daß der Thäter Kleidungsstücke von der erwähnten Firma trug. Man wandte sich also nach Paris, und es gelang in Folge dessen allerdings, das Gewünschte zu ermitteln, wenn es auch vor der Hand nicht sofort möglich war, der Person habhaft zu werden.«

Hagen sprach hier nicht die Wahrheit; man hatte jeden Vorschlag Winters, sich nach Paris zu wenden, ignorirt. Aber es kam jetzt darauf an, die möglichste Sicherheit zu zeigen, wobei allerdings jede Blöße zu vermeiden war.[624]

»Und was erfuhr man?«

»Vollständig genug, um anzunehmen, daß der Mörder seinen Mann nur in der Absicht getödtet habe, um an seine Stelle zu treten.«

»Diese Ansicht scheint mir auf alle Fälle zu gewagt. Es gehört fast Unmögliches dazu, für einen Andern zu gelten, ohne Mißtrauen zu erwecken.«

»Sie haben Recht, und der Mörder ist deshalb als ein höchst kühnes und gefährliches Subject zu bezeichnen. Das Mißtrauen ist auch nicht ausgeblieben, trotzdem fast Alles vorhanden war, seine Absicht zu einer gelungenen zu machen.«

»Was aber kann das bloße Mißtrauen der Polizei nützen?«

»Sehr viel. Es giebt ihr die nöthigen Fingerzeige, und wer diese zu benutzen gelernt hat, der kommt stets zum Ziele.«

»Und warum sind Sie gekommen, eine solche Unterhaltung mit mir zu führen?«

»Weil Sie mir helfen können, die letzte Schlinge um den Thäter, den ich endlich persönlich erlangen kann, zu legen. Ich glaube, von Ihnen nicht abgewiesen zu werden.«

Der Baron athmete sichtlich erleichtert auf. Zwar konnte er sich einer nicht geringen Selbstbeherrschung rühmen; aber das verfängliche Thema war ihm zu unvermuthet auf den Hals gekommen, als daß er die nothwendige Kälte bewahrt hätte. Die letzten Worte Hagens nun ließen ihm vermuthen, daß er unnöthige Befürchtungen gehegt habe, und so antwortete er zustimmend:

»Wenn ich Ihnen irgendwie behülflich sein kann, den Urheber einer so verabscheuungswerthen That zu entdecken, so dürfen Sie auf meine Hülfe rechnen.«

»Ich danke. Entdeckt ist er schon; es gilt nur noch ihn zu fassen, und das hat seine Schwierigkeiten.«

»Welche.«

»Der Ermordete gehörte einem altadlichen Geschlechte an, besaß ein sehr bedeutendes Vermögen und war einer jungen Dame verlobt, für welche ich höchst dringende Rücksichten zu hegen habe. Der Mörder ist an seine Stelle getreten, hat Zutritt in die feinsten Zirkel, ja selbst zu meinem Onkel, dem Polizeirathe gefunden und gilt in Jedermanns Auge für einen ächten Kavalier.«

»Das ist unmöglich. Die Dame wenigstens muß ihn von dem Todten unterscheiden können selbst dann, wenn, was ich allerdings annehme, eine ganz und gar bedeutende Aehnlichkeit zwischen ihnen herrscht.«

»Sie hat ihn nie gesehen, da er schon als Knabe in Pension gegangen ist und seit jener Zeit nur brieflich mit der Heimath verkehrt hat.«

»Dann ist allerdings eine Täuschung möglich,« meinte Säumen, und seine Stimme klang etwas gepreßt. »Sie haben also Rücksicht zu nehmen, wie ich höre, und zwar sowohl auf die betreffende Dame, als auch auf ihren Oheim, die Beide natürlich der Gegenstand einer unangenehmen Aufmerksamkeit würden, wenn Sie den gewöhnlichen Weg einschlagen wollten.«

»So ist es.«

»Und in wiefern bedürfen Sie hier meiner Hilfe?«

»Ich habe die Absicht, die heikle Angelegenheit in der Stille beizulegen und bin deßhalb gezwungen mich mit der betreffenden Person in Verbindung zu setzen. Da mir meine amtliche Stellung eine persönliche Zusammenkunft für diesen Zweck nicht gestattet, so möchte ich Sie bitten die Verständigung zu übernehmen.«

»Das heißt, ich soll einem Mörder die Bedingungen mittheilen, unter denen Sie ihn laufen lassen wollen?« fragte der Baron; aber der Abscheu, welchen er in den Ton seiner Stimme zu legen sich bemühte, war kein vollkommen gelungener.

»Ganz so. Sie werden sich ganz gewiß nicht darüber wundern, daß ich gerad Ihnen diese Bitte vortrage –«

»Wie heißt der Mann?« unterbrach ihn Säumen.

»Den Namen werde ich etwas später nennen?«

»Welche Bedingungen wollen Sie ihm machen?«

»Sagen Sie erst, ob Sie gewillt sind, ihm dieselben mitzutheilen!«

Säumen wandte sich ab und trat an das Fenster. Er begriff das Verhalten Hagens vollständig und war sich nur in einer Beziehung im Unklaren. Kannte der Commissar den Mörder wirklich so genau, wie er schließen lassen wollte? Dann hatte er ganz sicher auch dem Polizeirathe Mittheilung davon gemacht, und es galt also einen Kampf nicht blos mit einem einzelnen Gegner, sondern mit zweien. Die Absicht Hagens lag klar am Tage. Er hatte von Rücksichten gegen die Dame, natürlich gegen Wanda gesprochen. Woher solche Rücksichten, wenn er nicht wünschte, die Polin zu besitzen? Jedenfalls war er dann auch von den Erbschaftsbedingungen unterrichtet und konnte sich nur in dem Falle Hoffnungen auf die Hand des Mädchens machen, wenn – doch, das mußte sich ja gleich zeigen. Jedenfalls war für den Augenblick nur in dem Falle etwas von ihm zu befürchten, wenn er abgewiesen wurde. Man mußte vor allen Oingen Zeit zu gewinnen suchen, um die geeigneten Maßregeln treffen zu können. Deßhalb wandte er sich in das Zimmer zurück und sprach:

»Ich werde mich zu der Mittheilung entschließen. Also sagen Sie Ihre Bedingungen.«

»Ich habe nur eine: Der Mann bekennt sich schriftlich mit seinem Siegel zu der That und darf dafür unangefochten mit dem, was er jetzt an Habe bei sich führt, hingehen, wo er will.«

»Ich kann unmöglich glauben, daß dieser Vorschlag das Ergebniß einer reiflichen Ueberlegung ist. Er ist gefährlich für beide Contrahenten; ich brauche das natürlich nicht weiter auszuführen Unterwerfen Sie ihn einer nochmaligen eingehenden Prüfung, und ich bin ja auch dann bereit, Ihnen meine Vermittelung zu Diensten zu stellen, hoffe aber, daß Sie auch mir zu einer kleinen Gefälligkeit bereit sind.«[638]

»Welche ist es?«

»Ich will verkaufen.«

»Verkaufen?« fragte Hagen überrascht. »Was denn?«

»Meine sämmtlichen Besitzungen.«

»Ja, dann haben Sie mich vorhin doch unmöglich verstanden!«

»Ich glaube nicht, daß ich langsam und schwer begreife, und ich wünsche sehr, daß dasselbe auch bei Ihnen der Fall sei.«

»Versuchen wir es.«

»Also ich will verkaufen, und zwar ebenfalls unter Bedingungen. Ich werde Ihnen dieselben nennen und ersuche Sie, mich zu recommandiren, wenn Sie einem Kauflustigen durch Zufall begegnen sollten.«

»Nun?«

»Die Absichten, welche ich verfolge, sind Ihnen gleichgiltig; also hören Sie: Ich verkaufe, wo möglich lieber heut als morgen. Der Käufer hat mir den vierten Theil des Werthes baar zu zahlen und bekommt dafür Quittung für den vollen Kaufschilling.«

Hagen horchte auf.

»Das wäre ein ganz acceptables Geschäft; nur fürchte ich, das es unmöglich abzuschließen ist.«

»Warum?«

»Weil ihre Braut gewisse Rechte auf ihr Eigenthum besitzt.«

»Diese Rechte besitzt sie nur für den Fall, daß ich sterbe.«

»Und gerad deßhalb dürfen Sie nicht verkaufen.«

»Doch, doch! Befragen Sie sich gefälligst bei einem sachkundigen Rechtsgelehrten,« mahnte Säumen, dem es nur darum zu thun war, Zeit zu gewinnen. Hagen erkannte wohl, daß er eine Flucht des Barons bei den obwaltenden Verhältnissen nicht zu befürchten habe und meinte nach einigen Zögern:

»Gut; ich werde mich erkundigen und Ihnen dann meine Hülfe zur Verfügung stellen.«

Er ging. Die Unterredung hatte einen ganz andern Verlauf genommen, als er beabsichtigt hatte; aber es war vielleicht so am Besten. Hier war bei nur einiger Zeit ein Vermögen zu erwerben, ein Umstand der Hagen ganz besonders interessiren mußte, da seine Familie nie wohlhabend gewesen war und er trotzdem so wenig sparsam gelebt hatte, daß die Besuche seiner Gläubiger ihn oft mehr als heilsam aufregten. Freilich durfte er wenigstens jetzt gegen den Onkel nicht davon sprechen, sondern war sogar gezwungen, den Baron in seinen Schutz zu nehmen und alles über denselben Gemeinte als irrthümlich hinzustellen. Und das war es jedenfalls, was Säumen berechnet hatte, als er dem Commissar sein indirectes Anerbieten macht.

Als dieser zum Polizeirathe zurückkehrte, trat ihm derselbe erwartungsvoll entgegen.

»Nun, welchen Erfolg hat Deine Taktik gemacht?«

»Einen sehr guten.«

»So hast Du den Baron gefangen?«

»Nichts weniger als das. Er hat mich vielmehr durch die unwiderleglichsten Beweise überzeugt, daß der Verdacht Winters ein höchst alberner ist, und das erfreut mich natürlich mehr, als wenn es mir gelungen wäre, einen Verbrecher in ihm zu finden.«

»Ich hege dieselbe Meinung und bin froh mich nicht mehr in der Gefahr einer Demüthigung zu befinden. Freilich scheint mir der Winter ein überspannter oder wenigstens romantischer Kopf zu sein, der in seinem Fache wohl keine große Carrire machen wird. Nüchternheit ist des Polizisten erste Pflicht.«

»Wenn ich seinen Brief auch jetzt noch zurückbehalte, so geschieht das natürlich nicht für ihn, sondern um dem Barone weitere Mißhelligkeiten zu ersparen. Aber ich werde ihn in der Weise beaufsichtigen, daß es ihm nicht wieder einfallen wird, in solcher Weise gegen alle Vernunft zu handeln.«

»Aber eine treffliche Gelegenheit zur Auszeichnung, sowohl in amtlicher Beziehung als auch in Hinsicht auf Deine Intentionen zur Polin, ist Dir doch entgangen, und ist um so mehr zu beklagen, als nun auch die Verlobung zwischen der Letzteren und dem Barone ihre ursprüngliche Gültigkeit behält.«

»Mir ist trotzdem nicht bange. Es herrscht nicht das mindeste gute Einvernehmen zwischen ihnen, und es wird sich schon ein Weg zum Ziele finden lassen. Ueberlaß das nur mir, Onkel!«

»Wollen es hoffen! Meiner Unterstützung bist Du sicher. Apropos, da kommt mir ein glücklicher Gedanke. Kühnheit ist das beste Mittel, sich bei Wanda beliebt zu machen; wie wäre es also, wenn Du an der Luftparthie Theil nämst?«

»Daran hätte ich nicht gedacht; jedoch Du kannst Recht haben!« meinte Hagen zögernd. »Zwar ist mein Vertrauen zu der Zuverlässigkeit des Professors kein sehr großes; aber ich will sehen, ob ich mich in den Gedanken finden kann.« –

Auch in der Wohnung des Aeronauten wurde von diesem Gegenstande gesprochen. Nach der Entfernung Hagens hatte Säumen sofort den Ersteren aufgesucht und befand sich jetzt in lebhafter Unterhaltung mit ihm.

»Du glaubst also, daß dieser Hagen uns in die Quere kommen werde?«

»Ganz sicher. Zwar hat er keine Andeutung über diesen Punkt fallen lassen; aber er ist wirklich so albern, sein Auge auf die Polin zu werfen und wird Alles thun, um sich ihr in inponirender Weise zu zeigen. Du darfst also wohl seine Meldung erwarten, daß er an der Luftfahrt Theil nehmen werde.«

»Dieser Umstand erschwert mir allerdings die Ausführung dessen, was ich Dir versprochen habe; vielleicht sogar wird es mir unmöglich, mein Wort zu halten.«

»Von einer Unmöglichkeit ist wohl keine Rede. Wenn er so unvorsichtig ist, der Begleiter Wanda's zu sein, so muß er auch die Folgen tragen.«

»Aber der Polizeirath?«

»Ich bin fest überzeugt, daß mich Hagen bei ihm vertheidigt hat, und von Deiner Vergangenheit haben Beide nicht die mindeste Ahnung. Wenn Du mit Deinen Passagieren verschwindest, so ist nicht die mindeste Ursache zu weiteren Befürchtungen. Der Polizeirath wird das Unglück seines waghalsigen Neffen beklagen und im Uebrigen mir seine freundliche Gesinnung bewahren.«

»Aber Du giebst wohl zu, daß doppelte Arbeit nicht für den zwischen uns vereinbarten einfachen Lohn gethan werden kann.«

»Du bist höchst anspruchsvoll!«

»Und Du befindest Dich in einer Gefahr, aus welcher nur ich Dich befreien kann. Sparsamkeit würde da am unrechten Platze sein.«

»Ich bin bereit, die früher bestimmte Summe zu verdoppeln.[639] Du siehst also, daß ich Deine Dienste zu schätzen weiß.«

»Und wirst wohl auch die verlangte Sicherheit nicht verweigern?«

»Welche?«

»Deine Unterschrift.«

»Du verlangst zu viel! Mein Wort muß Dir genügen.«

»Genügt mein Wort auch Dir?«

»Vollständig!«

»So leiste die Zahlung pränumerando. Wir sind dann fertig und können handeln, ohne in weitere Berührung zu kommen.«

»Das hieße, mein Geld riskiren.«

»Ach so! Und doch sagtest Du, daß Dir mein Wort genüge. So wirst Du mir erlauben, auch auf das Deinige kein bedeutendes Vertrauen zu setzen.«

»Aber ich bin Dir doch sicher.«

»Nicht im Geringsten. Ich gebe Dir meine endgültige Entscheidung: Du stellst mir einen Revers aus, in welchem unser Uebereinkommen in nackten Worten niedergelegt, das heißt, Arbeit und Lohn deutlich bezeichnet ist und erhälst ihn in dem Augenblick wieder zurück, in welchem Du mir Zahlung leistest.«

»Und wenn dieses Schriftstück in fremde Hände geräth?«

»Das geschieht nicht. Es liegt ja in meinem eigenen Interesse, die höchste Vorsicht zu bewahren. Hier ist das Schreibzeug; mach, daß wir zu Ende kommen!«

»Ich kann nicht!«

»So gehe. Ich stehe Dir nicht weiter zur Verfügung.«

»Ist das Dein letztes Wort?«

»Mein letztes.«

»So gieb her. Aber die Folgen kommen über Dich, wenn Du irgend welchen unrechten Gebrach von dem Reverse machst.«

»Sei ohne Sorge. Wir kämen Beide in die Tinte, wenn ich unehrlich sein wollte.« Er nahm das unterzeichnete Papier an sich und begleitete den Baron bis an die Thür. Dann verfügte er sich in die Expedition des Localblattes und gab eine Annonce auf, welche die Bekanntmachung enthielt, daß eines anderwärts getroffenen Engagements wegen die Aufsteigung sei nes Ballons sich um mehrere Tage beschleunigen werde und Fahrgäste sich womöglich sofort zu melden hätten.

Säumen hatte wirklich richtig voraus gesehen. Nicht nur Wanda schickte den Diener mit der Aufforderung, ihr den ersten Sitz zu reserviren, sondern auch Hagen stellte sich mit der Erklärung ein, daß er gesonnen sei, die Beschaffenheit der obern Luftschichten persönlich zu untersuchen, und da sich weiter Niemand meldete, so wurde mittelst Placatanschlag das seltene Schauspiel auf einen der nächsten Tage festgesetzt. –

Am Abende hatte die »Erheiterung« außergewöhnliche Versammlung. In der einige Meilen entfernten Provinzialhauptstadt war übermorgen Sängerfest. Der Verein hatte seine Theilnahme schon längst zugesagt und heut seine letzte Besprechung abzuhalten.

Auch Winter schlug den Weg zu dem Vereinslokale ein. Er war bei der Tante gewesen, hatte längere Zeit mit Wanda gesprochen und die Befestigung seiner Ueberzeugung, daß seine Liebe keine unerwiederte sei, mit fortgenommen. Zwar hatte er seinen Gefühlen noch keine Worte gegeben; aber aus Allem, was er that und sprach, mußte Wanda erkennen, daß sie das Ziel all seines Strebens sei, und während der ganzen, langen Unterhaltung hatte sie keine Sylbe gesprochen, welche als eine Zurückweisung seiner Huldigung hätte gelten können.

Langsam schritt er deßhalb jetzt die Straße hinab, um sich Zeit zu lassen, die Seligkeit der verflossenen Stunde noch einmal durchzukosten. Da kam eine leicht verhüllte Gestalt an ihm vorüber geschritten und blieb hinter ihm stehen.

»Emil!«

»Ja. Wer ist's?«

Es war sein Bruder, der ihn hier erwartet hatte.

»Fast hätte ich Dich nicht erkannt,« sprach dieser. »Dein sonst so rascher Gang hat heut Abend ja ein merkwürdig langsames Tempo angenommen. Hast Du so viel Ursache zum Nachdenken?«

»Zum Nachfühlen würde vielleicht richtiger sein. Ich war bei Wanda.«

»Ich beneide Dich, daß Du Zutritt zu ihr nehmen darfst, während ich von den Verhältnissen gezwungen bin, mich zu verleugnen.«

»Du wirst später reichlich Gelegenheit haben, das Versäumte nachzuholen. Was thust Du hier auf der Straße?«

»Ich wollt Dich sprechen und wußte, daß Du hier zu treffen sein werdest. Hast Du mit Wanda über die Luftfahrt gesprochen?«

»Nein.«

»Sie hat sich vorhin ihren Platz defintiv bestellt.«

»Davon weiß weder die Tante noch ich Etwas. Sie hat jedenfalls geschwiegen, um jedem Einwande vorzubeugen. Was mich betrifft, so werde ich kein Wort dagegen sprechen.«

»Das ist doch wohl nicht Dein Ernst. Du kennst ja die Geschichte des Professors, den ich jedenfalls recht bald beim Schopfe nehmen werde!«

»Freilich kenne ich sie; aber er wird von bedeutenden Fachmännern als ein tüchtiger Aeronaut anerkannt und hat noch niemals Malheur gehabt. Ich würde ohne Sorge mit ihm fahren, und was Wanda betrifft, so wünsche ich allerdings, daß sie ihrem Vorhaben entsagen möchte; aber wie ich sie kenne, wird sie durch jeden Widerspruch in ihrem Entschlusse nur bestärkt werden. Sie ist durch das obstinate Wesen Säumens gewöhnt worden, ihm so oft wie möglich die starke Seite zu zeigen.«

»Aber ich bitte Dich wirklich, sie von der Fahrt abzuhalten; es muß sich ja irgend ein Vorwand finden lassen. Ich habe nämlich einige Ursache zu glauben, daß der Professor Böses im Schilde führt.«

»So sprich.«

»Du weißt, daß ich Hagen eine Beaufsichtigung meiner Schritte zutraute, und das ist mit vollem Rechte geschehen. Er hat sich von dem Postsekretair meinen an den Staatsanwalt gerichteten Brief aushändigen lassen und ihn seinem Onkel vorgelesen. Darauf ging er zum Baron, jedenfalls in der Absicht, diesen zu einem vortheilhaften Uebereinkommen zu bewegen.[640]

Ich weiß nämlich, daß er gewisse Intentionen auf Wanda verfolgt. Und kurze Zeit nachher kam Säumen zu meinem jetzigen Prinzipal, mit welchem er längere Zeit verhandelt hat. Die Unterredung wurde leise geführt, und es waren mir nur die etwas lauter gesprochenen Schlußworte ›Sei ohne Sorge; wir kämen Beide in die Tinte, wenn ich unehrlich sein wollte‹, verständlich. Aus ihnen aber läßt sich schließen, daß sie irgend ein Uebereinkommen getroffen haben, und es liegt die Sache so: Säumen hat nach Deiner Ansicht jene Sprengung im Felsenbruche hervorgebracht; es ist ihm also leicht etwas Aehnliches zuzutrauen. Er ist ja der Erbe Wanda's. Hagen hat ihn dummer Weise gesagt daß er er ihn kennt; sein Verschwinden muß dem Baron also erwünscht sein. Beide, Hagen und Wanda, fahren mit dem Professor, der ein entsprungener Züchtling ist und früher Helfershelfer Säumens war, mit dem er jetzt geheime Zusammkünfte pflegt, – folglich –?«

»Es will mir schwer werden, so schwarz zu sehen wie Du; denn ich kann auch den schlechtesten Menschen einer That, wie Du sie andeutest, nicht für fähig halten. Sie ist nicht nur fürchterlich, sondern auch über alle Maßen verwegen, da sie in der Oeffentlichkeit vorgenommen werden müßte. Glücklicher Weise ist das, was Du denkst, nur eine Folge Deiner Combination, und ich hoffe sehr, daß Du Dich irrst.«

»Auch ich wünsche es. Aber warnen mußte ich Dich.«

»Ich werde mein Möglichstes thun, Wanda von ihrem Vorhaben zurück zu bringen. Freilich wird das, wie ich sie kenne, seine Schwierigkeiten haben. Lieber wird sie unerweichbar erscheinen, als sich vor Säumen eine Blöße geben wollen. Ist das der Fall, so werde ich zu dem Aeußersten schreiten müssen.«

»Wozu?«

»Ich werde die ganze Luftfahrt unmöglich machen.«

»Das wird schwerlich zu bewerkstelligen sein.«

»Nicht so sehr. Wenn der Professor verhaftet wird, so kann natürlich aus dem ganzen Unternehmen nichts werden.«

»Dieser Schritt würde sehr zu überlegen sein.«

»Die Beweise gegen den Mann sind so klar und unwiderleglich, daß wir die Arretur nicht nur recht gut verantworten könnten, sondern sogar eigentlich schon längst zu ihr verpflichtet gewesen wären.«

»In dieser Beziehung habe ich auch keine Sorge. Aber den Baron haben wir noch nicht fest, und dieser würde sofort nach der Kunde von dem Schicksale des Professors Maßregeln ergreifen, welche ihn unsern Händen entzögen.«

»Dann verhaftet man alle Beide zugleich. Der Eine wird den Andern verrathen.«

»Darauf darf ein vorsichtiger Polizist nicht seine Rechnung setzen. Und selbst dann, wenn man es riskiren wollte, müßte doch die nöthige Rücksicht auf die Tante und Wanda genommen werden. Denke, in welche Lage sie gebracht würden, wenn die Angelegenheit nicht so discret wie möglich beigelegt würde!«

»Das ist allerdings ein Punkt, welcher mir im Augenblicke entgangen ist. Doch werde ich sehen, was sich thun läßt und Dich dann von dem Erfolge meiner Bemühung benachrichtigen.«

Er reichte dem Bruder die Hand und setzte den unterbrochenen Gang weiter fort. Als er in das Local trat, in welchem die Mitglieder des Vereins um die Tafel versammelt saßen, erhob sich Gräßler von seinem Stuhle und rief mit komischem Pathos:

»Lupus in fabula! das heeßt nämlich off Deutsch, so viel ich von meinen Studentenjahren her noch weeß: ›Da is der Kerl!‹ Mach, daß Du herkommst. Ohne unsern Vorsteher können wir doch keenen gültigen Beschluß fassen. Oder willste etwa nich mitmachen?«

»Mitmachen jedenfalls. Ich darf die Erheiterung doch nicht im Stich lassen. Ob ich aber schon Vormittags mit Euch abfahren kann, das ist noch nicht zu bestimmen.«

»Wieso? Warum?« fragte es im Kreise. »Ohne Dich gehen wir nicht fort!«

Er nahm Platz, wehrte die drängenden Fragen von sich ab und brachte bald die geordnete Verhandlung in Gang. Nach derselben winkte er Gräßler und Thomas zu sich.

»Kann mirs denken,« meinte der Letztere; »warum Du nich schon früh mitfahren wirst. Wirst Dich zur Tante setzen sollen.«

»Zur Tante?«

»Nu freilich. Oder hat Dir Wanda Nichts gesagt?«

»Nein.«

»Guk, da bin ich diesmal gescheidter wie Du. Es is doch gut, wenn mer so een unterrichtetes Kammerkätzchen zur Liebsten hat, mit der die Herrin vertrauter is als mit ihrem Cousin.«

»Laß hören, was Du hast!«

»Wanda fährt mit, da ziehen zehn Pferde keenen Strang. Se will ihrem Verlobten beweisen, daß se Herz hat. Weil se aber weeß, daß Ihr alle dergegen seid, hat se Euch gar nicht erst um Erloobniß gefragt, sondern eenfach bestimmt, daß ihre Mutter mit dem Barone und dem Kutschgeschirr unten off der festen Erde denselben Weg machen soll, den se im Ballon droben in der Luft einschlägt. Du weeßt doch, daß er gerad da wieder niedergehen soll, wo das Sängerfest is. Es is das so ne kleene Geldspeculation von dem Professor. Meine Herzallerliebste is natürlich ganz außer sich vor Freede, daß se mal alleene derheeme sein kann und hat mir gute Worte gegeben, dazubleiben.«

»So! Und was wirst Du thun?«

»Ich weeß es wirklich noch nich. Das Sängerfest möchte ich nicht versäumen; aber dem Mädel kann ich doch die Freede ooch nich verderben.«

»Vielleicht läßt sich die Sache arrangiren, wenn überhaupt etwas aus der Fahrt wird. Ich glaube nicht, daß die Baronin ohne weibliche Bedienung ihre Wohnung verlassen wird. Schließe Dich also nur immer den Andern an, und laß mich für das Uebrige sorgen Ich weiß noch nichts[654] Gewisses: aber es ist leicht möglich, daß übermorgen Etwas passirt, wobei ich Eure Hilfe brauche. Haltet Euch also zu mir, sobald ich ankomme und gebt bis dahin mit Acht auf den Baron, den Professor und meinetwegen auch auf den Polizeicommissar Hagen, der bei seinem Onkel wohnt. Das wollte ich Euch noch sagen, ehe ich nach Hause gehe. Gute Nacht.« –

– Der Tag des Sängerfestes war gekommen und mit ihm eine ungewöhnliche Aufregung unter der Bevölkerung der Stadt. Wanda hatte die Vorstellungen der Ihrigen mit dem Bemerken von sich gewiesen, daß sie sich nur lächerlich machen würde, wenn sie noch in der letzen Stunde zurückträte.

Am Abend vorher war der Professor in einem öffentlichen Locale mit der Behauptung hervorgegangen, daß er es bei günstiger Luftströmung mit der Schnelligkeit eines Bahnzuges aufzunehmen gedenke. Trotz des allgemeinen Zweifels war er bei dieser Behauptung geblieben und hatte sogar mehrere Wetten angenommen, welche ihn von den Gegnern seiner Meinung angeboten wurden.

In Folge Dessen hatte man einen Extrazug bestellt, welcher bestimmt war, im Augenblick des Aufsteigens abzufahren und zugleich denjenigen Sängern, welche bis dahin zurückbleiben wollten, Gelegenheit zum Fortkommen zu bieten.

Noch Andere hatten gemeint, den Ballon mit einem schnellfüßigen Gespann schon ausstechen zu können und versprochen, mit ihrem Geschirr an der Wettfahrt Theil zu nehmen. Zu ihnen gehörte auch der Baron von Säumen, welcher an der Seite der Baronin von der Equipage derselben Gebrauch machen wollte.

Der Platz, auf welchem der Ballon zum Füllen bereit lag, war von einer Barrière umgeben, und der Gehülfe des Aeronauten hatte alle Mühe, die Menschenmenge, welche sich schon am Vormittage hier versammelt hatte, in der nöthigen Entfernung zu halten. Nicht blos das noch nie gesehene Aufsteigen eines wirklichen Luftschiffes von bedeutender Größe war es, was die Schaulustigen herbei zog, sondern vor allen Dingen der Umstand, daß die wilde Polin ihren Ungewöhnlichkeiten heut die Krone aufsetzen und mitfahren wollte.

Deshalb fiel es auch gar nicht auf, daß ihr Verlobter zugegen war und im lebhaften Gespräche mit dem Professor innerhalb des freien Platzes auf und ab prominirte. Jedenfalls erwartete er die Prüfungscommission, welche im polizeilichen Auftrage die Sicherheit des Ballons zu untersuchen hatte.

»Also die Hälfte der Summe hast Du und den gefährlichen Revers auch. In welcher Weise wirst Du die Sache nun ausführen?«

»Erst hatte ich die Absicht, den Balast auf einmal fallen zu lassen und so ein plötzliches und rapides Auffliegen des Ballons in jene Regionen zu veranlassen, wo der Tod des Menschen unvermeidlich ist.«

»Und der Deinige mit.«

»Doch nicht. Ich hätte mich natürlich des Fallschirmes bedient.«

»Eine gefährliche Sache!« sprach Säumen; aber im Herzen wünschte er Nichts mehr, als daß diese gefährliche Sache versucht werde. Freilich war der Professor in dem Besitze jenes Papieres, welches nicht in fremde Hände kommen durfte. Es lag also sehr im Interesse des Barons, daß der Luftschiffer ohne Unfall wieder niederkomme. Er fuhr also fort:

»Du hast Dich anders besonnen?«

»Jawohl. Ich werde die beiden Leute einfach fallen lassen.«

»In welcher Weise?«

»Ich habe die letzte Nacht durch an einer Vorrichtung gearbeitet, welche mir das Experiment sehr leicht macht. Ich steige, um nicht Theil an dem Schicksale der Andern zu nehmen, in das Netzwerk und habe dann nur an einem Seile zu ziehen, um die Gondel zu einer raschen, einseitlicher Senkung zu bringen, auf welche die Darinsitzenden nicht vorbereitet sind und durch sie mithin ausgeschüttet werden.«

»Dann aber fliegst Du in jene Regionen, von dener Du vorhin sprachst; denn der Palast wird mit ausgeschüttet werden.«

»Das ich dumm wäre! Der ist in der unteren Abtheilung der Gondel so wohl befestigt, daß er mir nicht verloren geht.«

»Und dann? Was wird aus den Wetten?«

»Du begreifst wohl, daß ich dieselben nur eingegangen bin, um allen Verdacht zu vermeiden. Will ich sie gewinnen, so muß ich noch vor den Andern am Rendezvous eintreffen. Werde ich aber durch den Unfall in eine andere Richtung verschlagen, so wird man denselben nicht mir zur Last legen. Auf die dabei statthabenden Vorfälle wird es ankommen, ob auch ich verschwinden muß.«

»Ich muß das Deiner eigenen Klugheit überlassen. Wo wir uns treffen, weißt Du. Die andere Hälfte der Summe wirst Du gegen die Rückgabe des Reverses erhalten. Verwahre ihn gut. Wo hast Du ihn?«

»Natürlich bei mir.«

»Aber wenn Dir ein Unglück begegnet!«

»Habe keine Sorge; ich bin meiner Sache gewiß. Zurücklassen durfte ich ihn nicht, da ich vielleicht in die Nothwendigkeit versetzt bin, meine hierbleibenden Effecten aufzugeben. Auf diese Weise werde ich zugleich meinen Gehülfen los, der mir mit seiner Kenntniß meiner früheren Verhältnisse höchst lästig geworden ist.«

»Kennt er mich?«

»Nein. Er scheint sonst ein sehr beschränkter und gutmüthiger Kerl zu sein. Dort kommen die Herren der Commission. Sie untersuchen den Ballon zwei Male, jetzt und kurz vor dem Aufsteigen. Jetzt ist das Tauwerk zu sehr verwickelt, als daß sie Etwas bemerken könnten; aber bei der nächsten Besichtigung, während welcher Alles an seiner Stelle und stramm angezogen ist, dürfte es möglich sein, daß Ihnen meine Vorrichtung nicht ganz unentdeckt bleibt. Ich werde, ehe ich den Anker hebe, Dich durch ein Zeichen benachrichtigen, ob das Werk gelingen wird.«

»Ich traue den Leuten keinen großen Scharfblick zu. Sie sind nur ihre Vier: der Polizeirath ein alter Seilermeister, der jedenfalls die Festigkeit des Netzwerkes prüfen soll, der Bürgermeister und ein Korbmacher zur Besichtigung der Gondel. Es ist lächerlich und kann nur in solch einem Krähwinkel vorkommen! Aber wer kommt da noch?«

»Hagen, mein Passagier, und an seiner Seite ein Fremder, den ich nicht – doch halt, das ist ja ein Jude aus der Residenz, ein reicher Kauz, der gern in dunklen Geschäften macht! Ich habe ihn bei meinem Aufenthalte dort auch besuchen müssen. Was wird der hier wollen?«

»Wir werden ja sehen.«[655]

Die Herren begrüßten einander, und während die vier zuerst Angekommenen mit dem Professor an die Besichtigung gingen, trat Hagen mit seinem Begleiter zu Säumen.

»Der Herr Banquier Levi Blumenbach aus der Hauptstadt, dessen Besuch ich mir erbeten habe, um bei unserem Kaufunternehmen von seinem Credite Gebrauch zu machen.«

Die Stirn des Barons zog sich in tiefe Falten. Er hatte das Anerbieten ausgesprochen blos um Zeit zu gewinnen, und nun kam dieser Commissar grad in dem Augenblicke mit einem obscuren Menschen, dessen Mitwissenschaft von den übelsten Folgen sein konnte.

»Ich bin überrascht, zu sehen, daß Sie in dieser noch sehr fraglichen Angelegenheit ganz ohne meine Kenntniß entscheidende Schritte thun, Herr Commissar! Jedenfalls ist heute nicht der Tag zu geschäftlichen Verhandlungen; morgen aber werde ich ihnen zur Verfügung stehen.«

Die Vorsicht gebot ihm, diesem Verweise nicht auch noch eine Unhöflichkeit hinzuzufügen. Er blieb deßhalb bei den beiden Männern stehen, um zugleich dem Juden zu imponiren und so späteren Eventualitäten vorzubeugen. Da schritt der Bruder des Essenkehrers über den Platz und wurde von dem Handelsmanne erblickt.

»Wer soll sein dieser Mann, der da in Verkleidung geht vorüber? Ist mir doch, als kleide ihn besser die Uniform, weil er ist der gefürchteste Polizist in der Residenz und heißt Winter!«

Sofort trafen sich die Blicke der beiden Andern. Das Gesicht des Barons war erdfahl geworden; denn er brachte die Anwesenheit dieses »gefürchteten« Mannes sofort in Verbindung mit sich selbst. Jedenfalls mußte es ein wichtiger Grund sein, der ihn bestimmte, sich von dem Professor, dessen Vergangenheit er kannte, als Gehülfen engagiren zu lassen. Dieser Mensch, welchen noch kurz vorher der Aeronaut einen »beschränkten und gutmüthigen Kerl« genannt hatte, war mehr zu fürchten als die Andern zusammen. Hier galt es rasches und zugleich vorsichtiges Handeln.

Auch Hagen war von der unerwarteten Bemerkung seines Begleiters nicht sehr erbaut. Säumen mußte natürlich ein Einverständnis vermuthen, und in Folge davon konnte leicht der prachtvolle Handel verloren gehen. Er entgegnete also mit der möglichsten Gelassenheit:

»Sie irren sich. Winter ist mein Untergebener; ich weiß also bestimmt, daß hier nur eine kleine Aehnlichkeit vorliegt. Der Mann ist Gehülfe des Luftschiffers.«

Säumen aber ließ sich nicht täuschen. Es fiel ihm sofort die Familienähnlichkeit des Betreffenden mit dem verhaßten Schornsteinfeger auf, der damals die Anzeige in Beziehung des Felsenbruches gemacht hatte. Ferner erinnerte er sich der Begegnung am Bahnhofe und des erst jetzt ihm verständlichen Winkes, den der eine Bruder dem Andern gegeben hatte. Beide waren der Baronin verwandt – er wagte nicht, weiter zu schließen; aber rasch, sehr rasch mußte jetzt gehandelt werden.

Zunächst war es nothwendig, sich zu überzeugen, wie weit das Einverständniß der beiden Polizisten reiche, und sodann war die nöthige Summe zu gewinnen, sich der Gefahr entziehen und an einem unzugänglichen Orte angenehm situiren zu können. Jedenfalls hatte der Jude Geld bei sich, und wenn mit vorsichtiger Kühnheit verfahren wurde, so konnte auf die Besitzung zwei Mal, erst hier und dann am Orte selbst bei irgend einem Bankhause Geld gezogen werden. Er that also, als sei er vollständig beruhigt und lud, nachdem das günstige Resultat der Besichtigung abgewartet war, die Beiden ein, das Frühstück in seiner Wohnung einzunehmen.

Das Erbleichen Säumens war nicht unbemerkt geblieben, sondern der Gegenstand seines Schreckes selbst hatte es scharf beobachtet. Er wußte genau, daß er dem Juden bekannt sei und ahnte sofort den Inhalt der Mittheilung, die dieser gemacht hatte. Mit gewohnter Ruhe überlegte er die Folgen derselben nach allen Richtungen hin und kam zu dem Ergebnisse, daß für den Augenblick nichts zu fürchten sei. Aber als er unter den Anwesenden des Schmiedes ansichtig wurde, trat er zu ihm.

»Herr Gräßler, wollen Sie meinem Bruder eine dringende Botschaft bringen?«

»Warum denn nich? Her dermit!«

»Der Baron von Säumen ist jetzt mit zwei Herren in seine Wohnung gegangen. Von einem derselben wird er sich eine Summe Geldes leihen und damit die Flucht ergreifen.«

»Halt, da muß ich doch gleich – warten Se, ich will rasch loofen –!«

»Nur Geduld, mein Lieber; gar so eilig ist es noch nicht. Es ist das vielmehr nur der eine Fall, welchen ich setze, neben welchem noch andere möglich sind. Und selbst, wenn meine Vermuthung die richtige ist, wird sich der gnädige Herr vorher noch an der Wettfahrt betheiligen. Mein Bruder wird wahrscheinlich mit ihm im Wagen sitzen. Er soll ihn nicht aus den Augen lassen und sich für den Nothfall mit einer Waffe versehen. Kurz vor der Abfahrt werde ich unbemerkt nahe treten und auf dem Kofferbrete Platz nehmen. Sie fahren mit Thomas per Extrazug und halten sich nach dem Aussteigen immer in unserer Nähe. Es ist möglich, daß diese Vorsichten alle unnöthig sind; aber ich kann ihnen nicht entsagen, da ich Rücksicht zu nehmen habe auf die Unzulänglichkeit meiner Beweise und die Distinction der Baronin. Also gehen Sie.«

»Wird besorgt. Mir wärs am Liebsten, wenn er wirklich ausreißen wollte; daß wäre so een Spaß nach meinem Geschmacke!« –

Die Stunde des Aufsteigens war gekommen. Vor den Waggons des Extrazuges hielt die Locomotive und stieß mit schnaubenden Lauten die überflüssigen Dämpfe aus. Sämmtliche Fenster der Wagenreihe waren geöffnet, und in jeder Oeffnung hielten mehrere Köpfe erwartungsvollen Ausguck. Nur Einer saß in seiner Ecke und kümmerte sich nicht im Mindesten um die Dinge, welche draußen vor sich gehen sollten.

Es war der Jude Levi Blumenbach, welcher heut das glänzendste Geschäft seines Leben abgeschlossen hatte. Die Zahlen wirbelten ihm im Kopfe herum, und um sein Hirn nicht von der Schwere der Prozente erdrücken zu lassen, mußte er der überschwenglichen Freude seines Herzens Ausdruck geben.

»Darf ich fragen, ob der Herr ist hier aus dem Städtchen?« wandte er sich an dem Gegenübersitzenden. Es war Gräßler, welcher neben Thomas Platz genommen hatte.[656]

»Freilich bin ich von hier. Warum?«

»Ist der Herr bekannt mit den Persönlichkeiten, welche es giebt an diesem Orte?«

»Een Bischen. Mit wem denn, zum Beispiel?«

»Kennen Sie den Baron oder Fürst von Säumen, welcher ist ein prächtiger und charmanter Herr und wiegt viele tausend Pfund in Gold?«

»Na und ob! Der is mir bekannt wie mein Ambos[669] off dem ich herumhämmern möchte, wenn ich ihn nur sehe. Er is es werth, daß mer ihn in Gold faßt.«

»Was werden Sie sagen, wenn Sie hören, daß ich hab gekauft vor einer Stunde sein ganzes Fürstenthum!«

»Wa – wa – was er hat verkooft? An wen denn; an Sie?«

»Nicht direkt an mich, sondern an den Herrn Polizeicommissar Hagen, welcher auch ist ein Herr, der zu machen versteht Geschäfte.«

»So so! Wollen Sie auf das Sängerfest?«

»Ja. Ich darf mir gönnen heut ein Vergnügen und habe mir gekauft eine Karte für den Zug, welche ist sehr theuer. Aber ich will sehen, wer ankommt eher, mein Freund der Fürst, oder mein Freund der Herr Baron von der Polizei oder ich. Zwar bin ich gewesen zu vorsichtig, um zu machen eine Wette; aber ich werde gewinnen dieselbe und haben viele Plaisir.«

Zwischen dem vor der Stadt liegenden Bahnhof um dem freien Patze, auf welchem sich eine zahlreiche Menschenmenge um den Ballon drängte, waren die Geschirre, welche Theil nehmen wollten, aufgefahren. In dem Ersten derselben saß die Baronin mit der Zofe. Säumen und Winter hatten den Vordersitz inne.

Es hatte das Zartgefühl der alten Dame verletzen wollen, in eigener Person an der Fahrt Theil zu nehmen. Aber da Wanda auch durch die triftigsten Gründe und die dringendsten Vorstellungen nicht zu bewegen gewesen war, so gebot ihr das Mutterherz, in der einzig möglichen Weise an dem gefahrvollen Unternehmen sich zu betheiligen. Winter las in den angsterfüllten Zügen der Tante die Gefühle, welche sie bestürmten; er wußte, welch ein Opfer sie brachte, ihre Person und ihren geachteten Namen einer Art Schaustellung blos zu geben und fühlte zum ersten Male einen wirklichen und ernstlichen Zorn gegen das Mädchen, dessen Eigenthümlichkeit er bisher immer entschuldigt hatte.

Die Auffüllung des Ballons war glücklich beendet. Zwar hatte er sich noch nicht bis zur größtmöglichsten Ausdehnung aufgebläht; aber er mußte diese Ausdehnung bei dem Eintritte in höhere und in Folge dessen auch leichtere Luftschichten erreichen und bot dann jedenfalles einen stolzen Anblick. Bei der zweiten Besichtigung war nichts Sicherheitswidriges bemerkt worden, und so konnte das Einsteigen der beiden Passagiere vor sich gehen.

Der Professor hatte die eingesammelten Gelder in Empfang genommen und dem Gehülfen einen kleinen Theil davon mit der Weisung, seine Rückkehr hier abzuwarten, eingehändigt. Jetzt hing er in den Seilen und prüfte die Luftströmung. Diese war eine durchaus günstige und versprach ein rasches Vorwärtskommen.

Jetzt stieg er nieder, trat an den Rand der Gondel und winkte zum Einsteigen. Wanda stieg, seine Hülfe abweisend, die kurze Strickleiter hinauf und nahm Platz ohne der Umgebung einen Blick der Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam dagegen ging es bei Hagen. Er schien seinen Entschluß schon jetzt zu bereuen, seine Blicke waren unsicher, und seine Stimme hatte einen zitternden Klang, als er, sich neben Wanda setzend, sprach:

»Ich konnte eine Dame von ihren Eigenschaften, Fräulein von Chlowicki, der Unbeständigkeit der Luft nicht ohne Schutz anvertrauen und hoffe deßhalb, daß Sie mir eine freundliche Gesinnung bewahren.«

»Sie erlauben, daß ich gegen Ihre Gesellschaft Nichts einzuwenden habe, da die Mitfahrt einem Jeden gegen Erlegung des Preises gestattet ist. Was den Schutz betrifft, so wird sich ja wohl zeigen, wer dessen bedarf.«

Jetzt wurde der Anker gelöst und die festhaltenden Seile gelockert. Der Ballon stieg eine Strecke in die Höhe, wiegte sich majestätisch hin und her und zerrte an dem einen Taue, an welchem er, von Menschenhänden gehalten, noch hing. Nochmals prüfte der Professor die Luft, dann wandte er sich der Richtung zu, in welcher der Wagen der Baronin stand und gab mit der Hand ein zustimmendes Zeichen, welches von Säumen erwidert wurde. Darauf winkte er, das Seil loszulassen.

Für die Menge der Umstehenden hatte das gegebene Zeichen die sehr natürliche Bedeutung, daß er die anvertraute Braut und Tochter behüten werde. Anders aber war es bei Emil Winter.

Er traute Säumen das Schlimmste zu, hatte sein Mienenspiel beobachtet und bemerkt, mit welcher Spannung sein Auge auf Wanda geruht und dann befriedigt aufgeblitzt hatte, als sie eingestiegen war. Und als er den Zug diabolischer Freude bemerkte, den der Baron trotz aller Anstrengung nicht unterdrücken konnte, als der Professor das Zeichen gab, da leuchtete in ihm die Ueberzeugung auf, daß die Geliebte seiner Seele in einer schrecklichen Gefahr schwebe.

Er sah nur noch, daß sein Bruder unbeachtet von den Umstehenden, sich auf das Kofferbret setzte; dann sprang er mit einem Satze aus dem Wagen, brach sich mit fast übermenschlicher Kraft durch die Menge Bahn und langte gerade in dem Augenblicke bei den Haltenden an, als dieselben das Tau los ließen. Es war die höchste Zeit gewesen, und mit beiden Händen griff er zu.

Das Luftschiff stieg, als es nicht mehr an die Erde gebunden war, mit einem einzigen raschen Rucke mehrere hundert Fuß hoch empor, dann schwebte es scheinbar still an einem Punkte, wie um die Richtung zu suchen, die es einzuschlagen habe, und endlich bewegte es sich, von dem herrschenden Luftstrome begleitet, vorwärts.

Schon längst hatte die Musik begonnen; aber so stark das Orchester und so rauschend das Stück auch war, welches gegeben wurde, sie vermochte doch nicht den Schrei des Entsetzens zu übertönen, welchen die Menge ausstieß, als sie einen Menschen so hoch da droben an dem Seile hängen sah. Das Letztere war nicht mehr zu erkennen, und es schien, als schwebe der Mann frei in der Luft und werde jeden Augenblick herabstürzen. Vor Bestürzung vergaß der Maschinist, den Zug in Bewegung zu setzen, und ebenso hielt auch die Reihe der Wagen noch still.

Die Baronin war in den ihrigen zurückgesunken und bedeckte das Angesicht mit dem Taschentuche. Sie hatte sich die schnelle Bewegung ihres Neffen nicht erklären können, war ihm mit dem Augen gefolgt und wußte also, daß er es war, der in so furchtbarer Lage schwebte. Da ertönte neben ihr eine gebieterische Stimme, die sie nicht kannte.

»Kutscher fahr zu, was die Pferde laufen können und halte Dich wo möglich immer unter dem Ballon!«

Sie blickte auf. Vor ihr saß der junge Mann, welcher ihr kürzlich als Gehülfe des Professors vorgestellt worden war. Während die Pferde im Carriere davon flogen, wandte er sich mit einem ruhigen Lächeln, welches ein Beweis seiner ungewöhnlichen Selbstbeherrschung war, an die Insassen des Wagens.

»Verzeihung, Herr Baron wenn ich aus Familienverhältnissen[670] das Recht herleite, auch ohne vorherige Aufforderung den Platz für mich in Anspruch zu nehmen, welchen mein muthiger Bruder verlassen hat. Und Verzeihung, meine gnädige Tante, daß ich erst jetzt in einem so kritischen und unpassenden Augenblicke mich Ihnen in meiner wahren Eigenschaft vorstellen darf. Ich bin der Polizist Winter, der Bruder Emils.«

»Mein Gott, ich bin zu verwirrt, als daß ich mich fassen und das Passende sagen könnte! Warum ist er mit in die Höhe gegangen?«

»Ich weiß es nicht; aber ich vermuthe den Grund. Jedenfalls werden wir von ihm das Nähere erfahren. Er hat nicht aus Vermessenheit gehandelt und steht unter dem Schutze Gottes, der ihn uns wiedergeben wird. Wir wollen uns fassen und das Uebrige in einer ruhigeren Stunde besprechen.«

Im ersten Augenblicke wußte der Baron nicht, was er von seiner gegenwärtigen Lage denken solle. Es war ihm, als sei er nun verloren, da er den Gefürchteten neben sich sitzen sah; aber bei der unwillkürlichen Bewegung, welche er mit der Hand nach dem Herzen machte, fühlte er die beiden Revolver, welche er für alle Fälle heut in die Brusttasche seines Rockes gesteckt hatte, und diese Berührung gab ihm sofort die gewohnte Fassung wieder.

Die Drei da oben in der Luft waren verloren; das war sicher. Und hier unten gab es außer dem Juden, der aber nicht sehr zu fürchten war, nur diesen einen Menschen, der ihm Gefahr bringen konnte. Sollte nicht auch er unschädlich gemacht werden können? Säumen hatte sein Gewissen nie um Rath gefragt, wenn es eine That galt, die ihm von der Sorge für seine eigene Person geboten wurde, und so war er auch jetzt nicht zu Scrupeln geneigt. Der Tag war noch lang; man mußte abwarten, was er bringen werde.

Indessen schwebte der Ballon ruhig weiter, ruhiger als seine Insassen waren. Wanda hatte sich nach unten gewendet, um die Gegend aus der Vogelperspective zu betrachten und dabei den an dem Seile Hängenden zuerst bemerkt.

»Um Gottes Willen, Herr Professor, es hat sich Jemand in dem Taue verwickelt und ist mit in die Höhe gezogen worden!« rief sie erschrocken.

Der Angeredete beugte sich über die Brüstung der Gondel hinaus, und auch Hagen schickte sich an, diese Bewegung zu machen, zog aber den Kopf sofort wieder zurück, weil er sich vom Schwindel erfaßt fühlte.

»Der Mensch ist verloren!« sagte der Luftschiffer nach einem beobachtenden Blicke in die Tiefe. »Zwar scheint es, als ob er sich in die Höhe turnte; aber seine Kraft wird bald zu Ende gehen!«

»Wir müssen helfen, müssen ihn retten, müssen das Seil einziehen!«

»Das wird kaum statthaft sein, denn durch dieses Experiment müßte die Gondel sich auf die Seite neigen, und wir selbst kämen dabei in die größte Gefahr.«

»Daran dürfen wir nicht denken. Vorwärts zugegriffen!«

Der Professor erfaßte ihren Arm. Seine Passagiere sollten den festen Erdboden nicht lebendig wieder berühren; ein Dritter mußte ihm also unbequem sein. Es blieb sich ja ganz gleich, ob derselbe jetzt gleich oder mit den beiden Anderen den tödtlichen Sturz machen werde.

»Lassen Sie, Fräulein! Wir werden Nichts weiter erreichen, als daß das Seil in schwingende Bewegung geräth und den Unglücklichen abschleudert. Warten wir ab, wie weit seine Kräfte reichen!«

Sie mußte sich, wenigstens einigermaßen von diesem Grunde überzeugt, fügen und lehnte sich vornüber, um die Anstrengungen des Mannes zu beobachten.

Obgleich das wirbelnde Drehen des Taues seine Bemühungen bedeutend erschwerte, griff er sich doch Hand um Hand stetig und gleichmäßig vorwärts, als habe er auf dem Turnplatze eine Seilübung vorzunehmen. So kam er näher und immer näher, und als er jetzt das Angesicht nach Oben kehrte, um die noch zurückzulegende Entfernung abzumessen, erkannte sie ihn.

»Emil, mein Gott, es ist Winter! Wir müssen ihn retten, Professor, sonst ist er verloren.« Abermals machte sie Miene zuzugreifen, und die gräßlichste Angst prägte sich ihrem Angesichte auf. Aber mit einer gebieterischen Handbewegung hielt der Aeronaut sie zurück.

»Sie wissen, Fräulein, daß dem Capitäin eines Schiffes der unbedingteste Gehorsam zu leisten ist, und dieses Gebot findet auch hier bei uns seine strenge Anwendung. Ich bin es, auf dem alle Verantwortlichkeit ruht, und ich muß am Besten wissen, was zu thun ist.«

»Nun gut; dann muß ich gehorchen; aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen!«

»Die ich sehr leicht ablegen kann. Wir können Nichts thun, wenn er nicht selbst sich rettet.«

Winter hatte sich jetzt das Seil um die Beine geschlungen und ruhte, in halb sitzender, halb hängender Stellung aus. Als er bemerkte, daß Wanda's Auge auf ihn gerichtet sei, ließ er mit der Rechten los, um einen grüßenden Wink zu geben, und das sorglose Lächeln, welches dabei in seinen Zügen lag, überzeugte sie, daß sie seiner Kraft vertrauen könne. Seine bald fortgesetzten Bewegungen waren so frisch, als ob er sie erst jetzt beginne, und in wenig Augenblicken befand er sich an der Gondel.

»Tretet auf die andere Seite, sonst geht das Gleichgewicht verloren!« rief er und befand sich einige Secunden später im Innern des Geflechtes.

Nie in ihrem Leben hatte Wanda eine Angst, wie die soeben gehabte ausgestanden. Als sie den Cousin in so entsetzlicher Lage erblickte, war ihr die Liebe zu ihm in ihrer ganzen, bisher noch nicht bekannten Größe ins Bewußtsein getreten, und jede Fiber ihres Innern hatte gebebt bei dem Gedanken an seinen Verlust, an welchem sie selbst mit ihrem harten, unerweichbaren Sinne die Schuld trug. Aber als er sich jetzt munter herumschwang, löste sich diese Angst in einen Schrei der Freude auf, und sie konnte nicht anders, sie mußte die Arme um ihn schlagen und ihr Köpfchen fest, fest an seine tiefathmende Brust legen.

»Emil, mein lieber, lieber Emil!« flüsterte sie leise, mit thränendem Auge zu ihm aufblickend. »Hat Dich das Seil aus dem Wagen gerissen?«

»Nein, Wanda,« entgegnete er ebenso leise. »Ich komme freiwillig, um in einer Dir wahrscheinlich drohenden Gefahr bei Dir zu sein.«

»Du hast geglaubt, ich werde hier oben doch noch Angst bekommen?«

»Nein, das ist es nicht. Es wird sich zeigen.« Er ließ sie auf den Sitz nieder und wandte sich dann an die beiden andern.

»Ihr Diener, meine Herren! Ich hoffe, Herr Professor,[671] Sie werden mich nicht fortweisen, da ich wirklich nicht wüßte, an welcher Stelle ich wieder abspringen könnte.«

»Gratuliren Sie sich ob des ungeheuren Glückes, welches Sie haben. Nächst diesem haben Sie Ihre Rettung dem Umstande zu verdanken, daß ich Sie Ihrer eigenen Anstrengung überließ.«

»Unsre Meinungen stimmen sehr überein; denn ich habe mich gleich Anfangs auf nichts Anderes verlassen. Doch bitte, lassen Sie sich durch meine unerwartete Anwesenheit in den nothwendigen Beobachtungen nicht stören. Sie haben Ihre Wetten zu gewinnen.«

»Allerdings,« antwortete der Professor und richtete das Fernrohr nach unten. Noch konnte er jede Einzelheit der Gegend unterscheiden, und also eben so deutlich mußte man von der Erde aus auch ihn beobachten können. Es war nothwendig, zu steigen und dann eine andere Richtung einzuschlagen. Deßhalb nahm er aus dem unteren Raume ein Säckchen mit Sand hervor und schickte sich an, dasselbe zu öffnen.

»Sie wollen noch höher steigen?« fragte Winter.

»Allerdings.«

»Sie erlauben, daß ich dies nicht für nothwendig halte. Der Zweck dieser Art ist eine bloße Luftparthie nach einem bestimmten Orte der unter uns liegenden Gegend, nicht aber eine wissenschaftliche Beobachtung in den oberen Regionen.«

»Da haben Sie sehr Recht; aber über die Art und Weise, wie dieser Zweck am Sichersten und Schnellsten zu erreichen ist, steht mir als Fachmann wohl das bestimmende Urtheil zu. Wir befinden uns jetzt mitten in dem Grenzgebiete zweier entgegensetzten Luftströmungen und müssen uns bis in die Mitte der günstigeren erheben.«

Er wußte sehr genau, daß Winter aus freiem Antriebe das Seil ergriffen haben müsse; denn hätte ihn dasselbe unvermuthet umschlungen und mit fortgerissen, so wäre es ihm jedenfalls nicht gelungen, sich loszumachen. Auch wäre ihm bei einer so unvorgesehenen Lage die Besinnung geschwunden und also die Sicherheit, mit der er sich empor bewegt hatte, eine Unmöglichkeit gewesen. Er hatte es also hier mit einem Gegner zu thun, welcher durch irgend einen Umstand zu der gehabten Kühnheit veranlaßt worden war. Und bei der Ungeheuerlichkeit des Wagnisses mußte dieser Umstand ein bedeutender sein, sich vielleicht gar auf die Entdeckung des mit dem Barone verabredeten Planes beziehen.

Während er unter diesen Gedanken eine Hand voll der feinen Sandkörner nach der Andern fallen ließ, riß Winter ein Blatt seines Notizbuches in Stücke und ließ sie nach einanderfliegen, um an der Schnelligkeit, mit welcher sie entschwanden, diejenige des Steigens zu erkennen.

»Wollen Sie nicht innehalten, Herr Professor? Ich glaube sehr, daß wir zu hoch kommen. Die Wolken liegen schon tief unter uns, und die Erde ist mit bloßem Auge gar nicht mehr zu erkennen. Von solcher Dimension dürfte unsere Strömung wohl kaum sein!«

»Ja, wir sind zu hoch; gehen wir weiter nieder!« rief Hagen, dem die Angst aus allen Zügen zu lesen war.

»Hier bin ich Herr,« sprach der Professor ruhig und fuhr in seiner Beschäftigung fort. »Ich verbiete mir jeden Einspruch, zu dem übrigens Jemand, der das Passagegeld nicht entrichtet und uns seine Rettung zu verdanken hat, am Allerwenigsten berechtigt sein dürfte.«

Winter schwieg und nahm den an seiner Uhrkette hängenden Compaß zur Hand. Er bemerkte nach einiger Zeit daß der Ballon eine vollständig andere Richtung eingeschlagen hatte und hielt deßhalb auf jede Bewegung des Professors ein scharfes Auge. Dieser blickte durch das Perspectiv und griff dann von Neuem nach dem Sande.

»Sie werden Ihre Wette verlieren!« meinte Hagen, und auf seiner Stirn standen helle Tropfen. »Der Zug wird in wenigen Minuten sein Ziel erreicht haben.«

»Wir sind auch gleich da. Noch einige tausend Fuß und dann sinken wir. Ich werde unterdessen zur Klappe steigen.«

Er schwang sich auf den Rand der Gondel und kletterte in das Netzwerk hinauf. Der Ton seiner Stimme hatte den eigenthümlich heiseren Klang gehabt, welchen die menschliche Sprache oft zeigt, wenn die Seele in ängstlicher Spannung sich befindet oder der Wille etwas bezweckt, was mit dem Rechtsgefühle nicht im Einklange liegt.

Das fiel Wintern sofort auf. Dieses Emporklettern mußte einen besondern Grund haben; denn das Ventil war ja sehr bequem durch eine Schnur zu öffnen, welche bis in die Gondel herrabreichte.

»Sehen Sie sich vor, Herr Commissar! Der Mann führt etwas im Schilde,« flüsterte er und blickte gespannt nach oben. Da griff der Professor nach einer Schlinge und zog an derselben, um sie zu öffnen. Dies schien jedoch einige Schwierigkeit zu haben, da bei der Passage durch die Wolken der Strick Feuchtigkeit angezogen hatte, in Folge dessen aufgequollen war und die Schleife schwer öffnen ließ.

Durch diesen Umstand erhielt Winter einige Augenblicke Zeit, dem Laufe des Strickes zu folgen und die Bemerkung zu machen, daß die Hälfte der Gondelhalter an ihm befestigt waren und nachgeben mußten, sobald er gelockert wurde. Sofort erkannte er, worauf es abgesehen war, riß mit beiden Armen Wanda und den Commissar herüber auf die weniger bedrohte Seite und rief:

»Haltet fest, sonst seid Ihr verloren.«

Instinktmäßig klammerten sie sich an, obgleich sie den Grund dieses angstvollen Zurufes nicht begriffen, und im nämlichen Augenblicke bekam die Gondel einen Ruck, die Halter fielen nieder, und die drei Menschen hingen, den Boden unter den Füßen verlierend, frei in der Luft.

»Einen Augenblick nur halte fest, Wanda!« mahnte Winter und die gräßlichste Angst sprach aus dem Tone seiner Stimme. Er schwang das eine Bein über den Gondelrand, und so auf denselben reitend, zog er das Mädchen herauf zu sich und sprach;

»Sei nur jetzt stark, Wanda, und verliere das Bewußtsein nicht, sonst bist Du verloren!«

»Ich halte fest, Emil! Rette nur – Herr Gott, wo ist der Commissar?«

Er war verschwunden. Im Augenblicke der Gefahr hatte ihn die Besinnung verlassen oder war die Kraft seiner Arme zu schwach zum Festhalten gewesen, und so war er hinabgestürzt.[672]

Die beiden Zurückbleibenden hatten jetzt nicht Zeit, dieses Unglück zu betrauern; sie mußten an sich selbst denken. Für den Augenblick freilich waren sie gesichert. Wanda saß auf der Stelle, wohin er sie gezogen hatte und hielt sich mit den Händen an den beiden Haltern fest, zwischen denen sie sich befand. Obgleich ihr das Herz zitterte, suchte sie doch ein Lächeln hervorzubringen, um den Geliebten zu beruhigen. Es gelang, und nun wagte Emil den ersten Bick in die Höhe.

Die Last war verrückt worden, und so hatte sich der Ballon auf die Seite geneigt. Der Professor war nicht zu sehen. War auch er hinabgestürzt oder – doch nein, die Neigung des Ballons hatte ihn dem Auge Winters entzogen, und gerade jetzt kam er vorsichtig von der andern Seite heruntergestiegen, um den Erfolg seine Experimentes in Augenschein zu nehmen. Mit Schrecken aber bemerkte er, daß nur Einer von den drei Leuten fehlte und die beiden Anderen sich festgehalten hatten.

Auch sie mußten hinunter; denn jetzt war ihr Tod die einzige Rettung für ihn. Er kletterte weiter, bis er über ihnen auf dem Ringe stand, welcher sich um den unteren Theil des Ballons legte. Während er sich mit der Linken festhielt, zog er mit der Rechten ein Messer aus der Tasche, öffnete es mit Hülfe der Zähne und bog sich nieder, um die Seile zu zerschneiden, an denen Winter und das Mädchen sich festhielten.

Letzterer hatte bisher kein Wort gesprochen; jetzt aber griff er in die Tasche und zog ein Terzerol hervor. Er segnete die Mahnung seines Bruders, für den Nothfall eine Waffe zu sich zu stecken und rief drohend:

»Halt, elender Mörder! Sobald Du den ersten Schnitt versuchst, bist Du des Todes!«

Der Angeredete blickte herab. Er sah die Waffe; aber er durfte auf sie keine Rücksicht nehmen. Gehorchte er, so befand er sich in den Händen Winters und war verloren. Ein Schnitt jedoch in das Seil, an welchem dieser sich festhielt, mußte ihm die Sicherheit des Zielens rauben und zugleich ihn in Tiefe stürzen. Rasch bückte er sich und bewegte die Hand zum Schneiden. Da krachte der Schuß, dessen Schall durch die Dünne der Luft bedeutend abgeschwächt wurde und der Getroffene zuckte zusammen.

Die Kugel war ihm in den Oberarm gedrungen und hatte den Knochen verletzt. Einen Schmerzenslaut ausstoßend, ließ er das Messer fallen, schien ins Schwanken zu gerathen, raffte sich aber zusammen und klammerte mit dem andern Arme wieder fest.[684]

»So, Du bist mir sicher!« sprach Winter, das Terzerol wieder einsteckend. Dann musterte er, ihn weiter keine Aufmerksamkeit schenkend, das Netzwerk.

»Die Gondel ist nur mit Hülfe mehrere Menschenkräfte in ihre frühere Lage zu bringen; ich allein vermag es nicht. Ich werde Dich festbinden, damit Du für jetzt wenigstens gesichert bist, und dann versuchen, den Ballon zum Sinken zu bringen.«

Er glitt vorsichtig vorwärts, zog sein Federmesser und schnitt einen der niederhängenden Gondelhalter von dem Ringe los, an welchem er befestigt war. Dann kehrte er ebenso behutsam zurück und bildete mit Hülfe des Strickes um Wanda ein Flechtwerk, welches sie vor jedem Falle behüten mußte. Dann schickte er sich an, nach Oben zu steigen. Die Klappenschnur war ihm jetzt unzugänglich, und er mußte die Hälfte des Ballons umklettern, um sie zu erreichen.

»Wo willst Du hin, Emil?« fragte Wanda, für ihn zitternd; denn jede seiner Bewegungen konnte ihn dem Tode in die Arme liefern.

»Ich muß die Klappe öffnen, damit wir sinken.«

»Thue es nicht. Du wirst hinabstürzen!«

»Es muß geschehen, wenn wir wieder zur Erde kommen sollen. Du darfst nicht Angst um mich haben. Seit ich Dich in Sicherheit sehe, bin ich ruhig.«

Während der letzten Worte zuckte ein flammender Wetterschein tief unter ihnen hin. Es war als stände das ganze unter ihnen fluthende Luftmeer in Flammen, und kurze Zeit darauf tönte ein leises, rollendes Gemurmel zu ihnen empor.

»Ein Gewitter. Es war Mittags sehr heiß. Aber jetzt dürfen wir nicht sinken, sonst kommen wir mitten in das Wetter hinein und werden von den verschiedenen Strömungen hin und her geschleudert.«

Diese Strömungen äußerten ihren Einfluß auch auf die äußeren Luftschichten. Zwar boten die unter ihnen sich ballenden Wolken, da sie sich selbst in Bewegung befanden, keinen sicheren Augenpunkt, aber es war trotzdem zu bemerken, daß der Ballon eine andere Richtung eingeschlagen hatte und mit vermehrter Geschwindigkeit vorwärts ging. Die Luftbewegung hatte also ihre Richtung geändert und auch ihre Schnelligkeit verstärkt.

In einer gesicherten Lage hätte der großartige Anblick des unter ihnen leuchtenden Wetters ihnen eine noch nie von oben gehabten, fesselnden Genuß gewährt. Jetzt aber waren ganz andere Gedanken zu hegen. Winter arbeitete sich empor bis zu dem Professor, zog sein Taschentuch und versuchte, den Arm desselben an das Netzwerk zu befestigen. Es gelang nach einigen vergeblichen Versuchen, bei welchen von beiden Seiten nicht ein Laut gesprochen wurde. Der Verwundete hielt die Augen geschlossen, ob aus Schwäche oder Scham, es war auch gleichgültig. Es galt nur, sich den Menschen zu sichern, da seine Aussagen nothwendig gebraucht werden konnten.

Sodann kletterte er um den Ballon herum und gelangte auf diese Weise zur Schnur. Ein Blick in die Tiefe zeigte ihm das Gewitter seitwärts und unter sich die reinste Luft.

Er zog. Das Ventil öffnete sich; mit einem leise pfeifenden Rauschen strömte das Gas heraus, und die Wolken schienen in der Ferne in die Höhe zu steigen. Das war ein Beweis, daß der Ballon fiel. Die erst so glatt angespannte Taffetmasse legte sich nach und nach in Falten, wodurch die Schwierigkeit des Kletterns in Etwas vermindert wurde; aber durch die Verschiedenheit der hier unten herrschenden Strömungen wurden die Bewegungen des Ballons so Gefahr drohend, daß Winter, um nicht hinabgeschleudert zu werden, sich mit Aufbietung aller Kräfte festklammern mußte.

Vorsichtiger Weise ließ er das Gas nur in einzelnen Zwischenräumen ausströmen, so daß das Sinken langsam vor sich ging, und mit gespannter Aufmerksamkeit richtete er den Blick hinunter, wo sich bald der Anblick der Erde bieten mußte.

Zwischen einzelnen leichten Wolkenstreifen drangen die Reflexe des niederfallenden Sonnenlichtes empor. Die Streifen näherten sich, und als ihre Feuchtigkeit, die sich in Nebelform um die Luftschiffer legte, durchdrungen war, lag die Oberfläche der Erde in von dem Regen erfrischten Grün unter ihnen.

Winter strengte die ganze Sehkraft seines Auges an, die Gegend zu erkennen, welcher sie sich nahten. Es war ein dichtbewaldetes Gebirgsvorland, welches in der Ferne einige Dörfer und Flecken zeigte; aber unter ihnen lag dichter Forst, in welchem keine Spur einer menschlichen Wohnung zu entdecken war.

Gern wäre er wieder um Etwas emporgestiegen; aber es war unmöglich, zu dem Sande zu gelangen, und da hier unten die Luft fast bewegungslos war und der Ballon sich langsam und gleichmäßig fortbewegte, so versuchte er vollends nieder zu gehen.

An eine Anwendung der hierbei gewöhnlichen Vorrichtungen war hierbei allerdings nicht zu denken; aber das Seil, an welchem er bei Beginn der verhängnißvollen Fahrt emporgeklettert war, wurde noch jetzt nachgeschleppt und konnte auch jetzt von Nutzen sein.

Ehe er aber das Letztere versuchen wollte, stieg er soweit zurück, daß er Wanda zu Gesichte bekam. Noch saß sie an derselben Stelle und blickte mit angsterfüllten Zügen empor zu dem Punkte, wo sie ihn verschwinden gesehen hatte.

»Bist Du noch wohl, Wanda?«

»Ja, aber ich bin fast todt vor Sorge um Dich!«

Trotz der bedenklichen Lage, in welcher sie sich befanden, konnte er doch ein Lächeln über diese sich selbst widersprechende Antwort nicht unterdrücken.

»Sei vorsichtig und halte Dich fest. Wir werden gleich den Wald erreichen.«

Er stieg wieder empor und zog das Ventil. Der Ballon sank und strich im Sinken über die Wipfel der Bäume hin. Winter griff fester zu, um bei einem Rucke nicht herabzustürzen und ließ die Klappe sich schließen. Da – ein Ruck, als solle der Ballon in den Erdboden hineingezogen werden, ein Rascheln und Brechen in den Aesten unter ihnen, und dann drehte sich die halb zusammen geschrumpfte Taffetmasse um ihre eigene Axe. Das Seil hatte sich in den Bäumen verwickelt, einen festen Halt gefunden, und so wurde der Ballon gehalten. Aber die Axendrehung konnte gefährlich werden. Winter zog leise das Ventil auf und gewährte dem Gase einen langsamen und spärlichen Abfluß. Ebenso langsam sank der Ballon vollends nieder, legte sich auf die Seite und ward von den Zweigen, in welche sich das Netzwerk verfitzte, festgehalten.

Mit einem kräftigen Zuge riß er das Ventil weit auf, so daß der Taffet zusammenfiel und sich wie eine Decke auf die Wipfel legte und so eine Unterlage bildete, auf welcher Emil ohne alle Verletzung zu liegen kam.[685]

»Wanda, Wanda, wo bist Du?« rief er jetzt, da er seine Sorge nun ausschließlich auf sie richten konnte.

»Hier zwischen den Bäumen hänge ich in voller Sicherheit, und Du?«

»Auch ich habe keinen Schaden genommen. Ich werde gleich bei Dir sein!«

Zwar kostete es einige Anstrengung, von seinem erhabenen Standpunkte herabzukommen, aber es gelang, und als er den festen Boden unter seinen Füßen fühlte, erblickte er auch die Gondel, welche sich zwischen zwei Bäume eingeklemmt hatte, aus deren Zweigwerk ihm das bleiche Gesicht. Wanda's entgegenglänzte.

»Wie werde ich Dich von da oben herunterbringen?« fragte er in einiger Verlegenheit.

»Das wird nicht so schwierig sein. Ich verlasse mich auf Deinen Scharfsinn.«

»Ich muß eine Strickleiter aus dem Netzwerk anfertigen und – aber warte, vielleicht geht es so schneller und besser!«

Er suchte den Baum, an welchem das nachgeschleppte Seil hing, kletterte hinauf und schnitt es ab. Zwar hatte er einige Zeit angestrengt zu arbeiten, ehe er es vollständig klar machen konnte, aber es gelang endlich doch. Dann kehrte er zurück und versuchte durch kräftiges Ziehen die Gondel weiter abwärts zu bringen. Auch das gelang. Das in den Aesten hängende Netzwerk hielt das Schiffchen fest, so daß ein Sturz nicht stattfinden konnte; Wanda half dich die Entfernung des hindernden Zweiges nach, und näherte sich auf diese Weise endlich so weit dem Boden, daß sie denselben durch einen etwas beherzten Sprung erreichen konnte.

»Soll ich Dich losmachen?«

»Danke, nein. Ich bringe es selbst fertig.«

Sie wickelte das Seil von sich ab, schickte sich zum Sprung an und lag in dem nächsten Augenblicke in den Armen Winters, der sie aufgefangen hatte.

»Wanda!« rief er im überströmenden Gefühle des Glückes.

Sie aber antwortete nicht, und als er fühlte wie schwer sie an ihm hing und ihr in das Angesicht blickte, erkannte er, daß sie ohnmächtig sei. So lange die Gefahr angehalten hatte, war sie stark gewesen; jetzt aber, wo Alles vorüber und keine Anstrengung mehr nothwendig war, hatte sich die kräftig verleugnete Weiblichkeit geltend gemacht und sie in eine wohlthuende Bewußtlosigkeit gebettet.

Winter fühlte sich hierdurch nicht im Geringsten beängstigt, er wußte, daß dieser Zustand ihr neue Kräfte geben und bald vorübergehen werde. Er legte sie vorsichtig in's weiche Moos nieder und wollte sich entfernen, um nun nach dem Professor zu sehen; aber als er noch einen Blick zurückwarf auf die Daliegende, wurde er von dem Zauber ihrer Schönheit so erfaßt, daß er wieder zurückkehrte und neben ihr niederkniete.

Er nahm ihr schönes, von weichen blonden Locken umwalltes Köpfchen in seine Arme und drückte Kuß um Kuß auf die jetzt bleichen Lippen, gerade so wie damals, als sie in der Höhle des Felsenbruches vor ihm lag und dann bei dem Erwachen vor Zorn erglühend aufgesprungen war.

Auch jetzt schlug sie die Augen, diese wunderbaren Augen auf; aber nicht zornig blickte sie, als sie seinen Kuß fühlte, sondern selige Freude leuchtete aus ihnen, und beide Arme schlang sie, ihn fest an sich ziehend, um seinen Nacken.

»Emil, mein Emil, Du lieber, starker Mann, der immer da ist, wenn ich in Gefahr bin und dem mein Leben schon doppelt und dreifach gehört, wie habe ich Dich so lieb, so unendlich lieb!«

»Ist das wahr, Wanda?«

»O, Du hast es ja schon längst gewußt, viel eher noch als ich!«

»Und nun willst Du mein sein, ganz und immer mein?«

»Ganz und immer!«

»Dann bin ich namenlos glücklich und danke von ganzem Herzen dem lieben Gott, der uns einst im Walde zusammenführte für nur kurze Zeit und nun im Walde vereinigt für die ganze Dauer des Lebens. Wanda, welche eine Stunde ist die jetzige!«

»Eine schöne und eine heilige, Emil. Und in dieser heiligen Stunde will ich Dir Etwas versprechen, was Dein Glück verdoppeln wird.«

»Sprich!«

»Ich werde nie, nie wieder so sein, wie ich gewesen bin, sondern fein gehorsam und demüthig. Heut, als ich da oben auf dem Rande der Gondel saß und sah, mit welcher Sicherheit und welchem Muthe Du handeltest, um mich zu retten, und als Du dann auf so lange Zeit meinem Auge entschwunden warst und ich mich so allein fühlte in der öden, gefährlichen Höhe, da fühlte ich, welch ein schwaches Wesen ich bin und gelobte, Dir unterthan zu sein allzeit, wenn Gott uns für einander erhalten werde.«

»Wanda!« Mehr konnte Winter nicht sagen. Er war tief ergriffen von den frommen, selbstverleugnenden Worten des schönen, sonst so stolzen und selbstbewußten Wesens, und mit bebenden Lippen sog er die Thränentropfen von ihren Wimpern.

Da tönte ein, schweres röchelndes Aechzen aus den Zweigen zu ihnen herab.

»Was war das?« fragte Wanda.

»Das war der Professor, welchen wir über unser Glück vergessen haben,« entgegnete Winter und sprang auf. Er sprang auf und ging den Lauten nach und fand nach einigen Suchen den Urheber derselben, noch mit dem Arme an das Netzwerk gefesselt, an einem abgebrochenen Aste hängen, dessen Rumpf ihm tief in den Leib gedrungen war.

Die Verletzung mußte eine tödtliche sein. Das Blut lief ihm aus Mund und Nase; das Stöhnen wurde kürzer und schwächer, und als Winter sich zu ihm hinaufgearbeitet hatte, lief ein convulsivisches Zittern durch den aufgespießten Körper der dann schlaff zusammensank.

»Bitte, Wanda, tritt von da unten weg. Er ist todt, und sein Anblick ist nicht für Dich.«

Sie gehorchte seiner Mahnung. Mit einem kräftigen Aufstämmen des Fußes brach er den Ast los, und der Leichnam stürzte zur Erde herab. Unten bei ihm angekommen, überzeugte sich Winter, daß keine Spur von Leben mehr in dem Körper sei und untersuchte darauf die Taschen des Unglücklichen.

Da entfuhr ein Ausruf der Ueberraschung seinem Munde und mit heftigen Schritten trat er zu dem Orte, an welchem Wanda auf ihn wartete.

»Erschrick nicht, mein Herz; ich habe Dir eine entsetzliche Mittheilung zu machen!«

»Welche? Nach dem, was mir heute widerfahren ist, wird mir das Erschrecken schwer fallen.«

»Daß Du Säumen nie geliebt hast, weiß ich.«[686]

»Verachtet habe ich ihn.«

»Und daß es wenigstens irgend eine unbestimmte Ahnung im Bezug auf seine Lebensstellung und seine Absichten in Dir gegeben hat, habe ich auch stets angenommen.«

»Du kannst Recht haben. Ich litt seine Annäherung wirklich nur aus Rücksichten auf Mama, die ich nicht in Armuth sehen mag.«

»Und diese Annäherung hat Dich in mehrfache Gefahr gebracht. Da lies dieses Schriftstück, welches in der Brieftasche des Professors lag.«

Sie nahm das Papier in die Hand, und während ihre Augen dasselbe überflogen, breitete sich tiefe Blässe über ihr Angesicht.

»Das ist schrecklich! Jenes Vorkommniß im Felsenbruche hatte zuerst dunkle Befürchtungen in mir wachgerufen; doch drängten sich dieselben immer wieder zurück, weil sie mir zu ungeheuerlich erschienen. Und jetzt bestätigen sich jene Vermuthungen, die Du jedenfalls auch gehabt hast, auf eine so fürchterliche Weise!«

»Bei mir waren es nicht bloße Vermuthungen, sondern ich hatte die vollständige Ueberzeugung, daß Säumen ein Betrüger sei, obgleich ich keinen vollgültigen Beweis gegen ihn in den Händen hatte.«

»Ein Betrüger? Das wohl nicht, sondern vielmehr ein Mörder!«

»Auch das Erstere. Ein wirklicher Säumen ist einer unehrenhaften Handlung nicht fähig.«

»Was Du da andeutest ist ja vollständig unmöglich!« rief sie erschrocken. »Und wenn es so wäre, so könnte ich die Schande nicht überleben.«

»Sei ruhig, mein Herz. Es erwarten Dich vielleicht heut noch schlimme Aufklärungen; aber Du darfst überzeugt sein, daß bei Allem, was geschieht, die strengste Rücksicht auf die Ehre Deines Names genommen wird. Jetzt aber müssen wir vor allen Dingen an den gegenwärtigen Augenblick denken. Ich werde den Todten mit Zweigen bedecken, und dann versuchen wir in die Nähe von Menschen zu kommen. Magst Du Dich mir auf dem Gang durch den tiefen, dunklen Forst anvertrauen?«

Mit innigem Aufleuchten senkte sich ihr Blick in seine Augen, als sie erwiederte:

»Ich bin Dein für's ganze Leben, mein Emil. Gehe mit mir, wohin Du willst; ich folge Dir.« –

– – Als nach Aufsteigen des Ballons sich die Wagen in Bewegung gesetzt hatten, waren sie mit der größtmöglichsten Geschwindigkeit der vorgezeichneten Richtung gefolgt und nur kurze Zeit nach dem Zuge eingetroffen. In größter Aufregung erwartete man die Ankunft der Luftfahrer. Das Interesse für die Wetten war zurückgetreten, da man ja nur das Resultat derselben kannte, die allgemeine Theilnahme hatte sich dem vermuthlichen Schicksale Winters zugewandt, der nach der Annahme Aller blos von dem Zufalle mit emporgerissen worden war.

Längst schon waren die Sängergäste eingetroffen. Die Bewohner des Ortes hatten die Straßen und offenen Plätze desselben mit Flaggen und Guirlanden geschmückt; aber der Festumzug konnte noch immer nicht beginnen, weil sämmtliche Theilnehmer draußen im Freien standen, um das Niedersteigen des Ballons abzuwarten.

In der allergrößten Sorge befand sich die Baronin. Sie hatte sich im Hotel ein Zimmer geben lassen und schritt ruhelos in demselben auf und ab. Emils Bruder und der Baron befanden sich bei ihr Ersterer stand schweigend am Fenster und theilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem Barone, den er kaum aus den Augen ließ und den Wolken, zwischen denen jeden Augenblick die Erwarteten erscheinen konnten.

Säumen saß in nachlässiger Haltung auf dem Stuhle und konnte ein Lächeln des Triumphes immer weniger verbergen, je mehr die Zeit verstrich. Trotz dieser inneren Befriedigung sprach er zuweilen ein beruhigendes Wort zu der alten Dame, die beobachtenden Blicke Winters gar nicht zu bemerken scheinend.

Da öffnete sich die Thür und die Zofe erschien auf der Schwelle.

»Herr Winter, es ist ein Mann draußen, der mit Ihnen sprechen will.«

Der Angeredete stand auf und trat hinaus auf den Vorsaal, wo der Schmied sein wartete.

»Nehmen Sie's nich übel, daß ich störe; aber Ihr Bruder und ooch Sie haben gesagt, daß wir uns zu Ihnen halten sollen und doch läßt sich Keener sehen. Wo is der Baron?«

»Drinnen.«

»Wissen Sie was Neues?«

»Was?«

»Er hat verkooft.«

»Verkauft? Was?«

»Nu, Alles, seine ganzen Besitzungen.«

»Wann?«

»Vorhin, ehe die Fahrt losging.«

»An wem?«

»An den Commissar Hagen.«

»Der hat kein Geld. Das muß ein Irrthum sein.«

»Geld hat der Kerl allerdings nich, aber een Jude aus der Hauptstadt muß ihm das Nöthige vorgeschossen haben. Blumenbach oder Blumenthal, meinetwegen ooch Blumenfeld heeßt der Mann und hat mir im Coupee Alles erzählt.«

»Gut. Behalten Sie ihn im Auge. Vielleicht brauchen wir ihn.«

Als er in das Zimmer zurücktrat, ließ sich der erste Donnerschlag vernehmen, und die Baronin sank, die Augen mit beiden Händen bedeckend in das Sopha.

»Mein Gott; jetzt sind sie verloren, jetzt ist jede Hoffnung vergeblich!«

»Noch nicht, gnädige Frau,« sprach Winter. »Wenn sie sich über den Wolkenschichten befinden, so haben Sie nichts zu befürchten. Ich vermuthe sehr, daß sie von einer widrigen Luftströmung von der eingeschlagenen Richtung abgetrieben worden sind.«

Er erhielt keine Antwort. Das Wetter entlud sich in ungewöhnlicher Macht über der Gegend; Blitz folgte auf Blitz und das Grollen des Donners rollte ohne Aufhören fort. Aber gerade dadurch beschleunigte sich die Ausgleichung der angesammelten Electricität, und nach kurzer Zeit brach die Sonne sich wieder lichte Bahn.

Da bemerkte man eiliges Laufen auf den Straßen, laute Zurufe ließen sich vernehmen, und als Winter das Fenster öffnete, um nach der Ursache dieser Aufregung zu sehen, bemerkte er Thomas raschen Schrittes auf das Gasthaus zukommen. Da er eine Unglücksbotschaft vermuthete, ging er ihm entgegen.

»Sie sind verunglückt, Herr Winter; erschrecken Sie nich!« rief ihm der Buchbinder schon unten auf der Treppe entgegen.

»Woher weißt Du das?«[687]

»Dreiviertel Stunden von hier is Eener von ihnen niedergestürzt. Der Bauer, off dessen Feld er liegt, is selber da, um es uns zu melden. Er hat von der Luftfahrt gehört und ooch von der Wette und weeß also, daß die Angehörigen hier sind.«

»Holen Sie ihn; er soll unten warten, bis ich hinab komme. Und befehlen Sie sogleich dem Hausknechte, anzuspannen.«

Hierauf kehrte er zur Baronin zurück.

»Man hat eine Spur der Erwarteten entdeckt, gnädige Tante. Wollen Sie mir erlauben, mich in Ihrem Wagen an den Ort zu begeben, um zu sehen, ob etwas Wahres an der Nachricht ist?«

»Ich fahre selbst mit,« antwortete sie und erhob sich, sank aber wieder zurück. »Doch nein, es geht nicht; ich bin zu angegriffen. Fahren Sie also ohne mich und kehren Sie schnell zurück. Leben sie noch?«

»Ich hoffe es. Herr Baron, Sie haben doch die Güte, mich zu begleiten!«

»Ich kann Madame unmöglich allein lassen, das sehen Sie doch.«

»Madame hat ihre Bedienung hier und wird weibliche Hülfe wünschenswerther finden als ein andere. Oder ist Ihnen das Schicksal der Expedition gleichgültig?«

Es lag sehr viel Wahres in dieser letzten Bemerkung. Säumen mußte ja möglichst zuerst wissen, was aus den vier Leuten geworden war, um seine Maßregeln darnach ergreifen zu können. Er erhob sich also.

»Ich kann unmöglich gleichgültig sein, wo es sich um das Schicksal meiner Verlobten handelt. Wenn die Frau Baronin erlauben, gehe ich also mit.«

»Jawohl, gehen Sie und bringen Sie mir schleunigst Nachricht!«

Die beiden Männer entfernten sich. Unten schirrte der Kutscher eben die Pferde vor, und nach einigen Augenblicken konnte man einsteigen. Säumen saß neben Winter im Plafond, während Thomas an der Seite des Landmannes sich auf den Rücksitz placirte.

»Zugefahren, Kutscher!« rief Winter, und die Equipage rollte im Galopp davon.

Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Der Bauer schien zwar einen Bericht beginnen zu wollen, aber der Polizist winkte ihm Schweigen zu. Es lag ihm daran, den Baron jetzt noch in Ungewißheit zu lassen, um ihn später desto sicherer beobachten zu können und ihm keine Zeit zu Plänen zu geben.

»Da drüben auf der Stoppel ist es, wir müssen also hier einbiegen,« klang es nach einiger Zeit, während welcher Jeder seinen Gedanken und Gefühlen Raum gegeben hatte. »Es war kurz vor dem Beginn des Regens, und ich habe gar nicht erst Anzeige im Dorfe gemacht, sondern bin gleich stracks nach der Stadt gelaufen, weil ich mir denken konnte, daß Sie neugierig sein würden, wie die Sache abgelaufen ist.«

Jetzt hielt der Wagen. Seitwärts von ihm lag eine formlose Masse, in welcher man nur bei näherer Betrachtung einen Menschen zu erkennen vermochte. Den Männern grauste es, und selbst dem Barone überkam ein bisher noch nie empfundenes Gefühl, welches er nicht zu bezeichnen sich getraute.

Bald aber hatte er es überwunden und bückte sich nieder, um den Zerschmetterten zu untersuchen.

»Es ist der Commissar Hagen. Zwar ist der Körper vollständig unkenntlich; aber hier ist ein Büschel seines weißgelben Haares, und diese Stiefel habe ich heut Vormittag noch bei ihm gesehen, als er mich besuchte.«

»Das war jedenfalls, als Sie den Kauf mit ihm abschlossen, Herr Baron,« sprach Winter wie absichtslos; aber trotzdem brachten seine Worte eine ungeheure Wirkung auf Säumen hervor. Mit aufgerissenen Augen in den schreckensbleichem Angesichte starrte er den Sprecher an; doch faßte er auch jetzt sich wieder und antwortete sich zu Erde beugend und den Leichnam betastend:

»Haben Sie eine Interesse für meine Privatangelegenheiten?«

»Vielleicht, noch mehr aber interessire ich mich für den Gegenstand, welchen Sie hier von der Erde nehmen.«

»Soll ich vielleicht meine Brieftasche liegen lassen, wenn sie mir beim Bücken entfällt?«

»Das wird Ihnen allerdings Niemand zumuthen; aber bitte, verwahren Sie das Portefeuille von jetzt an besser!« antwortete Winter. Er wußte, daß es dem Todten gehöre; aber es war jedenfalls jetzt besser für seine Absichten aufgehob en, als in den Händen der Commission, welche auf die zu erfolgende Anzeige hier erscheinen mußte. Und da die beiden Andern zu sehr mit dem Verunglückten beschäftigt waren, als daß sie das kleine Intermezzo bemerkt hätten, so ließ er es ruhig geschehen, daß Säumen die Tasche zu sich nahm.

»Allerdings ist es Hagen,« wandte er sich an Thomas; »und es ist nun fast nicht zu bezweifeln, daß dasselbe Schicksal auch die Andern betroffen hat. Trotzdem aber ist der Fall denkbar, daß der Commissar nur in Folge einer Unvorsichtigkeit verunglückt ist, und wir dürfen deshalb immer noch so lange Hoffnung hegen, bis man auch die Andern findet. Nach ihnen zu suchen, wäre ein mühevolles und vielleicht erfolgloses Unternehmen, und so wird es gerathen sein, in die Stadt zurückzukehren und weitere Nachrichten ruhig zu er warten. – Sie aber,« bedeutete er den Bauer; »müssen sofort das Versäumte nachholen und bei Ihrer Ortsbehörde Anzeige von dem Funde machen. Aber eilen Sie; der Platz wird nicht lange unbesucht bleiben, und wir haben keine Zeit, uns als Wächter herzustellen.«

Sie stiegen ein, um nach der Stadt zurückzukehren. Unterwegs begegneten ihnen Schaaren von Neugierigen, welche den Spuren des Wagens gefolgt waren, um die Unglücks stätte zu finden. Ohne die Fragen dieser Leute zu berücksichtigen, fuhren sie an ihnen vorüber und hielten bald vor dem Hotel, wo ihnen diesmal der Wirth selbst beim Aussteigen behülflich war.

Winter bemerkte, daß er einen eigenthümlich forschenden Blick auf den Baron warf und sah dann, als Säumen hinter der Thür verschwunden war, diesen Blick mit einer Art fragenden Einverständnisses auf sich gerichtet.

»Sie haben mir etwas zu sagen?«

»Wenn sie erlauben und discret sein wollen.«

»Das werde ich. Sprechen Sie!«[688]

»Treten Sie in dieses Zimmerchen; ich möchte gern vorsichtig sein. – So, jetzt haben wir keinen Lauscher zu fürchten, und ich darf also Ihre Incognito berühren.«

»Wieso?«

»Ihr Name ist Winter, und Sie befinden sich in der Gesellschaft des Herrn Barons von Säumen, um den Urheber eines Ihnen bekannten Verbrechens zu entdecken!«

»Woher kennen Sie mich?« fragte Winter ruhig, ohne seine Ueberraschung über diese bedeutungsvollen Worte zu verrathen.

»Ich war Oberkellner in dem Hause, in welchem die That verübt wurde und habe den Fremden bedient, welcher am andern Morgen mit den Effecten des Ermordeten abreiste, ehe wir Kenntniß von dem Verbrechen haben konnten. Sie besuchten damals dieses Haus sehr oft und haben mich auch in's Examen genommen.«

»Ah, wirklich; ich besinne mich. Sie machten mich auf das seltsam geformte Uhrgehänge des Entflohenen aufmerksam. Aber wie kommen Sie heut zu der Vermuthung, daß meine Anwesenheit hier in Beziehung zu jenem Ereignisse stehe?«

»Wissen Sie, bei wem ich dasselbe Gehänge bemerkt habe?«

»Nun?«

»Bei dem Herrn Baron von Säumen.«

»So, so, so!« dehnte Winter in absichtlich zweifelndem Tone. Er mußte mit Rücksicht auf die Tante vorsichtig sein. »Sie wollen sich doch nicht etwa durch eine Uhrkettenähnlichkeit zu einem Schlusse verleiten lassen, der geradezu ein höchst verunglückter genannt werden mußte! Ich kenne den Herrn Baron sehr genau; er hat als Student in dem Hause meiner Eltern logirt.«

»Trug er schon damals diese Kette?«

»Freilich; es ist ein altes Familienstück. Es mag sein daß es ähnliche giebt.«

»Dann habe ich mich getäuscht; aber nicht blos in Folge dieser Aehnlichkeit.« Er betonte das vorletzte Wort ganz besonders und setzte dann langsam hinzu: »und dann schien es mir auch, als hätten Sie eine ganz besondere Aufmerksamkeit für den Baron, so ungefähr, wie man sie gegen Jemanden hegt, den man schon halb und halb als Gefangenen betrachtet.«

»Ihr Scharfsinn ist beneidenswerth!« lachte Winter. »Sie müssen mir schon eine kleine Aufmerksamkeit einem Herrn gegenüber erlauben, dessen Stellung und Einfluß mir nützlich sein kann.«

»Und sodann,« fuhr der Wirth, wie sich entschuldigend, fort; »schien mir Gestalt, Haltung und Stimme des Barons ganz diejenige jenes Unbekannten zu sein, und wenn er einen Bart trüge, so –«

»So brauchte er sich nicht rasiren zu lassen mein Lieber! Und die andere Aehnlichkeit? Sie sprachen vorhin mit Betonung.«

»Ich glaube, der Baron hat große Aehnlichkeiten mit dem Ermordeten.«

»Da sehen Sie,« rief Winter abermals lachend; »was Sie heut Alles glauben! Uebrigens dürfen Sie sich beruhigen, denn ich will Ihnen im Vertrauen die Mittheilung machen, daß es mir gelungen ist, jenen Mörder zu entdecken. Ein Baron von Säumen aber ist er nicht.«

Er verließ das Zimmer und schritt die Treppe hinauf. Oben eintretend, sah er die Baronin ohnmächtig auf dem Sopha liegen und die Zofe beschäftigt, sie ins Bewußtsein zurück zu rufen. Säumen und Thomas standen dabei.

»Was ist hier geschehen?« fragte er.

»Der Herr Baron ist s freundlich gewesen, 'ne rückhaltslose Mittheilung über unser Abenteuer zu machen,« antwortete Letzterer.

»Das war zum Mindesten unvorsichtig, und –«

»Herr Winter,« fiel ihm Säumen in das Wort; »ich hoffe nicht, daß Sie es unternehmen wollen, mich zu schulmeistern!«

»Nein, aber Sie geben doch zu, daß die Schicklichkeit uns gebietet, die Damen allein zu lassen. Treten wir in's Nebenzimmer.«

»Es ist vollständig gleichgültig, welchen Ort Sie zu Ihrem Aufenthaltsorte nehmen wollen. Ich ziehe für mich einen andern vor!« entgegnete Säumen nach der Ausgangsthür schreitend.

»Und doch ersuche ich Sie, Herr Baron, mir wenigstens noch einen Augenblick zu schenken. Soeben machte mir der Wirth eine Mittheilung, welche sich auf Sie bezieht.«

»Welche?« fragte Säumen und schritt, von dem gleichgültigen Tone des Sprechers verführt, diesem nach in das Nebengemach. Während er sich dort, um die nöthigste Unbefangenheit zu zeigen, niederließ, bemerkte er nicht, daß Winter dem Buchbinder bedeutete, an der Thür Posto zu nehmen, während er selbst sich an das einzige Fenster stellte, welches das Zimmer hatte.

»Nun? Ich warte immer noch auf ihre Mittheilung!«

»Der Wirth machte mich vor einigen Augenblicken auf die interessante Thatsache aufmerksam, daß vor längerer Zeit in einem jedenfalls auch Ihnen bekannten Hause ein Baron Eginhardt von Säumen ermordet worden sei. Der Mann ist damals Oberkellner dort gewesen und hat sich den Mörder so genau angesehen, daß er ihn in allen Verhält nissen und in jeder Verkleidung wieder erkennen würde. Ich glaubte, Ihnen diese Neuigkeit nicht vorenthalten zu dürfen, da Sie den Namen des Todtenführen.«

Einige Augenblicke lang war der Angeredete sprachlos. Um seine Mundwinkel zuckte der Schreck, und ein heiseres Räuspern ließ erkennen, daß er nach Fassung rang. Bald aber klang es spöttisch von den bleichen Lippen:

»Ich danke Ihnen, Herr Winter, für diese humoristische Depesche. Ich habe bisher wirklich noch nicht gewußt, daß ich einmal ermordet worden bin. Denn ich muß es doch wohl gewesen sein, da es nur Einen meines Namens giebt.«[696]

»Bitte sehr, Baron. Ich werde Sie sogar zu vermehrtem Dank verpflichten, dadurch, daß ich Ihnen Einiges über den Mann sage, der Sie ermordet hat.«

»Thun Sie das; ich habe damals als Todter jedenfalls nicht Zeit gehabt, mir ihn nachträglich noch einmal genau anzusehen.«

»Er ist auch ein Herr Von.«

»Das höre ich gern. So bin ich doch wenigstens von ebenbürtiger Hand gestorben.«

»Hat seine Studien im Bicêtre vollendet.«

»Muß ein Teufelskerl gewesen sein!«

»Aber undankbar. Er ist fortgegangen, ohne nach dem Honorar zu fragen.«

»Vielleicht zahlt er es noch.«

»Das ist eben auch meine Meinung; ich werde ihn sehr darum bitten.«

»Wird er sich von Ihnen sprechen lassen?«

»Ich hoffe es um seiner selbst willen.«

»Wieso?«

»Das Schicksal eines überführten Mörders ist Ihnen bekannt. Doch habe ich Rücksicht auf einige Personen zu nehmen, welche Ihnen nicht weniger bekannt sind, und so bin ich vielleicht zu einigen Concessionen geneigt –«

»Die Sie ihm aber erst dann machen werden, wenn Sie ihn haben!« meinte Säumen, indem er sich erhob.

»O bitte, bleiben Sie sitzen; denn ich habe Ihnen noch zu beweisen, daß ich den Mann wirklich habe.«

»So halten Sie ihn fest. Nur glaube ich leider nicht, daß Sie das Zeug dazu haben.« Mit geringschätzigem Blicke überflog er die schlanke Gestalt des Polizisten und schritt nach der Thür.

»Halt!« klang es ihm da entgegen. Das Wort wurde nicht laut ausgesprochen; aber es lag etwas so Zwingendes in dem Tone und der Haltung des Sprechenden, daß der Baron unwillkürlich stehen blieb.

»Setzen Sie sich noch einen Augenblick; ich werde mich kurz fassen. Und dann mögen Sie entscheiden, ob Sie bleiben oder gehen wollen!«

Er folgte der Weisung, griff aber mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes.

»Lassen Sie die Hand von der Tasche, Herr Baron. Der Gebrauch einer Waffe würde Ihre Lage nur verschlimmern. Auch ich bin nicht wehrlos und habe übrigens meine Maßregeln so getroffen, daß Sie auf keinen Fall entkommen werden.«

Säumen sah ein, daß es klug sein werde, sich zu fügen. Inmitten eines jetzt so belebten Ortes war es ihm unmöglich, sich durch einen Schuß den Weg zur Flucht zu bahnen, zumal er die Vorkehrungen nicht kannte, welche Winter jedenfalls getroffen hatte. Er zog die Hand also zurück und meinte im wegwerfenden Tone:

»Ich werde ausnahmweise einmal gehorsam sein. Bitte, expliziren Sie sich!«

»Sie betrachten sich natürlich als meinen Gefangenen.«

»Schön!«

»Doch wird dieses Verhältniß kein auffälliges sein; vielmehr werde ich Sie einladen, sich, natürlich in meiner Begleitung, innerhalb der Stadt jede beliebige Bewegung zu machen.«

»Ein erstaunenswerthe Humanität und Unvorsichtigkeit!«

»Bitte sehr, blos human, nichts weiter! Sie dürfen sogar ihre Waffe behalten.«

»Ist mir lieb!«

»Auch Ihr Notizbuch, welches Ihnen draußen auf dem Felde entfiel.«

»Natürlich. Es hat Niemand das Recht, mir es ab zunehmen.«

»Kommt mein Bruder mit Fräulein von Chlowicki wieder wohlbehalten zurück, so wird in einem Familienrathe über das Schicksal jenes Mörders bestimmt.«

»Eine höchst ehrenwerthe und, ich hoffe, nachsichtige Jury!«

»Sind sie verunglückt, so überliefere ich ihn ohne Weiteres der Criminalpolizei, da ich der festen Ueberzeugung bin, daß er in diesem Falle die Ursache des Verlaufes der Luftfahrt ist.«

»Sehr scharfsinnig. Sind Sie zu Ende?«

»Ja.«

»Ich füge mich ihren weisen Anordnungen, obgleich ich weiß, daß ich gerad durch diese Fügsamkeit mich einer Offenherzigkeit schuldig mache, welche ich vermeiden würde, wenn ich nur eine Ahnung von Furcht in mir fühlte. Sie handeln gegen Ihre Pflicht, wenn Sie einen Verbrecher, für dessen Schuld Ihnen die schlagendsten Beweise zur Verfügung stehen, Concessionen machen, und ich glaube also, daß Keiner von uns Beiden den Andern zu fürchten hat. Kommen Sie! Ich höre die Baronin sprechen, und wir müssen ihr das Vergnügen unserer Gesellschaft gönnen.« –

Niemand zweifelte mehr daran, daß das Schicksal des Commissars auch die anderen Insassen des Ballons erreicht habe, und da durch diese Ansicht die Ungewißheit beseitigt war, so legte sich bald die Aufregung und man schritt nun endlich zur Fortfeier des Festes.

Nachdem der Umzug durch die Straßen beendet war, begann das Concert auf dem Festplatze, zu welchem sich eine zahlreiche Zuhörerschaft eingefunden hatte. Arm in Arm gingen auch Winter und Säumen auf und ab, und während scheinbar ihre Aufmerksamkeit den Tönen zugelenkt war, richteten Sie dieselben auf ganz andere Dinge.

Säumen war überzeugt, daß sein Anschlag gegen die Luftfahrer gelungen sei; aber die Absicht, deren Ausführung er damit bezweckt hatte, war damit noch nicht erreicht worden, denn von allen Seiten wuchsen ihm neue Feinde und Mitwisser seiner Vergangenheit heran. Das Einzige, was ihm übrig blieb, war die Flucht. Zwar hatte er die nöthigen Mittel in den Händen; aber sein Begleiter bewachte jede seiner Bewegungen mit scharfem Auge, daß ein Entkommen zu den Unmöglichkeiten gehörte. Aus diesem Gedanken wurde er geweckt durch eine Hand, welche sich auf seine Schulter legte.

»Endlich ist mir geworden das Glück, zu treffen den Herrn Baron.«

Es war der Jude, mit welchem er am Vormittag den Kauf abgeschlossen hatte. Ohne Winter zu beachten, fuhr der ängstliche Geschäftsmann fort:

»Ich habe vernommen, daß verunglückt ist der Herr von der Polizei, welchem ich habe vorgeschossen grausam viel Geld. Was soll ich nun thun mit die Papierchens, welche er hat ausgestellt und die nun sind ohne Werth? Ich werde mir nehmen den Kauf, den er wird haben zu Hause und ihn lassen umschreiben auf meinen Namen.«

Säumen war es um die Erhaltung seines Geldes zu thun, welches er bei sich führte, und schon hatte er deshalb[697] eine zustimmende Antwort auf den Lippen, als ihm Winter zuvorkam.

»Das wird nicht leicht möglich sein, mein Lieber. Der Kauf befindet sich bereits wieder Händen des Herrn Barones, welcher seine Besitzungen behalten und Ihnen Ihr Geld zurückerstatten wird. Es befindet sich in seiner Tasche und Sie können es gegen Quittung sofort in Empfang nehmen.«

Säumen wollte einen Widerspruch erheben; aber der Jude ließ ihn nicht dazu kommen.

»Ich habe zu sprechen mit dem Herrn Baron und nicht mit Ihnen. Auch werde ich nicht zurücknehmen das Geld, sondern behalten die Schlösser und Dörfer, welche nun nicht kann besitzen der Herr von Hagen.«

»Ganz wie Sie wollen! Der Herr Baron hat mich mit der Ordnung dieser Angelegenheit betraut, und Sie werden mich morgen am Vormittage in seiner Wohnung finden. Guten Abend!«

»Ist das die Meinung auch von dem gnädigen Herrn Baron?«

»Ja,« antwortete Säumen; »kommen Sie morgen früh zu mir.« Er war froh, auf diese Weise Zeit gewonnen zu haben und schritt rasch am Arme Winters weiter. Eben wollten sie nach dem Hotel einbiegen, als sie von Weitem angerufen wurden.

»Halt, heda, Herr Winter! Endlich kriege ich Sie zu sehen. Hab mich mein Seel ganz außer Athem geloofen, um Sie zu finden und dabei den Juden aus den Augen lassen müssen. Wissen Sie 'was Neues und Gutes?«

»Was denn?« fragte der Angerufene den Schmied; denn er war es.

»Ihr Bruder und Wanda sind glücklich davongekommen; aber der Professor ist todt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Es is vor een Paar Minuten 'ne telegraphische Depesche angekommen. Mit dem letzten Zuge werden die Beeden wohl da sein. Gehn Sie nur gleich zur Baronin; ich weeß nich, ob die's schon erfahren hat. Die Depesche ist natürlich an das hiesige Telegraphenamt gerichtet gewesen, da Ihr Bruder nicht wissen konnte, wo Sie hier abgestiegen sind. Ich will derweile den Blumenkranz oder Blumentopf oder wie er heeßt, wieder ofssuchen.«

»Das ist nicht nothwendig. Er wird selbst kommen, und für jetzt brauchen wir ihn nicht. Kommen Sie mit uns?« –

»Nee, da habe ich noch 'was Besseres zu thun.«

»Was denn?«

»Das werden Sie alleweile schon spüren, wenn es Zeit is!« Bei diesen Worten sprang er davon, und die Nachblickenden sahen, daß er rechts und links den Begegnenden die frohe Botschaft mittheilte.

Bei Frau von Chlowicki angekommen, fanden sie dieselbe schon benachrichtigt. Man hatte von der Station sofort einen Boten abgeschickt, und auch Thomas war gekommen, um ihr die Neuigkeit mitzutheilen. Es litt sie nicht länger in dem Zimmer. Sie ließ anspannen und fuhr nach dem Bahnhofe, um die Ankommenden dort zu erwarten. Es war ihr heut so recht klar geworden, wie lieb ihr das Stiefkind eigentlich sei, und sie nahm sich vor, diese Liebe von jetzt an rückhaltslos und im vollsten Maße über Wanda auszuschütten.

Auch Säumen war es bei der Nachricht leichter um das Herz geworden. Der Professor war jedenfalls von hoch oben herabgestürzt. Wer weiß an welchem Orte und in welchem Zustande er dalag, ja, ob er überhaupt gefunden werden konnte Mit ihm war dann der gefährlichste Zeuge verschwunden, und selbst, wenn man ihn fand, durfte der Baron in Beziehung des gefährlichen Papieres doch auf irgend einen glücklichen Umstand rechnen. Der Zufall war ihm bisher ja immer günstig gewesen und hatte ihn aus so mancher schlimmen Lage befreit.

Da hörte man von der Stadt her weitschallenden Marschschritt, der unter Musikklänge sich dem Bahnhofe näherte. Es waren die schnell versammelten Sänger, an deren Spitze der Schmied marschirte, den mit bunten Quasten und goldenem Knaufe versehenen Kapellmeisterstock schwingend.

Sein breites, ehrliches Gesicht glänzte vor Freude, und als er jetzt nach dem Perron einlenkte und an der Baronin vorüberschritt, nickte er ihr wohlgemuth zu und vollführte mit dem Stocke eine Windmühlendrehung, die ihn fast um seine stattliche Haltung gebracht hätte. Dann gab er mit hoch erhobenem Arme das Zeichen zum Schweigen und comandirte mit dröhnender Stimme:

»Battaillon – – – halt! Rrrrechts – – – umgedreht! So! Und nu bleibt Ihr stehen und rührt Euch nich, bis der Zug kommt. Nachher aber könnt Ihr meinetwegen sprangen so hoch Ihr wollt und dazu rufen und schreien, so laut Ihr wollt. Und wer nich weeß, was er sagen soll, der mag rufen: ›Fife Lamperöhr!‹ Das klingt halt schön und macht Spektakel, und dazu muß die Musik blasen, was das Zeug hält, immer fest drauf. Und wenn Ihr Eure Sache gut macht, so gebe ich een Faß Lagerbier zum Besten, und andere Leute werden ooch noch een Paar Flaschen draufgeben. Habt Ihrs verstanden?«

Alles lachte. Zwar ließ die Subordination sehr viel zu wünschen übrig; aber die Rede hatte Eindruck gemacht, und als der Zug heranbrauste, konnte man das Rollen seiner Räder nicht hören vor den Jubelrufen der Anwesenden. Unbekümmert um die Menge der Umstehenden nahm die Baronin die wiedergegebene Tochter in ihre Arme und liebkoste sie in überwallender Zärtlichkeit. Winter aber wurde sofort von den Männern in Beschlag genommen und aufgefordert, sein Abenteuer zu erzählen. Er that es mit den nothwendigen Abänderungen und machte sich dann los, um zu der Tante zu kommen, die auch ihn mit Sehnsucht erwartete. Wanda hatte ihr in aller Eile mitgetheilt, was er alles für sie gethan und gewagt, und die alte Dame wollte schier stolz werden bei dem Gedanken, daß dieser Mann ihr Neffe sei.

Unter diesen Vorgängen war es spät geworden, so daß man beschloß, hier zu bleiben und erst am folgendem Tage nach Hause zurückzukehren. Im Hotel angekommen, sollte Emil auch hier seinen Bericht abgeben; aber er wehrt diese Forderung von sich ab.

»Darf ich meine Mittheilungen nicht bis zu einer ruhigeren Stunde aufschieben, liebe Tante? Wir haben des Schrecklichen heut so viel gehabt, daß uns selbst die Erinnerung daran noch aufregen muß.«

»Emil hat Recht, Mama. Du bist heut so lieb und schonend gegen mich; bitte, sei auch nachsichtig gegen ihn. Er hat fast über menschliche Kraft gethan und bedarf der Ruhe.«

»Wahr ists, was Du sagst, und ich werde wohl vergebens[698] über die Art und Weise nachsinnen, wie ich ihn würdig belohnen kann.«

»Was das betrifft, Tante, so habe ich mir einen Lohn ausgewählt, der jedenfalls viel zu groß ist für das, was mir nur der Zufall zu thun erlaubte. Schau her!« Er legte den Arm um die schöne Cousine, zog sie an sich und drückte seine Lippen küssend auf ihre Stirn.

»Was willst Du damit sagen, Emil? Der Herr Baron –«

»Wird mir seine Rechte abtreten, was ich sofort beweisen werde,« fiel Emil ihr ins Wort. Er griff in die Tasche und wandte sich zu Säumen:

»Der verunglückte Professor hat die Unvorsichtigkeit begangen, ein Papier auf mich zu vererben, welches ich hiermit meinem Bruder mit der Bitte übergebe, damit nach seinem polizeilichem Gewissen zu verfahren.«

Ein einziger Blick machte Säumen Alles klar. Jetzt war Alles entdeckt, und die Stunde der Abrechnung hatte geschlagen. Er wollte um keinen Preis als entlarvter Missethäter vor den Frauen stehen, und der gegenwärtige Augenblick, an welchem die Aufmerksamkeit Aller auf das Papier gerichtet war, bot ihm die beste Gelegenheit zur Flucht. Mit einem raschen Sprunge stand er vor der Thür, riß sie auf, schlug sie hinter sich wieder zu und drehte den Schlüssel um. Dann eilte er die Treppe hinunter und wollte eben auf die Straße treten, als er die kräftige Gestalt des Schmiedes an dem gegenüberliegenden Hause lehnen sah. Schnell entschlossen trat er zurück und öffnete das untere Gastzimmer, um durch dasselbe in den Hofraum und von da durch den Garten ins Freie zu kommen. In der Stube trat ihm der Wirth entgegen.

»Der Herr Baron wollen noch ein wenig frische Abendluft schöpfen?«

»So ist es.«

»Dann nehmen Sie sich in Acht vor –«

Säumen vernahm die übrigen Worte nicht. Er hatte keine Zeit, auf den Mann zu hören und schlug den kürzesten Weg quer über den Hof ein, nach einer Stelle, wo er eine Oeffnung in der Mauer zu bemerken glaubte.

Seine plötzliche Entfernung hatte ihn zwar aus der unmittelbaren Nähe der Feinde gebracht, diesen aber noch nicht die nöthige Besinnung geraubt. Der Schornsteinfeger eilte an die Thür, um dieselbe durch einen kräftigen Druck aufzusprengen, aber sein Bruder rief ihn zurück.

»Halt, Emil, das dauert zu lange. Durch die Hinterthür entkommt er nicht; dahin habe ich Deinen Gräßler gestellt. Er wird durch den Garten gehen. Dort steht Thomas; aber der ist wohl nicht stark genug.« Er riß die Thür zu dem Hinterzimmer auf, öffnete das Fenster, und ohne ein Wort zu verlieren oder auf die Zurufe und Fragen der Frauen zu hören, standen die beiden Brüder im nächsten Augenblick im Garten.

Der Flüchtling konnte noch nicht hier sein, da sie den kürzesten Weg eingeschlagen hatten, und so lauschten Sie aufmerksam auf sein Kommen. Da ertönte vom Hofe her ein lautes Krachen, welchem ein Schreckensruf folgte.

»Rasch, Emil!« rief der Polizist. »Er ist in den alten Brunnen gestürzt, welchen ich heut dort an der Mauer bemerkt habe. Der Wirth hat eine Reparatur daran vornehmen lassen und die Oeffnung jedenfalls nur leicht verdeckt.«

Als sie an der Stelle ankamen, wollten sie eben über die Mauer steigen, als sie bemerkten, daß der Wirth mir einigen seiner Gäste herbeieilte, welche das Krachen und den Schrei vernommen hatten.

»Bleib hier! Die dürfen nicht wissen, daß wir ihn verfolgten und er also geflohen ist.«

»Du hast Recht. Er muß im Auge eines jeden Andern der Baron Säumen bleiben, um unserer Frauen willen. Die da drüben sind Mannes genug, um das Nothwendige zu thun.«

Ueber den Zaun springend, kehrten sie durch die Straße in das Haus zurück, wo die Damen ihrer voller Angst warteten und sie um Aufklärung baten.

»Nachher, liebe Tante; denn ich sehe, daß die Verschwiegenheit jetzt zu Ende gehen muß. Für diesen Augenblick aber werden wir in Anspruch genommen sein. Ich höre Jemanden kommen, jedenfalls ist es der Wirth.«

Wirklich trat der Genannte ein und meldete nach einer Bitte um Entschuldigung und Fassung, daß dem Herrn Baron von Säumen ein großes Unglück passirt sei.

»Er schien große Eile zu haben und hörte meine Warnung gar nicht, die ich ihm in Betreff des Brunnens nachrief. Leider ist diese nur zu begründet gewesen, denn –«

»Ich ahne, um was es sich handelt. Wir werden sofort unten sein. Lassen Sie schnell einen Arzt kommen!« schnitt ihm Winter die Rede ab. Der Arme war so voller Angst, daß ihm dicke Schweißtropfen auf der Stirn standen und er die Worte mehr stotterte als sprach. Er zog sich eilig zurück.

»Mein Gott, so sprecht doch!« rief die Baronin.

»Ließ hier dieses Blatt, Tante, während wir hinunter spazieren. Es wird Dir Alles sagen, und was Dir noch unverständlich ist, kann Wanda Dir während unserer Abwesenheit erklären.«

»Ich bin nicht Schuld!« rief ihnen der Wirth bei ihrer Ankunft entgegen. »Ich habe ihn gewarnt, und nun ist er jedenfalls todt. Der Brunnen war fast bis oben voll Wasser, welches durch unreinen Zufluß so ungenießbar geworden war, daß wir lange Zeit gar nicht davon geschöpft haben.«

»Ich habe ihn, ich habe ihn!« rief plötzlich die Stimme des Hausknechtes, welcher mit einer Stange das Wasser sondirte. »Der ist todt! Laternen her und dort die Feuerhaken von der Wand!« – – –

Einige Stunden waren vergangen. Der Ertrunkene lag im Hospital und hatte durch seinen Tod alle Schwierigkeiten gelöst, welche die letzte Zeit entwickelt hatte. Während Alles die Baronin und ihre Tochter in tiefer Betrübniß wähnte, unterhielt sich die Erstere mit dem Polizisten, während Letztere an der Seite Emils am Fenster lehnte und Worte der Liebe und des Glückes wechselte.

»So hat sich Alles zur Zufriedenheit gestaltet, und selbst der Jude erhält sein Geld zurück, welches sich noch in der Brieftasche des Todten vorfand.«

»Und Du quittirst also den Polizeidienst?«

»Gern, Tantchen, wenn ich bei Dir bleiben darf. Ich habe in dieser Angelegenheit so wenig polizeilichen Takt bewiesen, daß ich endlich einsehe, wie wenig ich für diesen Beruf geschaffen bin.«

Am Fenster wurden weniger geschäftliche Dinge besprochen. Es war die Rede von Lieblingsliedern, und Wanda behauptete, das schönste Lied, welches sie kenne, habe einst ein angehender Schmiedelehrling auf einen gewissen Wildfang[699] im Walde gedichtet und sei von einem Essenkehrer einer unartigen Baronesse vorgesungen worden. Emil gab sich alle erdenkliche Mühe, dieses Lied zu errathen, als unten vor dem Hause ein leises Getrappel hörbar wurde und dann eine tiefe Baßstimme herauf rief:

»Offgespaßt da oben; itzt gehts los!«

Dann folgte nach einer kleinen Pause in vollen, reinen Männerstimmen jenes prächtige:


»Ich will Dich auf den Händen tragen

Und Dir mein ganzes Leben weihn.

Ich will in Deinen Erdentagen

Dir stets ein treuer Engel sein!«


Und als Emil das Fenster öffnete, um sich für das Ständchen zu bedanken, ertönte dieselbe Baßstimme:

»Hab ichs alleweil getroffen, Alter, von wegen der Verlobung?«

»Ich wills nicht bestreiten, Anton.«

»Hab mirs gedacht, obgleichs een Anderer nich zuwege gebracht hätte. Een Essenkehrer und 'ne Baronin! Bist mein Seel' een ganzer Kerl; weshalb, das brauchte ich ooch itzt nich erst zu sagen. Offgepaßt Ihr Leute! Fife Lamporör unser Vorsteher zum ersten Male, zum zweeten Male und zum dritten Male! Das Faß von mir is leer; morgen bist Du an der Reihe. Gute Nacht, Emil, altes Haus! – – –«[700]

Quelle:
Wanda. Novelle von Karl May. In: Der Beobachter an der Elbe. 2. Jg. Dresden (1875). Nr. 44, S. 696-701.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Wanda
Wanda
Wanda
Abenteuer in Sachsen - Zwei Erzählungen (Die Rose von Ernstthal, Wanda)

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon