1. Kritik der Ehe in ihrer heutigen Gestalt
Ursachen der zunehmenden Zahl der Zölibatäre – Verkehrung des Werbekampfes.

[1] Zu jeder Zeit gab es irgend etwas, das als »Ordnung« galt. Und wären mit dieser Ordnung alle zufrieden gewesen, so hätten wir uns kaum aus dem Protoplasmaschleim der Tiefsee heraufentwickelt zu dem, was wir sind. Eine bestehende Ordnung für unfehlbar halten, sie aus dem Bereich der Kritik gerückt wissen wollen, hieße gegen jeden Entwicklungsgedanken Front machen. – Das Sexualleben der Kulturwelt basiert auf der Ehe, und die Ehe ist eine »Ordnung«, die des Sinnes durchaus nicht entbehrt. Es fragt sich nur, was diese Ordnung kostet. Solange innerhalb dieser Sexualordnung Mütter auf dem Abort verbluten, wo sie geheim entbinden, Kinder in den Kanälen und bei der Engelmacherin verenden, Frauen zu Dirnen werden, weil ihnen keine andere Existenzmöglichkeit offen bleibt, Syphilitiker, Säufer, Tuberkulöse und Geisteskranke ohne Zeugniszwang verheiratet werden, unerwünschte Kinder zur Welt kommen, für die keine Brotstellen da sind, – sieche, in Verderbnis gezeugte, zum Lebenskampf von Geburt aus unausgerüstete Kinder, die als erwachsene Menschen nur aufhaltend und beschwerend auf den gesellschaftlichen Apparat wirken und ihr eigenes Ich als ekle Last dahinschleppen – solange durch diese Sexualordnung Millionen gesunder Menschen von der Fortpflanzung ausgeschlossen sind, während gleichzeitig, jeder Rassenauslese zum Hohn, jene Elemente am reichlichsten und schnellsten zur Fortpflanzung gelangen, die die »Tüchtigsten« sind – die Ellbogenkräftigsten, Skrupellosesten, der Zeugung gegenüber Unbedenklichsten, wenigst Heroischen – solange ferner Millionen nicht nur an der Fortpflanzung, sondern an naturgemäßem geschlechtlichen Leben überhaupt verhindert sind, teils durch vollkommene Entraffung[2] der Möglichkeiten der Geschlechtsbefriedigung, teils durch Verengung und Erschwerung dieser Möglichkeiten – weitere Millionen nur in der Prostitution dazu gelangen, geschlechtlich zu leben, – solange alle diese Erscheinungen, die sich als die unabtrennbaren Korrelate unserer auf der Ehe ruhenden Sexualordnung erweisen, vorhanden sind, müssen wir diese Ordnung zumindest für höchst reformbedürftig halten.

Nicht selten hört man Ausdrücke der Verwunderung darüber, daß gerade die Frauen es sind, welche gegen die Ehe – als alleiniges Institut des gesellschaftlich legalisierten Geschlechtslebens – Front machen. Und man sagt: die Ehe ist doch für die Frauen da, zum Schutze für sie, nicht für den Mann. Wieso stellen also gerade sie, die Frauen, das Hauptkontingent derer, welche gegen die Ehe (als einziges Monopol des anerkannten, geordneten Geschlechtslebens) auftreten? Und die Antwort, die sich diese Frager selbst geben, lautet: »Die Frauenrechtlerinnen kämpfen gegen die Ehe, weil die Trauben ihnen zu sauer sind.« Stimmt. Jawohl, allermeistens ist die richtige Ehe, wie sie ohne allzu bittere Kompromisse geschlossen werden kann, eine saure Traube. Eine Institution aber, die für Millionen tüchtiger, gesunder, liebestauglicher und zur Elternschaft fähiger Menschen eine saure Traube ist, hat nicht den Anspruch, als alleinige Form des gesellschaftlich erlaubten Geschlechtslebens anerkannt zu werden. In Deutschland allein haben wir ein Plus von einer Million Frauen. Außerdem heiraten überhaupt nur 60% der Männer. Sechs Millionen Junggesellen soll es nach der letzten Zählung in Deutschland geben. Auf diese sechs Millionen Junggesellen kommen acht Millionen »Junggesellinnen«, das sind vierzehn Millionen Ausgeschlossener. Nur durch Übertretung des monogamen Prinzips kommen diese vierzehn Millionen überhaupt zu zeitweiliger Geschlechtsbetätigung,[3] ohne diese Übertretung wären sie, bei gesundem Leibe, zum Leben von Kastraten verurteilt. Nach der Volkszählung von 1900 waren in Deutschland unverheiratete Frauen: im Alter von 18 bis 40 Jahren 44%, im Alter von 18 bis 25 Jahren – also im blühendsten Lebensalter, in dem der Glückshunger der Frau am stärksten ist – 78%! Die Differenz zwischen den beiden Zahlen zeigt zwar, daß 34% dieser Frauen zwischen 25 und 40 Jahren schlecht und recht noch zur Ehe gelangen; meist aber mehr schlecht als recht und unter Kompromissen, die ihnen der Versorgungszwang abnötigt und die den eigentlichen Sinn der Ehe – als »Garten« der Höherpflanzung der Generation und der eigenen Vollendung des Individuums – mehr und mehr Abbruch tun, so daß die außerhalb dieses »Gartens« Stehenden die darin Eingeschlossenen immer weniger zu beneiden Ursache haben. Die Zahl der Zölibatäre wächst denn auch in erschreckendem Maß unter den Frauen sowohl als unter den Männern. Die Ursachen hierfür möchte ich in vier Gruppen teilen: 1. wirtschaftliche, 2. individual-psychologische, 3. rassenbiologische, 4. legislativ-soziale.


Die von der Kulturwelt anerkannte monogame Ehe ruht – noch immer – auf dem Erwerb des Mannes. Des Mannes als Gatten sowohl als des Mannes als Vater, der die Tochter dotiert und ihr damit zur Ehe verhilft. Der Erwerbskampf des Mannes aber wird von Tag zu Tag schwieriger, die Bewertung der Arbeit steigt zwar, gleichzeitig aber, und in höherem Grade, werden die Werte aller Gegenstände der Lebenshaltung von denen, die die Produktionsmittel in Händen haben, höher und höher getrieben. Gleichzeitig wachsen, bei verfeinerter Lebenstechnik, die Bedürfnisse, ihre Befriedigung wird dem einzelnen, auf seine Arbeit Angewiesenen schon[4] für seine Person allein immer schwieriger, immer weniger ist er in der Lage, mehrere Personen davon zu erhalten (zumindest so zu erhalten, daß ihm seine Existenz, im Verein mit ihnen, menschenwürdig erscheinen sollte), immer unmöglicher wird es ihm, auch noch Vermögen für die Töchter wegzulegen, da er ja auch mit der Versorgung seiner selbst für seine alten Tage zumeist auf eigene Ersparnisse angewiesen ist. Frauenarbeit – Miterwerb der Frau – sollte da helfend eingreifen. Dieses Mittel muß aber ein mangelhaftes, durchaus unzuverlässiges bleiben, solange erstens: für den Ausfall am Erwerb des Weibes durch seine Geschlechts- und Fortpflanzungsfunktionen nicht ein Ersatz in vollem Wert dieses Erwerbes geschaffen ist, sei es versicherungstechnisch, sei es durch direkte Initiative der Gesellschaft, die die mit der Fortpflanzung und Aufzucht der Generation beschäftigte Frau in ihren Beamtenstatus einreiht. (Unter welchen Möglichkeiten dies geschehen kann und welche Ansätze zu dieser Gestaltung der Sachlage in der Zeit bereits vorhanden sind, soll an anderer Stelle eingehend erörtert werden.) Diese Geschlechts- und Fortpflanzungsfunktionen nicht zu berücksichtigen, von der Frau, trotz dieser, vollwertigen, regulären Außenerwerb zu erwarten, wie es die Frauenbewegung in ihren Anfängen (wohlgemerkt: nur in diesen) unternahm, hieße von der Frau nicht die gleiche Leistung wie vom Mann, sondern die doppelte, unter Umständen zehnfache verlangen, – und die Menschheit, durch Zermalmung der Mutterkraft, in eine Sackgasse hineintreiben, aus der sie nur schwer lädiert und in ihrer Vervollkommnung um Jahrtausende zurückgeworfen, herausfinden könnte. Die zweite Voraussetzung, unter welcher Frauenarbeit als Mittel erleichterter Eheschließung in Frage kommen könnte, wäre die, daß der Frau – immer solange sie nicht mit Fortpflanzungsarbeit beschäftigt ist – wirklich und[5] mit derselben Selbstverständlichkeit wie dem Mann jede Berufsarbeit, die sie zu leisten vermag, freisteht, daß deren Bewertung die gleiche ist, wie die der vom Manne geleisteten Arbeit – nicht wie heute, wo Frauenarbeit ein Taschengeld für Haustöchter einbringt oder durch Prostitution ergänzt werden muß, um den Unterhalt der Frau zu decken und in der Hand des Unternehmers ein willkommenes Mittel zur Lohndrückerei der Männerarbeit wurde. Drittens müßte endlich, wenn Frauenerwerb die Eheschließung erleichtern sollte, diese als Mittel zur Eheschließung anerkannt werden, d.h. die Frau nicht Amt und Einkommen verlieren, gerade weil sie heiratet, wie heute die Lehrerin, die Staatsbeamtin, in vielen Fällen auch die Privatangestellte. Aus der Zwickmühle: Stelle und Einkommen und Zölibat oder Ehe und Stellenverlust kommen die, die mit dem Verdienst der Frau als Mittel zur Eheschließung rechnen, zumeist nicht heraus. Verdammt aber die Berufsarbeit die Frau zum Zölibat, so muß sie geradezu als antiselektorisches, die Rassenauslese verfälschendes Moment betrachtet werden.

Die Erhaltung der Familie ruht also nach wie vor auf dem Mann, und die Schwierigkeit dieser Erhaltung ist die erste und wichtigste in der Gruppe der Ehehemmnisse, die das Anwachsen der Zahl der Zölibatäre zur Folge haben.

Eine Folgeerscheinung dieser Konstellation, die durch die Aufsaugung der Güter durch den Kapitalismus verursacht ist, ist der enorme »Marktwert« des Mannes, des heiratsfähigen und heiratswilligen Mannes. Damit sind wir in gröbste Unnatur, tief unter den arterhaltenden Zustand, der selbst die wilden Völkerstämme vor Degeneration bewahrt, herabgesunken. Jede Möglichkeit der Auslese der Besten, der Fortentwicklung einer Rasse steht und fällt mit der Wahlfreiheit des Weibes (und des[6] Mannes natürlich). Wenn die Frau in der Lage ist, sich erobern und schwängern zu lassen – vom Stärksten, Tüchtigsten – dann ist die »Auslese« am Werk. Wenn sie aber einerseits noch bezahlen muß (mit ihrer Mitgift) dafür, daß sich überhaupt jemand bereit findet, sie (unter den einzig erlaubten Umständen) zu schwängern, andererseits sich dem Kaufkräftigsten, das ist in unserer »Zone« gewöhnlich ein schon abgetakelter, biologisch durchaus nicht hoch in Anschlag zu bringender Herr, ergeben muß – dann ist ein Prozeß der Herabzüchtung im Gange, der nur durch das heroisch-leichtsinnige Herausspringen der Unbotmäßigen aus dieser »Ordnung« einigermaßen aufgehalten wird.

Bei den Naturvölkern bildet samt und sonders das Mehrbegehrtwerden der Frau die Basis der sexuellen Werbekampfes Auslese. Ein Maori-Sprichwort heißt: »Ein Mann kann noch so schön sein, er wird nicht begehrt; eine Frau mag noch so gewöhnlich sein, so wird der Mann doch begierig nach ihr verlangen.« So ist's bei den Maori, wohlgemerkt! Bei uns ist das strikte Gegenteil der Fall. Frauen von Schönheit und Anmut und allen möglichen Gaben des Geistes und Herzens haben es schwer, »einen Mann zu bekommen«. Der erbärmlichste Wicht aber kann Hunderte von Frauen zur Ehe haben, wie die Fälle der Heiratsschwindler am deutlichsten beweisen. Wo wäre eine Frau, und sei es die reizvollste oder die beste, mit der Hunderte von Männern bereitwillig zum Standesamt gingen, notabene unter Auslieferung ihrer gesamten Ersparnisse? »Bei den Kreuzungen zwischen ungleichen Menschenrassen gehört der Vater fast immer der höheren Rasse an,« berichtet Westermarck. Innerhalb unserer weißen Rasse ist aber, umgekehrt, bei der Paarung zwischen minder- und höherwertigen Typen die entgegengesetzte Tendenz an der Tagesordnung: der degenerierteste Mann an der Seite der schönen, gutentwickelten[7] Frau ist keine Seltenheit, und »ein Mann braucht nicht schön zu sein« ist gerade bei uns zulande eine geläufige, höchst bezeichnende Redensart. Nein, er braucht nicht schön zu sein. Er braucht sie nur zu heiraten, dann kann er ihrer so viele haben, wie weiland Don Giovan.

Mit dieser Konstellation, einer Folge unseres Wirtschaftssystems, sind jene natürlichen Voraussetzungen, von deren Erfüllung das Entstehen immer vollkommenerer menschlicher Wesen abhängt, verrückt, verdreht, auf den Kopf gestellt. Der »Kampf um das Weib«, dieses scheinbar unumstößliche Naturgesetz, das seine tiefwurzelnden Ursachen darin hat, daß das beweglichere, freiere (weil von der Fortpflanzung unbeschwerte) Geschlecht, der Mann, das durch die Begattung gefährdete und beschwerte Geschlecht, das Weib, selbstverständlich umwerben muß, damit es sich der Begattung ausliefere – dieses Fundamentalgesetz auf den Kopf zu stellen, hat unsere kulturelle »Entwicklung« fertiggebracht, indem sie das Weib dahin gelangen ließ, daß es sich sein Begattetwerden noch erkämpfen, erlisten, erkaufen muß, um überhaupt dazu zu gelangen. Indem die Fortpflanzungsmöglichkeit auf eine Institution gestellt wurde, die mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Mannes steht und fällt, wurde die Fortpflanzung selbst Sache des sozialen Kalkuls bei Mann und Weib und hörte auf, eine Erscheinungsform der Zuchtwahl zu sein.


Die individual-psychologischen Ursachen der zunehmenden Ehelosigkeit ergeben sich vor allem aus der zunehmenden Differenziertheit auch der seelischen Bedürfnisse, den wachsenden Anforderungen, die in jeder Hinsicht an das zu wählende sexuelle Komplement gestellt werden. Ein Zustand, der so teuer bezahlt wird – mit der vollen Einsetzung der Arbeitskraft von seiten des[8] Mannes, häufig auch des Weibes – dessen Auflösung immer schwieriger wird, der von hundert Faktoren abhängt, die da alle »stimmen« sollen, damit er überhaupt erreicht wird – der jede weitere sexuelle Wahlmöglichkeit so gut wie abschneidet, hat zur Voraussetzung, daß außer der Übereinstimmung der sozialen Verhältnisse der beiden Kontrahenten auch die individuell-persönlichen Neigungen, Gewohnheiten, Anschauungen der beiden Ehepartner zusammen stimmen. Die Ursache, warum diese Forderung heute stärker ist als ehemals, dürfte wohl in dem Umstand zu suchen sein, daß das Individualbewußtsein, das Klassenbewußtsein oder gar das Nationalbewußtsein des einzelnen mehr und mehr überwächst. Früher vertrat das Individuum in stärkerem Maße als heute den Typus seines Volkes, seiner Rasse, seiner Sprachgemeinschaft, seines Berufes, seiner Zunft und Klasse. Alle diese Gegensätze lösen sich mehr und mehr im kosmopolitischen Individualismus. Innerhalb einer weiten Gemeinschaft konnte der eheliche Partner leichter gefunden werden, weil er hauptsächlich nur die Merkmale eben dieser Gemeinschaft aufzuweisen hatte. Heute aber sollen hundert individuelle Anlagen eines Menschen ihre befriedigende Komplementierung durch einen andern finden, außerdem sollen auch noch die sozialen Bedingungen der Ehemöglichkeit erfüllt sein – was Wunder, daß diese selbst immer problematischer wird. Die Parallelerscheinung dieses Vorgangs ist aber auch die, daß der Geschlechtsimpuls als solcher um so schwächer wird, je schärfer die Analyse ist. Es gibt tausend Mittel, besonders für den Mann, ihn »abzuleiten«, zu »beruhigen«, er kann ihn durch Benützung der Prostitution und des »Verhältnisses« so weit befriedigen, daß er um seinetwillen keine »Dummheiten« macht. Perversionen aller Art, die in allen Kreisen geübt werden, tun das Ihre, die Macht des Sexualtriebes, demzufolge der Mensch begehrend ein[9] geliebtes Wesen an sich reißt und sich ihm verbindet, zu zermürben, ja die stärkere Hinneigung zu einem Wesen anderen Geschlechtes wird meistens von vornherein mißtrauisch als »Gefahr« betrachtet, unter das Seziermesser der Analyse genommen, bis sie glücklich »überwunden« ist. Mit der Brechung und Schwächung der sexuellen Impulse wird zwar so mancher »Sieg der Vernunft« errungen, dem deutlichen Willen der Natur, nach Entstehung bestimmter Kreuzungsprodukte, um dessentwillen sie sich dieses »Triebes«, den man so vernünftig zu besiegen versteht, bedient, aber ein Schnippchen geschlagen.


Die rassenbiologischen Hindernisse stellen nur eine Erweiterung der individuellen dar. Warum ist denn der oder die »Richtige« so schwer zu finden? Vor allem, weil er zur richtigen Zeit, in den richtigen passenden »Verhältnissen« gefunden werden muß. Auf der Welt ist er vielleicht, aber er spaziert vielleicht gerade auf dem Mars, während man sich selbst auf dem irdischen Planeten abmüht. Er würde aber öfter und schneller »gefunden« werden, wenn die Zahl jener Menschen, die durch ihre Persönlichkeit eine andere befriedigen, beglücken können, eine größere wäre. Wenn man dann in diesem Fall – neben den »Richtigen« griffe, wäre er eben auch »richtig«. Was die Gestalten der Einheiten »Rasse«, »Individuum«, »Menschheit« voneinander unterscheidet, ist ja nur ihre Dimension. Quantitativ, nicht qualitativ sind diese Einheiten verschieden. Daß die Rassen degenerieren, heißt, daß zahllose Individuen in ihrer körperlichen und seelischen Beschaffenheit herabgemindert werden und weniger und weniger imstande sind, ihre Glückssehnsucht aneinander zu befriedigen. Daß sich dieser Zustand der herabgeminderten persönlichen Beschaffenheit aber unentwegt vererbt, hat seinen Grund in der Entraffung der[10] Bedingungen einer unverfälschten Auslese, unter deren Zeichen die Kulturmenschheit steht.

Hier schließt sich der circulus vitiosus – wir stehen am Ausgangspunkt unserer Betrachtung.

Gezeugt und geboren – zumindest unter den von der Gesellschaft sanktionierten Bedingungen – wird nur innerhalb einer Institution (der legitimen Ehe), deren Bestand von dem Vorhandensein hunderter sozialer Faktoren abhängt. Die sexuelle Auslese hat da an letzter Stelle Anspruch auf Beachtung. Die Kinder, die durch wirkliche Auslese entstehen könnten – durch die von keinerlei wirtschaftlich-sozialen Bedenken abhängige Verbindung zweier Menschen, die sich aneinander hingeben, weil sie einander gefallen, dürfen nicht geboren werden, werden der Gattung rundweg unterschlagen. Und wenn sie geboren werden, werden sie hineingestoßen in soziale Verhältnisse, unter denen sie verderben müssen. (Daß die »Unehelichen«, deren erschreckende Morbiditätsziffern man als »Beweise« für die schlechten biologischen Resultate der freien Verhältnisse ausspielt, in hohem Prozentsatz zugrunde gehen, ist doch nicht ein »Naturgesetz«, sondern ein Resultat sozialer Mißstände und im Gegenteil die schlimmste Anklage gegen die bestehende »Ordnung«, nicht aber ein Beweis ihrer Notwendigkeit.) Geboren werden die Kinder von Vätern, die im scharfen Lebenskampf ihre besten Energien bereits verbraucht haben, am Seuchenherd der Prostitution ihre biologischen Kräfte verwirtschaftet haben, ehe sie dazu kommen, zu heiraten – die Kinder von Müttern, die von den Gemahlen meist infiziert sind, keine Wahlfreiheit haben, sich dem, den sie lieben, hinzugeben, eventuelle Degenerationsmerkmale mit einer soliden Mitgift zudecken können und gewöhnlich einen passablen geistigen Durchschnitt repräsentieren (denn die Selbständigeren begeben sich nicht leicht der Wahlfreiheit und gelangen daher schwerer zu Ehe und Fortpflanzung).[11] Ferner die Kinder des abgearbeiteten, durch Trunk und Unterernährung geschwächten Proletariates.

Nicht geboren werden die Kinder schöner, junger, starker Menschen, die nichts zueinander führt als ihr Begehren nach einander, ihre Freude aneinander, die deutliche Stimme ihrer ungebrochenen Sexualimpulse. Die dürfen nicht zur Welt.


An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Auch der Wert der monogamen Ehe, als allein anerkannten Instituts der Fortpflanzung, als einziger Basis der Generation, kennzeichnet sich an ihren »Früchten«. Jeder Mann müßte am Anblick jedes Weibes, das im Alter zu ihm paßt, und umgekehrt, jedes Weib an jedem Mann Freude finden, und die Möglichkeit, den richtigen Partner zur dauernden Sexualgemeinschaft unter dieser Riesenzahl begehrenswerter Menschen einer Altersstufe herauszufinden, wäre unter natürlichen Bedingungen ebenso groß, als sie heute gering ist. Statt dessen erfahren wir, daß den meisten vor den meisten schaudert, besonders die Besseren stehen in grausamer Isolierung. Das ist der rassenbiologische Grund der zunehmenden Ehelosigkeit.


Die legislativ-sozialen Ursachen der zunehmenden Ehelosigkeit liegen in der mausefallenähnlichen Architektur des Eherechtes. Kaum sind die Angelockten drinnen, schwupps fällt die Klappe zu. Die Eheschließung ohne Spezialkontrakte von ungezählten Paragraphen ist nahezu eine Lebensgefahr. Sie liefert zwei Menschen, insbesondere die Frau, bis zur lebensgefährlichsten Bedrohung an Leib und Leben und Eigentum an ihren Partner aus. Vermögen, Gesundheit, Kinder, Freiheit – alles das ist einer anderen Person ausgeliefert auf Gnad[12] und Ungnad, und die Befreiung kostet oft übermenschliche Kraftanstrengungen. Die Erschwerung der Scheidung ist mit ein Grund der verminderten Eheschließung. Denn man überlegt es sich, in diese Mausefalle hineinzuspazieren.

Die Abschließung eines Privatkontraktes müßte ebenso obligatorisch werden, als beiderseitige Gesundheitsatteste. Heute ist der eine Partner »beleidigt«, wenn der andere einen Ehekontrakt verlangt. Auch können die hunderterlei Gefährdungen von jedem einzelnen nicht selbst durch entsprechende Paragraphen vorgesehen werden, müßten vielmehr in einem für alle Fälle ausgearbeiteten Schema vorliegen und je nach Bedarf in Anwendung kommen.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 1-13.
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