5. Resolutionen
Erst das Wort, dann die Tat – Unser »Wort« ein Sammelwort für das Stöhnen von Millionen – Unser Elend – Reformvorschlänge – Mutterwille, Mutternot, Mutterschutz – Das erwachende Rassebewußtsein und der stolzere Geschlechtsanspruch der Individuen – Durch befreites Naturwollen, der Zivilisation einverleibt, Sturz der Schändungen und Travestien des Geschlechtslebens.

[407] Durch die Voraussetzungen unserer Sexualordnung und die sich aus ihnen ergebenden Resultate werden eine ganze Menge Menschen, die durchaus zeugungsfähig, begehrenswert und begehrt sind, vom sexuellen Leben ausgeschlossen. Dies die Resolution, wie sie sich kurz und bündig aus unserer Untersuchung ergibt. Dieses Elend hat nicht nur verzweifelte Auflehnung hervorgerufen, es hat schließlich auch nach deutenden Worten gesucht.

Wenn wir auf eine sich vorbereitende andere Sexualordnung hier öfters hingewiesen haben, deren Wege und[407] Ziele wir in den folgenden Büchern dieser Arbeit des genaueren darzutun haben werden, so ist dabei keineswegs an eine »Revolution« gedacht. In dieser Sache, in der Sache des Geschlechtes, kann es keine »Revolution« geben, und es bedarf auch keines vehementen Umschwunges. Wir denken an eine mögliche Veränderung der Voraussetzungen und Bedingungen des gesellschaftlich anerkannten Geschlechtslebens der Menschen nicht etwa in dem Sinn, daß eines Tages, oder besser gesagt eines Nachts um 12 Uhr, alle Glocken läuten werden und mit diesem Stundenschlag die »neue Sexualordnung« beginnt. Veränderte Wertungen ergeben sich aus veränderten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen sind aber schon im Entstehen begriffen. Wir sehen in dem erwachenden Rassegefühl, welches zu einem großen Verantwortungsgefühl der Gesellschaft gegenüber dem in ihr erzeugten Menschenmaterial sich auswachsen muß und wird, eine solche Voraussetzung. Dieses Rassegefühl wird in einer bewußten Rassenhygiene seinen Ausdruck finden, und deren zentralstes Reformbestreben muß dahin gehen, einen hohen gesellschaftlichen Mutterschutz durchzusetzen, einen Schutz, der der Mutter und dem Kinde gilt. Aber nicht nur diesen Schutz der schon gezeugten Kreatur wird die Rassenhygiene fordern müssen, sondern sie wird schon die vorgeburtliche Beschützung des gesunden Keimes verlangen. Sie wird daher alle Möglichkeiten, welche zur Erzeugung gesunder, starker, tüchtiger Menschen führen, begünstigen und alle die, durch welche minderwertige Erbmassen beständig weitergegeben werden in der unendlichen Reihe des Lebens, bekämpfen.

Die zweite Instanz einer möglichen Sexualreform ist die Frauenbewegung. Sie muß der Frau die sexuelle Wahlfreiheit erobern helfen, sie muß sie durchaus unabhängig machen, von der »Versorgung« durch den Mann, aber[408] immer mit der Voraussetzung des Mutterschutzes, der die Frau von jedem Erwerbszwang entlastet in der Zeit, in der sie mit dem Werden des neuen Lebens und mit der Aufziehung der Kinder beschäftigt ist. Diesen Mutterschutz wird also teils die Gesellschaft auf versicherungstechnischem Wege übernehmen müssen, eine Reform, welche sich schon heute in überraschend zahlreichen Ansätzen bemerkbar macht. Auf der anderen Seite wird in erhöhtem Maße der Vater für die Erziehung auch seines unehelichen Kindes herangezogen werden müssen. Der dritte Faktor ist eine hohe sozial-pädagogische Fürsorge der Gesellschaft dem Kinde gegenüber, welche seine Erziehung vor Dilettantismus und Willkür der Privatwirtschaft sichert und gleichzeitig die Mutter entlastet. Der vierte Pfeiler, auf dem der Bau eines reformierten Sexuallebens ruht, ist die vollkommene moralische Anerkennung jeder gesunden Mutterschaft. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, dann ist einer falschen Zuchtwahl der Boden abgegraben. Dann hat kein Weib nötig, sich einem minderwertigen »Versorger« zu ergeben, kein tüchtiger Mann braucht ein minderwertiges Weib in Kauf zu nehmen, keine Mutter, die ihr Kind in Gesundheit und in Liebe willig empfangen hat, braucht es zu töten oder im Keim zu vernichten, oder es in Not, Elend und Schmach zu wissen. Keine Empfängnis, die ein wertvolles neues Menschenleben verheißt, braucht verhütet, keine elende, in unzüchtiger Kalkulation empfangene Frucht braucht ausgetragen zu werden.

Wie alt der Gedanke ist, den wir hier »Wort« werden ließen, läßt sich nicht feststellen, in hundert versplitterten Stimmen klang er immer wieder auf, und es wird noch ein schönes Stück Zeit vergehen, ehe er »ein wirkliches Schwert wird und eine wirkliche Gewalt«. Genug, dieses Problem hat gelastet, und diese Last wurde als solche erkannt und hat Worte gefunden. Wir haben zusammenzufassen gesucht, was an Geschlechtsnot und an Geschlechtskrise[409] in der Zeit gärt, und unser »Wort« ist daher nur ein Sammelwort für das Stöhnen von Millionen. – Unser Elend ist unermeßlich. Wir stehen da, geknebelt in unserem mächtigsten Bedürfnis, der Verdächtigung und Beschimpfung ausgesetzt, weil wir es haben (!), verhindert durch äußere und innere Gewalten, durch Mißstände in der Gesellschaft und in der Einzelperson, durch wirklichen Zwang und durch noch mächtigere Suggestionen, dieses Bedürfnis zu befriedigen.

Die Polemik dieses Buches hat sich nicht – dies sei nochmals ausdrücklich hervorgehoben – gegen den Bestand der Ehe gekehrt. Die Ehe mag ruhig als eine bevorzugte Form der Sexualgemeinschaft unter anderen – bestehen bleiben, bis in alle Zukunft. Wir haben ja im ersten und zweiten Kapitel ihre unschätzbaren Vorteile hervorgehoben und besonders in dem Moment des offiziell erklärten sozialen Zusammenschlusses eines Paares, sowie in dem der suggestiven Wirkung, die aus dieser Form der Gemeinschaft sich ergibt, hohe Werte erkannt. Die Ehe wird unter gewissen Bedingungen immer eine sehr erwünschte Form der Geschlechtsgemeinschaft bleiben. Gebundenheit liegt im Wesen erotischer Beziehungen, die auf ein dauerndes Glück abzielen, und wird und soll das Streben der Individuen bleiben. Aber erpreßt darf diese Gebundenheit nicht werden, und jene Menschen, die diesen Glückszustand der freiwilligen und lebenslänglichen Geschlechtsverbindung nicht erreichen, ihres Geschlechtslebens überhaupt zu berauben, sie bei gesundem Leibe zum Leben von Krüppeln zu verdammen, unter der Gefahr der Verfemung, wird wohl der Zukunft nicht mehr angängig erscheinen. Feste und dauernde Monogamie ist ein ausgezeichneter Zustand, weil er die Energien des Menschen für andere, außerhalb der Erotik liegende, hohe Aufgaben schont. Aber durch ein Zwangsgehege, das das Individuum in seiner Wahlfreiheit[410] beschränkt, darf die monogame Einzigehe nicht herbeigeführt werden, und als erste Karte ist die richtige Monogamie wohl auch nicht im Lebensspiel zu ziehen. Wogegen wir uns hier wenden mußten, das ist eben die Monopolisierung dieser einen Form der Geschlechtsgemeinschaft, die sie zur einzigen rechtlich und gesellschaftlich anerkannten Basis der Fortpflanzung erhebt. Diese heuchlerische und drakonische Monopolisierung allein macht das System der herrschenden Sexualordnung heute zur Quelle der sexuellen Krise, zur Ursache des verkehrten Werbekampfes, der verfälschten Auslese und damit der Degeneration der Menschheit. Diese Monopolisierung allein bewirkt, daß, wie wir im Vorwort sagten, »jene Vorgänge, die ihrer Natur nach lebenerhaltend, lebenfördernd und hinaufzüchtend sind, heute nicht selten zu Mächten der Vernichtung, der Hemmung und der Rückbildung werden«.

Mann und Weib müssen gleicherweise frei werden, sich als soziale und erotische Kräfte zu entwickeln, auch bevor sie zum Abschluß einer legitimen Ehe schreiten, sie müssen das Recht haben, sich unter günstigen biologischen Bedingungen fortpflanzen zu dürfen – also dann, wenn sie auf der Höhe ihrer Zeugungskraft stehen und sich in freiester, durch kein soziales Kalkül beeinträchtigter Auslese gefunden haben – auch wenn sie den echten und bleibenden Weggenossen, den ihre Herzen ersehnen und mit dem sie sich vielleicht auch in legitimer Ehe verbinden wollen, noch nicht fanden. Dazu bedarf es der besonderen Beschützung des Weibes, sowohl durch materielle Vorsorge für jede Mutterschaft, als auch, und vor allem, durch die moralische Anerkennung jeder gesunden, die Rasse höher führenden Fruchtbarkeit. Dann erst werden die hohen Werte eines befreiten erotischen Lebens wirksam werden.
[411]

Wie wir vor einer Umänderung der wirtschaftlichen Basis der Gesellschaft stehen, so auch vor einer Veränderung der Formen des sexuellen Lebens. Die Zeit ist schwanger von Reformvorschlägen, die sich alle das Problem stellen, ein anderes System der Beziehungen der Geschlechter, als das gegenwärtig approbierte, ausfindig zu machen, da in der alten »Ordnung« zu viel Elend enthalten ist. Diese Reformvorschläge zu untersuchen, wird unsere Aufgabe in dem zweiten und dritten Buche dieser Arbeit sein, wo wir uns auch mit den krisenhaften Vorgängen, die aus dem neuen starken Mutterwillen des Weibes, aus der gegebenen Mutternot, aus dem mangelhaften Mutterrecht und aus dem sich stark und hoffnungsvoll vorbereitenden Mutterschutz ergeben, zu befassen haben werden, ebenso mit der Stellung der Gesellschaft dem Kinde gegenüber.

Reformversuche haben nur Sinn unter der Voraussetzung der Offizialität, denn das Schutzmoment jeder Sitte, jeder Moral liegt darin, daß sie ein Obligo ist. Die Bestie im Menschen wird nur durch eine ihm offiziell auferlegte Obligation bezwungen. Alte Obligationen – und gar auf dem gefährlichen Gebiet der Geschlechtsmoral – einzureißen, ohne neue an ihre Stelle zu setzen, würde ein verhängnisvolles Spiel mit menschlichen Existenzen zur Folge haben. Vereinzelte private »Verbesserungsversuche« bedeuten daher für die Allgemeinheit nichts – es sei denn, daß sie vielleicht die Stimmung der Allgemeinheit nach einer gewissen Richtung beeinflussen und neue Obligationen als notwendig erkennen lehren. Im allgemeinen werden Emanzipationen einzelner, die sich auf keine der Zeit angehörende Theorie zu stützen vermögen und neue Allgemeingültigkeiten weder anstreben noch vorbereiten, niemanden nutzen, zumeist sogar Schaden anrichten, und die sie Übenden werden obdachlos, schutzlos, ausgeliefert aller Willkür der Gesetzlosigkeit, zwischen zwei Moralwelten stehen.[412]

Das Wesen neuer vollgültiger Obligationen, die dem Sexualgewissen – wie wir die Nötigung nach sexual-moralischen Instanzen eingangs nannten – der heutigen und der kommenden Menschheit besser entsprechen als die bisher bestehenden, zu erkennen, sie aus den vorhandenen Ansätzen zu deuten, ihre Wachstumsrichtung und ihre Entwicklungsfähigkeit zu prüfen, wird die Aufgabe der folgenden Bücher dieser Arbeit sein. Das Bild einer Sexualordnung der Zukunft, wie wir sie aus alle diesen Strebungen, die überall laut werden, zu erkennen glauben, wie sie aus dem wachgerufenen Rassebewußtsein einerseits und dem stolzeren Geschlechtsanspruch der Individuen andererseits sich ergeben muß, werden wir aufzurollen wagen und in seinen Hauptpunkten zu fixieren suchen.

Die Menschheit, einmal aufgerüttelt, wird um toter, formalistisch gewordener Werte willen, deren einstmals lebendiger Inhalt unwiderruflich dahin ist, nichts mehr wissen wollen von der bisherigen Unterbindung der freien Auslese, von Verkehrung des Werbekampfes und all ihren schmachvollen Folgeerscheinungen, nichts von erotischer Aushungerung, nichts von der gemeinen Mechanisierung der geschlechtlichen Vorgänge, wie sie unser Heiratssystem und seine »Kehrseite«, die Prostitution, bedingen. Die Zeugung gesunder, starker, schöner Menschen in freiester Auslese und nach Maßgabe der vorhandenen Brotstellen soll wieder, dem mächtigsten Wollen der Natur gemäß, die einzige goldene Parole des Geschlechtslebens werden. Und ist dieses geknebelte Naturwollen erst wieder frei, ist es dem Bereich des unbewußt wirkenden Elementaren entrückt und bewußter Kulturwille geworden, ist es der Zivilisation entsprechend eingefügt, das heißt in allen seinen Konsequenzen von ihr vorgesehen und beschützt – dann sinken die Schändungen und Travestien des Geschlechtslebens, unter deren Zeichen[413] wir heute stehen, dahin. Dann schreitet Pan wieder über die Gefilde der Erde, dann ist das Himmelsmanna, die Liebe, wieder der armen Irdischen Speise. Dazu aber muß der Mittelpunkt dieses großen Naturwillens wieder frei werden, frei und doch beschützt zugleich, wie wir es schon einmal sagten – der weibliche Schoß – muß die Mutter mit dem Kinde wieder die große und wahrhaft heilige, weil natürliche zentrale Einheit aller gesellschaftlichen Gliederung werden.

In die düstersten und schmutzigsten Winkel wird heute jede geschlechtliche Regung, jedes erotische Erlebnis außerhalb der Ehe verwiesen. Die Folgen sind Geschlechtsseuchen, Hemmung der Höherentwicklung der Art durch verfehlte Zeugung, die erschreckende Überhandnahme aller nur erdenklichen Psychosen und Neurosen, Perversionen und moralische Korruptionen aller Art. Von drei Seiten wird der Mensch auf diese Art zerstört: er wird geschlechtskrank, nerven- und seelenkrank und moralisch krank.

Und darum müssen wir alle, die wir an dem Elend dieser Krise bewußt leiden, nach Maßgabe unserer Erkenntnis das tun, was jene Ibsensche Lona Hessel tut: auslüften diese dunklen, schmutzigen Winkel, wo immer wir auf sie stoßen.

Auslüften – das will auch dieses Buch. Und somit nehme es seinen Weg.[414]

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 407-415.
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Das Wesen Der Geschlechtlichkeit: Die Sexuelle Krise in Ihren Beziehungen Zus Socialen Frage Zum Krieg, Zu Moral, Rasse Religion Insbesondere Zur Monogamie (German Edition)

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