3. Die Errichtung von Extremforderungen
Die Bewachung des weiblichen Schoßes eine Folge des Vaterrechtes – Das höhere »Vaterrecht« der Zukunft – Das Kind als Argument der doppelten Moral – Urgrund der Moralen: Artinteressen – Keuschheitsforderungen notwendig – Sexuelle Freiheit sowohl als sexuelle Beschränkung im Hinblick auf die Nachkommenschaft und Rasse – Die Emanzipation einzelner nur ein Mittel zur Entstehung neuer Organisationen der Sittlichkeit.

[92] Diese alte Moral liebt die Extreme. Sie verlangt den einen Frauen, wie Adele Schreiber einmal ausgeführt hat, daß sie, einmal verehelicht, so viele Kinder gebären, als sie Befruchtungen zu empfangen vermögen, von anderen wieder – gesunden jugendlichen Frauen – daß sie keinem angehören und keine Kinder gebären, von anderen wieder, daß sie sich zwecks Befriedigung eines angeblich vitalen Bedürfnisses unzähligen Männern immer wieder hingeben. Und doch läßt sich die Sexualität der Frau auf keine Formel bringen, auf keinen moralischen Imperativ, so wenig wie die des Mannes. Die Beurteilung des Geschlechtslebens ist einzig zulässig, wenn sie alle Voraussetzungen, auf denen die Existenz des Individuums ruht, seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage, seine seelischen und seine physischen Bedürfnisse, in Betracht zieht.

Daß die Bewachung des weiblichen Schoßes der Begründung nicht entbehrt, ist durchaus nicht zu übersehen. Sie ist eine notwendige Folge des Vaterrechtes. Es ist richtig, daß die ausschließliche Monogamie des Weibes gefordert werden mußte – wenn auch der Mann die gleiche Verpflichtung nicht einging – da er der Ernährer der Kinder des Weibes war. Inwieweit er ihren Schoß absperren konnte, während er gleichzeitig grenzenlose Freiheit sich bewahrte, auf welch minimales Bruchteil geschlechtlichen Lebens er sie setzen konnte, zeigt uns der Orient im Haremssystem. Zähneknirschend nahm der Mann das Joch der Familienvaterschaft auf sich, nichts liegt seiner Natur ferner als dies. Das Weib mußte diese »Versorgung« durch Verzicht auf seine ursprünglichsten[92] Menschenrechte – des Rechtes auf freie Wahl der Sexualgemeinschaft und des Rechtes auf den freigewählten sozialen Wirkungskreis – bezahlen. Wie wenig verläßlich diese Versorgung dabei ist, lehrt das tausendfache Ausspringen des Mannes aus seinen Verpflichtungen. Erst die Zukunft, die über der physischen Vaterschaft die höhere und freiere Vaterschaft der Gesellschaft anerkennen wird, wird das gleiche Sexualrecht für beide Teile bringen. Erst dann wird sich vielleicht auch echtes Vatergefühl im Manne entwickeln, wenn er das Anrecht an seine Kinder durch sein Verhalten erobern müssen wird. Solange Furcht und Zorn über die Last seiner Verpflichtungen in ihm durch die Vaterschaft entsteht, konnte nur durch konsequente Suggestion, wie sie im »Familienleben« geübt und gezüchtet wird, etwas wie ein Vatergefühl in ihm erweckt werden. Daß dieses Gefühl kein echtes und unbedingtes ist – so echt und unbedingt wie das Muttergefühl, welches unter normalen Umständen nie versagt – beweist die Fahnenflucht des Mannes vor der Vaterschaft außerhalb der Suggestion des Familienlebens.

Daß die weibliche Zurückhaltung, das Prinzip des Nichts-Gewährens »als mit dem Ring am Finger«, heute einen wirtschaftlichen, ja auch einen psychischen Wert darstellt, ist sicher. Innerhalb der gegebenen Voraussetzungen ist diese Doppelmoral ein »Schutz« des Weibes, ein Wall, hinter dem es noch am ehesten gesichert erscheint, und außerhalb dieses Walles wartet auf sie nicht selten Schmach und Elend.

Die Geschlechtsmoral der Frau ist als Schutz für sie gedacht, gewiß, das ist nicht zu verkennen. Aber auch das Gitter an den Fenstern des Harems, auch die Beaufsichtigung durch verstümmelte Wächter ist als »Schutz« da, und doch könnten wir ihn nicht mehr ertragen. Es heißt eben Schutzvorrichtungen schaffen,[93] die die »Beschützten« nicht zu Gefangenen, zu willenlosen Werkzeugen ihrer »Beschützer« machen.

Selbst bei den wilden Völkern besteht die Vorstellung, daß eine Schutzwehr um das Weib zu ziehen sei in Form von Verboten, der Verführung Gehör zu geben. Der Grund ist in der verantwortungsschweren Natur der geschlechtlichen Vorgänge zu suchen und ihren nicht wegzuleugnenden Folgen – nicht nur für die Nachkommenschaft – sondern auch für die persönliche Existenz und das Gemütsleben des Weibes. Diese Vorgänge sind ihrer Natur nach nicht »harmlos« und dürften es bei größter Kulturroutine auch niemals werden. Insofern wäre der Moralmauer, die um das »leicht verletzliche Geschlecht« gezogen wurde, ihr Zweck, zu schützen, nicht abzusprechen, hätte sie nicht andererseits dieses Geschlecht in widernatürliche Konflikte und unerträgliche Abhängigkeit gebracht. Daß es ohne Schutz nicht geht, ist sicher, aber ein anderer Schutz als der Wall der doppelten Moral wird gefunden werden müssen.

Außer allen anderen Argumenten für die Berechtigung des Ansturms auf die doppelte Moral, der jetzt von allen Seiten, auf denen Menschen für eine Reform der gesellschaftlichen Werte Lanzen brechen, erfolgt, ist besonders eines nicht zu unterschätzen, das in aller seiner Schlichtheit vielleicht das zwingendste ist. Dieses Argument heißt: es geht nicht anders. Wir kommen praktisch mit den Maximen der alten Doppelmoral so wenig durch, als wenn wir uns etwa darauf kaprizieren würden, unsere Reisen per Postkutsche zu machen. Die Mittel, diesen Wunsch zu befriedigen, wären eben nicht da. Wir müssen in die Eisenbahn, um weiter zu kommen, ob wir wollen oder nicht – und wir müssen auf eine neue Weise »moralisch« sein und unser seelisches Gleichgewicht zu erhalten suchen, weil die Mittel, nach der alten Moral zu »leben«, einfach nicht geboten sind.[94] Ruth Bré, die erste Ruferin unserer Zeit nach einem neuen Mutterrecht, führt in ihren Schriften aus – daß wir Gesetze haben, nach denen wir sterben können – verhungern und verdorren, nicht aber leben und bestehen bleiben. Dasselbe läßt sich von den herrschenden Moralgesetzen sagen.

Wie durchaus abhängig alle als moralisch gewerteten Qualitäten der Menschen von Vorgängen sind, die sich seiner Willensmacht entziehen, beweist unter anderem auch der folgende Fall. Eine mir bekannte Frau war von ihrem Manne ihres ausschweifenden Lebens wegen fortgejagt worden und betrieb die Prostitution als Erwerb, und, wie sie selbst mitteilte, mit großem Vergnügen. Nach Ablauf einiger Jahre, als sie in das Alter der Rückbildung kam, klagte sie, daß ihr der Geschlechtsverkehr nun äußerst widerwärtig sei und führte nunmehr ein durchaus »tugendhaftes« Leben, indem sie sich durch die mühseligste Arbeit aller Art (angefangen von den Diensten einer Aufwärterin bis zur Beschäftigung mit der Schneiderei, wenn sich ihr solche bot) ernährte, trotzdem sie noch Begehrer genug besaß, ja sogar einige, die ihre Existenz sicherstellen und sie dauernd versorgen wollten. War nun der Charakter der Frau besser geworden, weil ihr plötzlich lästig und unerträglich wurde, was ihr früher notwendig war?

Das Hauptargument der doppelten Moral in der Ehe ist das Kind und seine Erhaltung durch den Mann. Mit der Gleichstellung des ehelichen und unehelichen Kindes im Erbrecht, die eine Frage nicht allzuferner Zeit ist, fällt das Argument, daß der Ehebruch der Frau deswegen verhängnisvoller sei als der des Mannes, weil er Gefahr laufe, ein fremdes Kind zu ernähren – da die materielle Beeinträchtigung der ehelichen Kinder dann durch seinen Ehebruch ebenso herbeigeführt wird wie durch den ihren. Die Behauptung, daß der Ehebruch[95] des Weibes, der Folgen wegen, schlimmer sei als der des Mannes, könnte man auch umkehren und sagen: gerade weil sie es ist, die die Frucht empfängt und trägt und mit ihr in einer Weise verwachsen ist, wie der Mann niemals, kann man ihr nicht verbieten, sie zu empfangen, von wem sie will.

Das Kind ist ein Wert, eine Kostbarkeit. Der natürliche einzig normale Zustand, von dem wir heute allerdings so weit entfernt sind als von anderen normalen Zuständen, ist der, daß der Mann die Frau umwirbt, gerade weil sie die Trägerin des Kindes ist, anstatt daß er sie, wie heute, meist »sitzen läßt«, sobald er sie geschlechtlich genossen hat und ihre Mutterschaft zu erwarten ist – und nur durch die Zwangsvorrichtung der Ehe gehalten werden kann.


Die sexuelle Freiheit des Weibes soll im Rahmen einer anderen Wirtschafts- und Sexualordnung mit sittlicher und intellektueller Reife gewährleistet sein; aber vor diesem Zeitpunkt der persönlichen Reife sollen die Forderungen der Hemmung auf gar keinen Fall aufgehoben werden. Ein Schutz des Individuums erscheint nicht nur den Angriffen anderer gegenüber notwendig, sondern auch in Anbetracht der Gefahr der Selbstpreisgabe, zu der ihn seine Triebe verleiten.

Aber ganz ebenso sind diese Forderungen dem Manne gegenüber zu erheben. Dem Begehrlichkeitstrieb jedes Individuums sind Schranken zu stellen, solange es, ob Mann, ob Weib, nicht alle Konsequenzen seines sexuellen Tuns und Leidens ermessen und tragen kann und solange es nicht fähig ist, den Sturz in Unsauberkeiten, die sich aus diesem Tun und Leiden ergeben könnten, zu vermeiden. Daß Sexualität und Ehre tatsächlich in einer gewissen Verknüpfung sind und nicht nur in der[96] konventionellen Bewertung, ergibt sich aus der Tatsache, daß das Hinabgleiten in unsaubere und schmähliche Verhältnisse fast schon ehrlos macht. Daß dieses Hinabgleiten durch sexuelle Vorgänge, welche die Generation nicht schädigen, nicht erfolgen könne, ist das gesellschaftliche Problem. Dann erst wird die Ehre des Menschen wirklich wieder über dem Nabel wohnen, wie Nietzsche von ihr aussagt.

Nur aus Artinteressen hat sich Moral gebildet. Gesunde, schöne Menschenexemplare erzeugen, niemanden ins Elend stürzen und mißbrauchen, Herzenskräfte und Sinnesmächte nicht brach liegen lassen, noch sie künstlich verbilden, das ist die einzige sexuelle Moral. Keuschheitsforderungen werden aus sanitären Gründen immer notwendig sein, wenigstens insofern, als der Geschlechtsverkehr niemals ein unbedenklicher, vom Zufall angebotener sein darf. Aber diese Forderungen sind für Mann und Weib in gleichem Maße notwendig, soll eine Bewahrung vor den Geschlechtsseuchen wirklich möglich werden. Die Freiheit des Geschlechtslebens für jedes Individuum, solange diese Freiheit nicht eine Gefährdung und Schädigung anderer mit sich bringt, muß ebenso gefordert werden, als die Beschränkung des Geschlechtsverkehrs im Hinblick auf die Gefahren, die der Nachkommenschaft und der Rasse daraus erwachsen könnten, eine ewige Forderung bleibt, eine Moral, deren Inhalt wirklich »a priori in der Vernunft seinen Sitz hat«.


Die Emanzipation einzelner von dem gesellschaftlich approbierten Usus bedeutet zumeist eine unfruchtbare Auflehnung. Nicht um die Experimente einzelner zu ermöglichen, sondern um neue Organisationen entstehen zu lassen, innerhalb derer neue Formen der Sittlichkeit[97] sich entwickeln können, wird zu der Untersuchung gesellschaftlicher Moralprobleme geschritten. Die hilflose Auflehnung des einzelnen gegen bestehende Anschauungen ist wenig wert, und um Märtyrerpfähle sind noch niemals Rosen gewachsen. Niemand ist so ganz unabhängig von der Verachtung oder Achtung seiner Umgebung. Diese geistigen Fluiden, die von anderen Menschen zu uns strömen – Sympathie, Antipathie, Achtung, Verachtung, Vertrauen, Bezweiflung, sie haben eine größere Macht über unser Gemütsleben und unseren Seelenzustand, als wir selbst ahnen. An der Grenze des Unbewußten spielen sich diese Vorgänge ab, durch die einem menschlichen Organismus mittels geistiger Ströme von außen Energien zugeführt oder entführt, Lebenskräfte verstärkt oder vermindert werden. Ein Strahl der Verachtung oder der Bewunderung, der Liebe oder des Hasses trifft einen Menschen – und mit dem Meßapparat der Pulsbewegungen kann der Arzt die Veränderung im Organismus konstatieren, also die Wirkung. Der Zeiger bewegt sich, die Kurve, die er zieht, sinkt oder steigt, die Blutgefäße haben sich verengt oder erweitert, die Herzbewegung hat zu- oder abgenommen, der Herzschlag sich verstärkt oder vermindert, das Blut ist zusammengetrieben worden, Stauungen und Leeren verursachend. Ein einziges geistiges Moment von außen führt zu so jäher Veränderung des Organismus, um so mehr eine ganze Reihe solcher Momente. Gewiß, je höher die philosophische Disziplin und Selbsterziehung, desto geringer die Abhängigkeit von der Meinung anderer. Aber es gibt einen letzten geheimen Faden im komplizierten Gespinst der Individualität, mit dem jedes Individuum verhängt ist nach außen, wo seine Macht über sich selbst versagt und die der Umgebung beginnt. Aus dieser Erkenntnis entstammt vielleicht alles Aposteltum, aller reformatorische Trieb, ja, wenn man will, alle Proselytenmacherei.[98] Es befriedigt nicht, sich für seine Person zu neuen Werten aufgeschwungen zu haben, sondern erst wenn sie auf die Allgemeinheit übergegangen sind, sind sie praktisch anwendbar geworden. Darum wird sich alles Aposteltum, aller reformatorische Angriff gegen die Lüge wenden müssen, dort, wo sie am deutlichsten erkennbar wird. Jede Epoche hat ihre besondere große Lüge, deren Zeichen ihr wie ein Stigma eingegraben ist. Irgendein Winkel des gesellschaftlichen Gebäudes liegt – als Gespensterkammer – immer im tiefsten Dunkel, selbst wenn es an anderen Stellen schon Licht ward. In unserer Epoche ist es die sexuelle Lüge, die in der Dunkelheit gespenstig ihr Unwesen treibt und von da aus ihre Wirkungen zeitigt.[99]

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 92-100.
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