4. Der Geldpunkt
Grenze zwischen Prostitution und »freier Liebe« – Die Erhaltung des Weibes durch den Mann weder unnatürlich noch unsozial – Die gänzliche Regellosigkeit der Geldfrage im »freien Verhältnis« – Die Haltung von Franzosen, Amerikanern, Deutschen gegenüber dieser Frage – Deutscher »Idealismus« – Ersatz für Erhaltung der Frau durch den Mann nur durch eine die Frau versorgende Wirtschaftsordnung – Die metaphysische Idee der »Vergütung« der weiblichen Hingabe – Die Frau als die durch die Liebe biologisch, wirtschaftlich und moralisch Gefährdete.

[193] Die Grenzen zwischen Prostitution und freier Liebe gelten vielfach für »verschwommen«, und zwar ist es der Geldpunkt, aus dem diese Verschwommenheit angeblich stamme, und der die Deutlichkeit eines erotischen Verhältnisses so weit zu trüben imstande sei, daß es leicht als Prostitution angesehen werden könne. So wird vielfach die Definition akzeptiert, daß, wenn ein Mädchen von einem Manne, dem es sich in Liebe hingegeben hat, auch materielle Hilfe annimmt, ein Tatsachenbestand vorliege, der als Prostitution aufzufassen sei. Ich halte diese Auffassung für falsch und unnatürlich und heuchlerisch. Weil sie aber mit vielfachen Variationen häufig anzutreffen ist, halte ich ein ausdrückliches Eingehen auf das, was man den Geldpunkt in der Liebe nennt, geboten, und gerade hier an dieser Stelle, wo von Prostitution die Rede ist.

Wer soll denn das Mädchen oder die Frau erhalten als der Mann, mit dem sie lebt? In Erkenntnis der Notwendigkeit der Erhaltung der Frau durch den Mann, der Gefährdung, die die Gattung läuft, wenn das Weib sich und die Nachkommenschaft selbst erhalten soll, hat die Gesellschaft das Institut der Ehe geschaffen. Die Kritiker freier Bündnisse scheinen aber zu glauben, diese müßten sich von der legitimen Ehe dadurch unterscheiden, daß sie deren vernünftigste Konsequenz, die Erhaltung von Frau und Kind durch den Mann, verleugnen. Wird diese vernünftige Konsequenz auch im freien Liebesbündnis gezogen,[193] so handelt es sich ihnen um »verschwommene Prostitution«. Aber nicht der Umstand, daß sich das Weib von dem Mann, mit dem es lebt, erhalten läßt, sondern der Umstand, daß es mit vielen Männern, ohne jede persönliche Beziehung, rein gewerbsmäßig (oder vielmehr unrein gewerbsmäßig) sexuell verkehrt, bildet das Kriterium der Prostitution. Aus diesem Gewerbe, aus diesem Betrieb allein, kommen auch jene Folgeerscheinungen der Prostitution, die die Hauptursache ihrer moralischen Verfemung sind, die Geschlechtsseuchen. Ein weiteres Kriterium der Prostitution ist ferner, daß beiderseits keine Liebe, keine Sympathie beim Geschlechtsakt vorhanden ist, sondern beiderseits nichts als ein Handel vorliegt. Der eine Partner gibt Geld, der andere bietet seinen Körper zur Benützung. Das ist Prostitution. Wenn aber die Frau im freien Liebesbündnis sich vom Manne erhalten oder unterstützen läßt, so ist darin weder ein unnatürlicher noch ein unsozialer und daher auch kein unmoralischer Vorgang zu erblicken. Muß sie denn mit Geld geboren sein, oder die Fähigkeit und Möglichkeit haben, es durch Arbeit zu verdienen? besonders, da doch noch so wenig qualifizierte Arbeitsgebiete der Frau erschlossen sind, und Frauenarbeit heutzutage, wenigstens in den breiten Schichten, noch nicht viel mehr bedeutet als irgendeine schwere, dabei unqualifizierte Fron, bei deren Ausübung die ganze Weiblichkeit einer Frau zerrieben wird. Eines der Hauptargumente gegen die Konkurrenz der Frau als sozial Arbeitende ist ja auch immer, es sei nicht ihr »Beruf«, auf diese Art für ihr Dasein zu leisten. Ihr Beruf sei das Leben mit dem Mann, so sei es von der Natur gewollt und nicht anders. Wenn wir auch dem Standpunkt fern stehen, in dem erotischen Leben des Weibes samt allen Konsequenzen, die die Liebe für sie mit sich bringt, einen »Beruf« zu sehen, der sie aussperren dürfte von irgendeinem Gebiet, auf dem sie sich zu betätigen[194] strebt, so ist es doch vollkommen richtig, daß das erotische Leben der Frau, selbst ohne die Konsequenzen der Mutterschaft, immer einen höheren Kräfteeinsatz bedeutet als umgekehrt das Leben des Mannes mit der Frau. Durch den höheren Einsatz an Gemütskräften, vor allem aber auch an äußerlichen Leistungen bringt es das Leben mit dem Manne mit sich, daß die Frau ein gut Teil ihrer Zeit und ihrer Energie daran wenden muß, sich selbst anziehend und begehrenswert zu erhalten. Christian von Ehrenfels äußert sich zu dieser Frage auf die folgende Art: »Die Frauenbewegung von heute ist so weit gediehen, wirtschaftliche Befreiung nicht nur für die geschlechtslose Frau, sondern auch für die Mutter und ihre Kinder zu verlangen. Sie wird noch einen Schritt weiter gehen und einsehen müssen, daß nicht nur die Mutterschaft, sondern auch die Leistung der Frau, welche sie als Geliebte des Mannes, als Bestallerin des Hauses und Walterin des ästhetischen Schmuckes im Leben ausübt, zu den unentbehrlichen, spezifisch weiblichen Funktionen gehören, in deren Ausübung auch die wirtschaftlich befreite Frau vom Manne doch unterstützt werden muß.« Wenn ich auch ausdrücklich betone, daß die Frau, wenn sie diese Hilfe nicht nötig hat, besser dran ist, als wenn sie sie braucht, und daß sie, wenn irgend möglich, diese Unterstützung vermeiden soll, so ist es doch richtig, vollkommen richtig, daß eine abgerackerte, vom gemeinen Sklavenfrondienst des Lebens zermürbte Frau nicht Geliebte sein kann, wenigstens nicht in dem erlösenden Sinne dieses Wortes. Nur die geschonte Frau, die Zeit, Kraft und natürlich die Fähigkeit besitzt, die Kultur ihrer geistigen und physischen Person und ihres Milieus nicht zu vernachlässigen, kann Geliebte sein. Daher die größere wirtschaftliche Kraft des Mannes ihr und sich zu dieser Möglichkeit verhelfen muß, wenn ihre Lage das erfordert.

Einer der größten Schäden der Sexualbeziehungen[195] außerhalb von Ehe und Prostitution besteht darin, daß diese materielle Seite der Gemeinschaft gänzlich in der Luft hängt. Die Auffassung, daß die Frau, die bessere Frau, durch materielle Hilfe des Mannes »beleidigt« werde, ist ja besonders in Deutschland landläufig, und in diesem Punkt wurde der Frau ein besonderes Schamgefühl angezüchtet. Der Beweis, daß es ein angezüchtetes Gefühl ist und nicht etwa wahrer Pudeur der Seele, die vor der Antastung fremden Eigentums zurückbebt, der Beweis, daß es sich um eine Morallüge mehr handelt, liegt darin, daß, sowie »er« mit »ihr« vor den Altar oder zum Standesamt getreten ist, sie nicht die geringste Scheu mehr vor seinem Gelde hat, ja, es ganz ohne Scham von ihm fordert. Die Erhaltung der Ehefrau wird denn auch als etwas Selbstverständliches angesehen, ihre Rechte auf den Säckel des Mannes sind nur durch dessen eigenen Umfang begrenzt, während der Geldpunkt der Geliebten gegenüber immer als eine »peinliche Sache« empfunden wird. Zwischen Eheleuten wird auch diese Geldfrage vollkommen deutlich klargelegt, während sie zwischen Liebesleuten zumeist in Wolken gehüllt erscheint. Dieses gänzliche Ignorieren dieser vom Leben nicht wegzudenkenden Frage hat aber auch außer den unnatürlichen wirtschaftlichen Verwicklungen, die daraus entstehen können, wenn die erotisch in Anspruch genommene Frau im materiellen Daseinskampf vollkommen auf sich selbst gestellt ist, bedenkliche psychologische Folgen auf den Bestand des Verhältnisses selbst. Die große Gefahr für das freie Liebesverhältnis, in welchem der Mann der Frau gegenüber gar keine materiellen Verpflichtungen hat, liegt gerade in der Suggestion dieser Unabhängigkeit auf das Liebesempfinden des Mannes. Das Gefühl der Unverbundenheit erstreckt sich auch auf die Gemütsvorgänge. Es heißt, die ganze Beziehung auf erotische Stimmungen stellen, wenn gar keine wirtschaftliche Gemeinschaft existiert. Auch[196] wird dem suggestiblen Gemüt des Mannes eine Frau um so wertvoller, je mehr er in sie »investiert«, wie wir ja schon an anderer Stelle konstatiert haben. Und wenn auch das Ritterlichkeitsgefühl des Mannes in Fragen, wo es sich um Liebe, losgelöst von allen sozialen Momenten, handelt, wenig verläßlich ist, so hat er doch noch eine andere Ritterlichkeit bewahrt, die eigentlich viel seltener versagt als jene erste: in dem Augenblick, wo ein Mann, ein besserer Mann, weiß, daß die Existenz einer Frau auch wirtschaftlich auf ihm ruht, behandelt er sie weit schonender und rücksichtsvoller, als wenn sie nur erotisch mit ihm verbunden ist. Er läßt sie um so weniger leicht im Stich, je mehr er für sie zu sorgen hat, um so schneller, desto unabhängiger sie von ihm ist. Das Verantwortungsgefühl des Mannes der Frau gegenüber ist bei weitem größer, wenn er sie erhält, als wenn sie sich ihm schenkt ohne jeden materiellen Anspruch. Hier kommt auch wieder die asketische Stimme zu Wort. Ist sie ihm ein bloßer »Genuß«, so ist die Beziehung aus dieser asketischen Tendenz heraus viel gefährdeter, als wenn sie ihm auch eine Art Pflicht bedeutet, ein moralisches Agens, das den besseren Mann tatsächlich viel fester bindet als das bloße Genußmoment. Schlaue Spekulantinnen wissen das und pochen daher nicht selten auf dieses wirtschaftliche Moment, um den Mann zu halten. Daher die sonderbare Erscheinung, daß »ausgehaltene« Frauen, auch solche von bedenklichster Sorte, auch durchaus minderwertige, in puncto der Treue und Anhänglichkeit und Beständigkeit ihrer Liebhaber fast immer besser daran sind als die Frauen, die in der Liebe vom Manne keine materielle Hilfe dulden. Diese letzteren werden, das lehrt die alltäglichste Erfahrung, viel schneller verlassen als jene anderen.

Durch die in Ländern deutscher Kultur dieser Frage gegenüber bestehenden Voraussetzungen würden aber edle Frauen tatsächlich heute lieber Mangel leiden, als[197] vom Manne ihrer Liebe Hilfe annehmen. Dieser Stand der Dinge ist aber ein durchaus unrichtiger. Ein Eingreifen von seiten des Mannes in die materielle Situation der Frau, – nur wenn diese prekär ist, ich kann das nicht genug betonen – ist auch schon deswegen notwendig, weil durch jede erotische Gemeinschaft für die Frau auch der Wunsch nach besserem Milieu, guter Kleidung, allen Mitteln, die zur Pflege der weiblichen Persönlichkeit gehören, und, vor allem, nach Zeit, Bedürfnis wird, sowie der Mann in das Leben der Frau tritt. Und traurig, wenn es nicht so wäre – wenn ästhetische Forderungen überhaupt nicht mehr erhoben würden. Sollte die wirtschaftliche Zwangslage es so weit bringen, daß die Frau, wie der Mann heute schon, »keine Zeit« mehr hat zu einer Liebesstunde, dann sind wir am Ende mit aller Kultur der Schönheit. Die Unterstützung der Frau durch den Mann zur Ermöglichung dieser Kultur ist daher – immer nur, wenn die Beziehung innig genug und von jener Intimität ist, die erst die längere Dauer eines Verhältnisses mit sich bringt, und solange es sich um Geldausgaben handelt, die den Verhältnissen des Mannes entsprechen, und natürlich nur dann, wenn die Frau seine Hilfe überhaupt braucht – nur recht und billig und durchaus natürlich.

Der Franzose hat in diesem Punkte nie eine andere Auffassung gehabt als die, daß die materielle Lage der Frau in einer intimen Beziehung eine Angelegenheit sei, die den Mann angehe; zumindest so weit, daß er darum zu wissen begehrt. Dem Deutschen geht es wider den »Idealismus«, wenn in die Liebe sich Geldfragen mischen.

Selbstverständlich ist jede »wirtschaftliche Hilfe« des Mannes überflüssig, wenn die Frau mehr oder ebensoviel hat als er, ja auch, wenn sie weniger hat, aber genügend für ihre Person. Warum sollte sie dann von ihm etwas annehmen, warum seine Unterstützung wünschen! Aber in den Ländern des deutschen »Idealismus« ist zu beobachten,[198] daß die »Achtung« des Mannes vor der Frau in diesem Punkt alle Grenzen des guten Geschmacks übersteigt. Er »achtet« sie so hoch, daß, wenn ein deutsches Liebespaar der bürgerlichen Gesellschaft zusammen ausgeht, er sie nicht selten sogar die Hälfte des Käses bezahlen lassen wird, den sie mit ihm zusammen verspeist. Und sollte sie – etwa aus experimentellem Interesse – einmal ihren Käseanteil nicht bezahlen, so wäre die schöne Illusion von der »Geliebten« für ihn zerstört und die Käsekonsumentin zweifelsohne zur »Dirne« geworden. –

Der Simplizissimus brachte einmal einen melancholisch-grotesken Witz. Ein deutsches Paar sitzt in einem Gasthaus und er sagt: »Die Wurscht hab' ich gezahlt, das Bier hab' ich gezahlt – die Konsequenzen kannst selber ziehen!« O furor teutonicus!

Diese Beispiele beweisen, daß die »melancholische Travestie«, die die Prostitution schon an und für sich ist, immer noch – travestiert werden kann, und daß auch die Travestie der Travestie der Melancholie nicht entbehrt.


Die Übernahme gewisser Auslagen, die sich beim Zusammensein von Mann und Frau ergeben, hat aber noch – jenseits aller rationalistischen Gründe – einen den Beteiligten halb unbewußten ästhetischen Grund. Das Operieren mit Geld ist »an sich« ein Vorgang, den der ritterliche Mann der Frau gern abnimmt. Sie soll nicht, in seiner Gegenwart, mit Geld klirren. Er will ihr, wenn weiter nichts, die Manipulation damit ersparen. Die Vorstellung der Mühe, die mit der Idee des Geldes verbunden ist, soll, in diesem Augenblick, in Verbindung mit der Person der Frau, nicht aufkommen, will der Mann ihre Gegenwart recht genießen. – So erkläre ich mir wenigstens die absolute Auflehnung, die der romanische und angelsächsische[199] Mann der Gesellschaft durchgehends gegen die »zahlende« Frau hat.

Aus diesem Moment kommt vielleicht auch die Mißachtung der Geldfrage, die oftmals in einem Liebesverhältnis beide Teile haben, die Neigung zur Unbedenklichkeit dem Gelde gegenüber, die oft ganz sparsame Menschen in erotischen Verhältnissen überkommt. »Die Liebe mag nicht fasten, sie schätzt, was gut und teuer.«

Trotz dieser Auflehnung gegen die »zahlende« Frau darf, meiner Ansicht nach, die Frau dort, wo die wirtschaftliche Situation eines Mannes nicht günstig ist, von ihrem Standpunkt, für sich selbst materiell einzustehen, nicht abgehen. Die unbefangenste Kameradschaftlichkeit muß in diesem Fall gewahrt werden. In wirtschaftlich bedrückten Schichten fiele ja oft jede Möglichkeit der Geselligkeit zwischen Männern und Frauen fort, wenn dieser Standpunkt nicht gewahrt würde.

Die wesentlichste Ursache, durch welche dem Mann entwicklungsgeschichtlich die Erhaltung des Weibes zugewiesen wurde, diese Ursache, aus der auch eine doppelte Moral und die Eheinstitution entstanden, ist ja natürlich in der Notwendigkeit eines Schutzes der Brut und der Frau, als Hüterin der Brut, zu suchen. Solange die Gattung, die Gesellschaft selbst nicht diesen Schutz der Generation und ihrer Trägerin übernimmt, so lange sind auch diese künstlichen Schutzwälle der Frau – hinter denen nur leider, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit der freien Auslese und damit der Höherentwicklung der Art gefesselt liegt, während das Elend, das aus der gewaltsamen Unterbindung gesunder sexueller Kräfte erwächst, hinter diesen Schutzmauern sein Lager aufgeschlagen hat – notwendig. So lange ist es auch notwendig, daß der materielle Schutz der Frau durch den Mann eine moralische Forderung bleibe, der sich zu unterwerfen für ihn Ehrensache[200] ist, falls sie seiner bedarf, natürlich, und falls ihn zu leisten in den Kräften des Mannes steht.

Nur wenn jedem erwachsenen Mädchen ein Beruf, der es in seiner Frauenfunktion nicht schädigt, jeder Schwangeren und Mutter Erhaltung für sich und ihre Kinder gesichert ist, wird die Erhaltung der Frau vom Manne hinfällig werden. Solange das nicht der Fall ist, ist die Frau durch die Liebe gefährdet – das ist eine Tatsache, die nun einmal feststeht – sie ist durch sie biologisch, seelisch und sozial gefährdet, besonders die unselbständige, irgendwie abhängige Frau. Darum ist, solange nicht die Gesellschaft als offizielle Beschützerin des Weibes sich erklärt, dieser Schutz von seiten des Mannes nötig, logisch und einzig möglich, soll die Frau und ihre Frucht nicht verderben. Und darum hat die Annahme dieses Schutzes mit Prostitution nichts gemein. In Ländern, in denen die ritterliche Überlieferung, wenn auch nur im schwachen Abklatsch der Galanterie, nicht ganz in Vergessenheit geraten ist, in Frankreich, insbesondere aber in Amerika, ist das eine Selbstverständlichkeit. Die deutsche Frau aber riskiert es, für eine Dirne gehalten zu werden, wenn sie von dem Manne, mit dem sie lebt, etwas »annimmt«.

Die moralische Verfemung dieses materiellen Momentes in der Liebe ist übel angebracht, denn in diesem Momente liegt nichts Unnatürliches oder Unsoziales (wie es der Vorgang der Prostitution ist). Unnatürlich und unsozial ist hingegen, daß Frauen ihre Schönheit und Jugend, die Anmut ihres Leibes und ihrer Seele ungenützt und keinem Menschen zur Freude brach liegen lassen sollen oder müssen. Aus diesen Qualitäten ihres Körpers und ihrer Seele stammt der natürlichste »Einsatz«, den sie im sozialen Leben zu leisten haben. Ein Einsatz an Leistung, an Energienentfaltung muß aber jeder leisten, der leben will.

Der Mann ist und bleibt der biologisch und wirtschaftlich[201] Stärkere, aus dieser Tatsache sind alle juridischen Bestimmungen zu erklären, welche den Mann zur Alimentation, zur »Entschädigung« der Frau anhalten. Diese Vergütungsidee, die die Gesellschaft nie ganz verloren hat, hat aber auch etwas wie einen metaphysischen Hintergrund. Er »vergütet« ihr die Leiden, die er ihr gewöhnlich verursacht und die Gefahren, die um seinetwillen ihrem Herzen und ihrer ganzen physischen und psychischen Existenz bevorstehen können. Die schnellere Vergänglichkeit ihrer erotischen Schicksalsmöglichkeiten ist auch eines jener Momente, die hinter dieser Idee einer »Vergütung« stehen. Er »nützt sie ab«, indem er ihre Liebe nimmt und nicht nur in biologischem Sinne. Sie ist ihrer Natur nach die Gebrauchte, er der Gebrauchende, und soll das Instrument durch diesen Vorgang nicht seiner Zertrümmerung zugeführt werden, so muß der, der es »gebraucht«, es selbst beschützen mit allen Mitteln, die sein Übergewicht, sein Überwert, seine Übermacht ihm in die Hand gibt. »Schwächer« ist die Frau als der Mann? Nein! Sie ist vielmehr, als Weltkraft betrachtet, ihm durchaus kongenial. Aber gefährdeter ist das Gefäß dieser Kraft; gefährdeter das weibliche Prinzip als das männliche. Und sowie der Mann an die Frau rührt, sowie die »magdliche Blume« ihr verblüht, setzen alle die Gefahren, die in ihrem Geschlechte liegen, für sie ein.

Darum wird immer und unter allen Reformen, solange nicht, wie gesagt, generative Vorsorge für das Weib getroffen ist, an dem Standpunkt der Erhaltung oder Stützung der Frau, die es nötig hat, durch den Mann festgehalten werden müssen, wenn die Dinge natürlich zugehen sollen. Freilich soll alles geschehen, auf daß sie nicht in jene schmachvolle Abhängigkeit gerate, in der sie heute zum größten Teil ist. Das Fundament ihrer Existenz soll der Frau, unabhängig von ihren Erlebnissen mit dem Mann, gesichert sein, soll nicht der ganze »Marktwert«[202] der Geschlechter verfälscht und damit der natürliche Werbekampf verkehrt werden. Die Zukunft wird eine Kombination zu finden wissen, durch welche dieses Fundament der Existenz der Frau durch angemessene hochgewertete soziale Frauenarbeit einerseits, durch vollkommenen Mutterschutz und durch Entlohnung für das Geschäft der Aufzucht der Generation andererseits gewährleistet sein wird. Solange die Frau aber als Erwerbende dem Manne nicht gleich steht und ihre ganze Weiblichkeit einsetzen und schädigen muß, um nur ein Existenzminimum aus ihrer sozialen Arbeit herauszuschlagen, solange keine durchgreifende Versicherung für alle Vorgänge der Fortpflanzung besteht, so lange muß der Mann die Frau, mit der er lebt, wenn sie selbst existenzlos ist, ererhalten. Erst wenn sie ihm als Erwerbende völlig gleich steht und durch den Erwerb an ihrer weiblichen Persönlichkeit nichts einbüßt, weil dieser Erwerb ein ihrer Kraft gemäßer ist, erst wenn sie als Schwangere versorgt und versichert ist, wird die Erhaltung des Weibes durch den Mann überflüssig sein. So lange aber ist jede andere Auffassung als die, daß der Mann, der wirtschaftlich Stärkere, der biologisch weniger Gefährdete, der psychisch Robustere, die Frau, deren Liebe er bezitzt, auch wirtschaftlich schützt, wenn es nottut, widernatürlich.

Aber wieso kommt es, daß die Frauen, trotz all dieser zwingenden Argumente, mehr und mehr auf diesen Schutz, ja auf jede, sei es auch die geringste materielle Hilfeleistung von seiten des Mannes verzichten? Dieser Vorgang ist nichts anderes als eine unnatürliche Reaktion mehr auf andere unnatürliche Voraussetzungen unseres Sexuallebens. Durch die gewalttätige Absperrung vom Geschlechtsleben, durch den unerbittlichen Verweis auf Ehe oder Prostitution oder grausame Öde hat man Würde und Freiheit der Frauen, ihr Gefühl dafür auch in diesem Punkte – getroffen. »Er« kommt zu ihr in ihre Einsamkeit,[203] bringt Licht in ihre Stube, hilft ihr durch ein paar frohe Stunden die Last ihres verödeten Daseins tragen – und sie sollte noch überdies etwas von ihm »verlangen?« Die Frage des Anspruchs auf Schutz, den die Frau unter natürlichen Verhältnissen – bis hinunter ins höhere Tierreich – erhebt und erheben soll, sowie die Willfährigkeit der Männer zu diesem Schutz, hängt ab von dem naturgemäßen gesunden Zustand der Verhältnisse, die die sexuellen Vorgänge umgeben. In Epochen, in denen eine Überzahl an Weiblichkeit »zu Markte« gebracht wird, wie in der unserigen, in Zeiten, in denen auf dem Jahrmarkte der Geschlechter der Mann alle Möglichkeiten hat und das Weib so gut wie gar keine, sinkt auch der Anspruch der Frauenliebe auf Beschützung von seiten des Mannes mehr und mehr dahin.

Weit entfernt, diesen Anspruch den Vorgängen der Prostitution zuzurechnen, müssen wir ihn vielmehr, gleichviel ob in oder außer der Ehe, als in der Natur der Geschlechter tief begründet und überdies von der sozialen Gefährdung als doppelt geboten anerkennen. Wo immer das Phänomen des Verzichtes auf diesen Anspruch – bei gleichzeitiger Bedürftigkeit danach – auftritt, handelt es sich um eine unnatürliche Zwangslage der eingekreisten Königin im Schach, – der in ihrem Aushungerungszustand in ihrer Würde geschwächten Weiblichkeit.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 193-204.
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