Vorrede

Diese Arbeit befaßt sich mit einem Thema, über welches dermalen mehr geredet und geschrieben wird, als vielleicht über jedes andere. Wenn aber so viel geredet wird von einer Sache, so ist das immer ein Zeichen großer Not durch sie. So wie der menschliche Körper nur dann gesund ist, wenn man seine einzelnen Teile nicht spürt, so der gesellschaftliche Organismus, wenn sich seine einzelnen Probleme nicht allzusehr aus dem Gesamtgefüge herausheben. Und wenn Hunderte von Stimmen über einer einzigen Frage laut werden, so ist das keinesfalls eine Modeströmung, sondern Not, die nach Ausdruck ringt.

Wenn ich trotz der vielfachen Behandlung der »Frage« den Mut finde, sie zum Stoff einer selbständigen Untersuchung zu machen, so möge diese Kühnheit ihre Rechtfertigung darin finden, daß ich mich dem Problem in einer Art zu nähern suche, in der es bis dahin nicht angegangen zu werden pflegte. Ich fand in all den Werken zur »sexuellen Frage«, die wir heute kennen und lesen, ein Überwiegen entweder des medizinischen oder des anthropologisch-ethnisch-historischen Stoffes, oder die Behandlung der Frage von einer besonderen Seite. Mein Versuch aber soll sich weder mit der Aufzählung der verschiedenen Perversitäten, Anomalien und Krankheiten und der therapeutischen Methoden zu deren Bekämpfung, noch mit der Darstellung des Sexualverkehrs bei den verschiedenen Völkerstämmen befassen (es sei denn dort, wo es zum Vergleiche nötig ist), noch mit einem einzelnen Faktor der »Frage«, sondern mit dem Gesamtproblem und unserer Stellung dazu, mit unserer Not, unserem praktischen Erleben, unserem Dilemma, unserer Krise. Sozialpsychologisch soll diese Krise und in allen ihren Verästelungen, die, aus dem tief verwurzelten Stamm unseres[7] sozialen Gefüges kommend, ins Leben jedes einzelnen Individuums hineinreichen, hier betrachtet werden.

In der zentralsten Region unseres Kulturlebens, dort, wo alle Wege und Ströme des ganzen Riesennetzes zusammenlaufen, sind wir krank. Und alle die vernünftigen und schönen Einrichtungen und Einteilungen, die innerhalb dieses Kulturnetzes getroffen sind, erfüllen nur unvollständig ihre Zwecke, denn alle gesellschaftliche Bewegung nimmt ihren Weg durch diese zentralste Zone, alle Lebenssäfte des ganzen Riesenkörpers strömen von da her – und ist's da nicht »geheuer«, so nützen alle »Errungenschaften« zum Wohlsein derer, für die sie ja schließlich errungen werden, wenig.

Es soll hier voraussetzungslos untersucht werden, warum alle jene Vorgänge, die ihrer Natur nach lebenerhaltend, lebenfördernd und hinaufzüchtend sind, heute nicht selten zu Mächten der Vernichtung, der Hemmung und der Rückbildung werden. Soziale Neugestaltungen, die, durchaus organisch, als Wehr gegen jene Mächte mehr und mehr in der Zeit erstehen – und die Richtung, in die sie die Strömung der »Krise« voraussichtlich lenken werden, zu erkennen, sie aus den schon vorhandenen Anzeichen und Ansätzen zu deuten, wird hier der Versuch gemacht.

Voraussetzungslos – das will heißen: ohne irgendeiner Tendenz zuliebe irgendwelche Zugeständnisse bei der Schilderung der darzustellenden Erscheinungen zu machen. Wer in diesem Buche tönende Verherrlichungen der heute geübten »Verbesserungsversuche«, die der hilflose einzelne in der sexuellen Zwangslage unternimmt, zu finden erwartet, wird enttäuscht sein. Hier soll untersucht werden, was sich begibt, so kritisch und gewissenhaft, als es mir mein Studium und mein Miterleben dieser Krise, in der wir stehen, ermöglichten. Die Erkenntnisse, die ich gewonnen habe, sind zutiefst erlitten worden, aber[8] dieses Erleiden hat mich die Gestalt der Sachlage um so deutlicher erkennen gelehrt. Das vielfältige Material theoretischer Studien ließ mich dann den soziologischen und psychologischen Gesetzen dieser an dem Schicksal der einzelnen in Erscheinung tretenden Krise näher kommen. Alte und neue Forderungen des Sexualgewissens der Gesellschaft, die Formen, in denen diese Forderungen deutlich werden, sowie die Phänomene des Geschlechtslebens selbst sollen hier betrachtet werden. Die Stellungnahme erfolgt pro und contra, immer bemüht, dem »Dinge«, wie es sich in seiner in zahllosen Nuancen erschillernden Wesenheit präsentiert, gemäß zu bleiben. Freilich mit dem Versuch, zu einem Urteil über diese Wesenheit selbst – soweit sie erkennbar – zu gelangen und ohne den Folgerungen, die sich aus der Betrachtung der Sachlage ergeben, auszuweichen. Daß diese verschiedenen Folgerungen sich immer wieder einem gemeinsamen Mittelpunkt zudrängten, überraschte mich selbst. Fast ungewollt erhob sich mir aus dem zerlegten Material etwas wie ein neuer Bau, eine Tatsache, die mir neu bestätigt, was ich triebhaft schon lange geahnt: daß die Dinge das Gesetz ihrer Gestalt in sich tragen und daß ihre morphologische Wesenheit unabweislich zutage tritt, sowie sie in gründlicher und restlos ehrlicher Art in ihre Elemente zerlegt werden.


Der Stoff dieser Untersuchung zerlegte sich mir in drei Hauptabschnitte, deren jeder ein Buch ergibt. Das erste dieser Bücher liegt hier vor. Die Zustände, die sich aus der gegenwärtigen Sexualordnung der Kulturwelt ergeben, sind sein Stoff. Das zweite Buch wird die Reformvorschläge, die zur Entwirrung der sexuellen Krise in unserer Zeit entstanden sind, der Untersuchung und der Kritik zu unterziehen haben. Das dritte Buch bringt den Versuch des Systems einer neuen Sexualordnung, der der[9] Zukunft, die sich, bei Entwirrung der Krise, aus den schon vorhandenen Ansätzen ergeben dürfte.

Da das Material zu dem Gesamtwerk bereits vorhanden ist – es wurde in 2 1/2jähriger, ausschließlich auf diese Arbeit verwandter Tätigkeit zur Stelle geschafft – kann ich die Aufeinanderfolge der Bücher in verhältnismäßig kurzer Zeit in Aussicht stellen.

Daß mein Versuch, dem gewaltigen Problem sowohl seiner universal-sozialen als seiner individual-psychologischen Natur nach gerecht zu werden, ein unvollkommener bleiben muß, ist mir gewiß. Es soll mir genügen, wenn er zu besserer Einsicht, zu stärkerer Tat vorbereitet.


Berlin, Dezember 1908.

G. M.-H.
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Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909.
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Die sexuelle Krise
Das Wesen Der Geschlechtlichkeit (1); Die Sexuelle Krise in Ihren Beziehungen Zus Socialen Frage & Zum Krieg, Zu Moral, Rasse & Religion & Insbesonder
Das Wesen Der Geschlechtlichkeit: Die Sexuelle Krise in Ihren Beziehungen Zus Socialen Frage Zum Krieg, Zu Moral, Rasse Religion Insbesondere Zur Monogamie (German Edition)