Fünfzehntes Kapitel

[132] Wie Lazaro ein Einsiedler wurde.


So lag ich in der Kirchtür, betrachtete mein verflossenes Leben und erwog die Unglücksfälle, die mich betroffen[132] hatten, von dem Tage an, wo ich dem Blinden zu dienen anfing, bis auf den Punkt, auf dem ich mich jetzt befand. Ich zog daraus den Schluß, daß es nicht früher tagt, wenn man früh aufsteht, und daß man um nichts reicher wird, wenn man viel arbeitet. Das Sprichwort sagt: Wem Gott hilft, der kömmt weiter, als der früh aufsteht! Ich empfahl mich ihm deshalb, damit das Ende meines Lebens besser sein möchte als der Anfang und die Mitte desselben.

Neben mir stand ein ehrwürdiger Eremit mit weißem Barte; in der Hand hielt er einen Stock und einen Rosenkranz, an dessen Ende ein Totenkopf hing, so groß als der eines Kaninchens. Als der gute Vater mich so betrübt sah, tröstete er mich mit liebreichen Worten und fragte mich, woher ich wäre und was mich in dieses Elend gestürzt hätte. Ich erzählte ihm die vielen Unglücksfälle meines Lebens mit kurzen Worten. Er war erstaunt und gerührt und lud mich ein, ihm in seine Einsiedelei zu folgen. Ich nahm den Vorschlag an, und wir kamen, nicht ohne große Beschwerlichkeit, in seiner Kapelle an, die sich eine Meile weit von der Stadt in einem Felsen befand. Neben ihr war eine kleine Stube und Kammer mit einem Bette. Im Hofe entsprang eine Quelle, von der ein kleiner Garten bewässert wurde.

Hier lebe ich, sagte der gute Greis, schon länger als zwanzig Jahre, fern vom Getümmel und von der Unruhe der Welt. Dies, mein Bruder, ist das irdische Paradies; hier betrachte ich göttliche und menschliche Dinge; hier faste ich, wenn ich satt bin, und esse, wenn ich hungere; hier wache ich, wenn ich nicht schlafen kann, und schlafe, wenn der Schlaf mich einladet; hier lebe ich in Einsamkeit, wenn ich keine Gesellschaft habe, und bin in Gesellschaft, wenn ich nicht allein bin; hier singe ich, wenn[133] ich vergnügt, und weine, wenn ich traurig bin; hier arbeite ich, wenn ich nicht müßig bin, und bin müßig, wenn ich nicht arbeite; hier stelle ich über mein vergangenes böses Leben Betrachtungen an und beschaue mein gegenwärtiges gutes Leben; hier endlich ist es, wo einem alles unbekannt ist und wo man alles weiß.

In meiner Seele freute ich mich, den lustigen Alten so reden zu hören, und bat ihn, er möchte mir noch einige Nachricht vom Eremitenleben geben, das mir das beste unter allen schien. Er sagte mir, daß es jetzt nicht Zeit sei, weil die Mittagsstunde gekommen wäre. Ich bat ihn, mir meinen Arm zu verbinden, der mich sehr schmerzte. Er tat es mit so viel Gewandtheit, daß der Schmerz sogleich nachließ.

Wir aßen wie Könige und tranken wie Deutsche. Nach dem Essen hielten wir Siesta, und mitten im Schlafe fing mein guter Eremit zu schreien an: Ich sterbe! ich sterbe! – Ich sprang auf und fand, daß er eben verscheiden wollte. Da ich ihn in diesem Zustand sah, fragte ich ihn, ob er wirklich stürbe, und er antwortete: Ja, ja!

Ich war bestürzt, indem ich überlegte, daß, wenn er ohne Zeugen stürbe, man mich für seinen Mörder halten möchte, welchem auch meine Kleidung gar nicht widersprochen hätte, die mehr der eines Straßenräubers als eines ehrlichen Mannes glich. Ich rief deshalb einige Schäfer herbei, die in der Nähe ihre Herden weideten. Sie traten in die Einsiedelei und fragten den Alten, ob er sterben wolle? Er antwortete: Ja. Aber er log; denn er wollte nicht, aber er mußte wider seinen Willen. Da ich sah, daß er immer hartnäckig auf seinem Vorsatz: ja! zu sprechen, beharrte, fragte ich ihn, ob er wolle, daß diese Hirten Zeugen und Vollstrecker seines Testamentes abgäben; und[134] er antwortete: Ja! Ich fragte ihn, ob ich sein einziger und rechtmäßiger Erbe sein solle; er sagte: Ja! Ich fuhr fort: ob es sein Wille sei, daß ich alles, was er besäße, wegen der ihm geleisteten Dienste erhalten solle; er antwortete wieder: Ja! Ich hätte gewünscht, daß dies sein letzter Laut gewesen wäre; da ich aber sah, daß er noch Atem von sich gab, so fuhr ich mit meinen Fragen fort, damit man ihn nicht zu meinem Schaden verwendete, und bat einen der Schäfer, alles, was er antwortete, mit einer Kohle an die Wand zu schreiben; denn weder Tinte noch Feder war vorhanden. Ich fragte ihn, ob er wolle, daß der Schäfer seinen letzten Willen für ihn unterschriebe, da er selbst es nicht könne, und er antwortete, indem er verschied: Ja, ja, ja!

Wir machten uns nun sogleich daran, für ihn in dem Garten ein Grab zu machen, und ich eilte, ihn so schnell als möglich unter die Erde zu bringen, weil ich fürchtete, er möchte wieder erwachen. Die Schäfer gingen darauf zu ihren Herden zurück, und ich verschloß die Tür der Einsiedelei und durchsuchte alles. Ich fand eine große Tonne mit Wein, eine andere mit Öl, zwei Krüge mit Honig, zwei Schinken, eine Menge eingesalzenes Fleisch und getrocknetes Obst. Alles dieses behagte mir sehr, aber es war nicht das, was ich suchte. Seine Kasten fand ich voll Wäsche und in einem derselben ein Frauenkleid. Darüber wunderte ich mich sehr, noch mehr aber darüber, daß ein so vorsichtiger Mann kein Geld haben sollte. Ich durchsuchte vergeblich alle Winkel und stieß endlich, wie durch eine Eingebung geführt, auf den Altar, der mir zum Verbergen am schicklichsten schien. Nachdem ich eine Platte, die von gebrannter Erde war, weggenommen hatte, entdeckte ich einen kleinen Ritz, durch den ein Real fallen konnte. Mein Blut[135] fing zu kochen und mein Herz zu klopfen an. Ich nahm eine Hacke, und auf zwei Hiebe war die Hälfte des Altars niedergeworfen und die hier begrabenen Reliquien entdeckt. Ich fand einen Topf mit Geld, das ich zählte und das sechshundert Realen betrug. Meine Freude über den Fund war so groß, daß ich zu vergehen glaubte. Ich trug den Topf hinaus, machte außerhalb der Einsiedelei ein Loch und vergrub ihn, damit ich, wenn man mich etwa hinausjagen möchte, das schon außen hätte, was ich am meisten liebte.

Nachdem dies geschehen war, zog ich die Kleider des Einsiedlers an und ging nach der Stadt, um dem Prior der Brüderschaft Nachricht vom Geschehenen zu geben. Ehe ich ging, hatte ich aber nicht vergessen, den Altar wieder so herzustellen, wie er zuvor gewesen war. Ich fand die ehrwürdigen Brüder, von denen die Vergebung dieser Einsiedelei abhing, welche dem heiligen Lazarus gewidmet war, eben versammelt, was ich als eine gute Vorbedeutung nahm. Da ich schon als Einsiedler gekleidet war und auch übrigens ein frommes Ansehen hatte, und da die Schäfer bezeugten, daß mich der Verstorbene zum Erben eingesetzt hatte, so fanden sie kein Bedenken, mir diese Kapelle zu übergeben. Sie ermahnten mich, einen ebenso erbaulichen Wandel zu führen als mein Vorfahr, den jedermann für einen Heiligen hielt. Ich versprach es und fing nun an, Almosen zu betteln, nicht aus Not, sondern aus Gewohnheit; denn wer einmal bettelt, kann es nicht unterlassen, immer mehr zu begehren.

Die mich für die Kapelle des heiligen Lazarus betteln hörten und die Stimme nicht kannten, kamen an die Tür und fragten mich nach dem Vater Anselm (so hieß nämlich mein Vorfahr). Ich antwortete ihnen, daß er gestorben[136] sei, und einige sagten darauf: Gott gebe ihm die ewige Seligkeit! – andere: Seine Seele genießt gewiß der himmlischen Freuden! Glücklich wer ein solches Leben führte! In sieben Jahren hat er nichts Warmes gegessen, und er lebte nur von Wasser und Brot. – Einige der Dümmsten warfen sich auf die Knie nieder und riefen den heiligen Vater Anselm an, andere schnitten mir Stücke von meinem Kleide ab, um eine Reliquie von diesem Heiligen zu besitzen. Von nun an bettelte ich nicht mehr für die Kapelle des heiligen Lazarus, sondern für die Verklärung des frommen Anselm.

Quelle:
Mendoza, D. Diego Hurtado de: Leben des Lazarillo von Tormes. Berlin 1923, S. 132-137.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon