Sechstes Kapitel

[98] Wie sie Lazaro nach Toledo führten.


Das Streben der Menschen ist eitel, ihr Wissen Unwissenheit und ihre Kraft Schwachheit, wenn Gott sie nicht stärkt und leitet. Meine Arbeit diente einzig dazu, die Aufmerksamkeit meiner Wächter zu vermehren, die, erzürnt über meinen Versuch der vergangenen Nacht, mir so viele Schläge gaben, daß sie mich beinahe dadurch töteten.

Zerbläut, ausgescholten und halbtot vor Hunger brachten sie mich nach Toledo und kehrten in dem Hause einer Witwe ein, deren Wein ich ehemals ausgerufen hatte. Eine Menge Volk lief herzu, und unter diesem auch meine Elvira mit meiner Tochter an der Hand. Als ich sie sah, konnte ich zwei Nilströme von Tränen nicht zurückhalten, die sich aus meinen Augen ergossen. Ich weinte und seufzte, aber nur zwischen Fell und Fleisch, damit man mich nicht des Anblicks dessen berauben möchte, was ich so sehr liebte und welches zu sehen ich tausend Augen hätte haben mögen. Es wäre aber besser gewesen, wenn die, die mir die Sprache genommen hatten, dasselbe auch mit der Sehkraft getan hätten; denn indem ich mein Weib genau betrachtete, sah ich sie in gesegneten Leibesumständen. Ich war bestürzt und betäubt, und wenn ich auch Gericht hätte[98] halten wollen, so wußte ich nicht über wen; denn der Herr Erzpriester hatte mir gesagt, als ich in den Krieg zog, er würde mit ihr verfahren, als ob sie sein eignes Weib wäre.

Ich fing an, die Monate und Tage meiner Abwesenheit zu zählen, aber ich fand dabei den Weg zu meinem Troste verschlossen. Ich bildete mir ein, meine teure Ehehälfte sei wassersüchtig; aber auch diese Betrachtung dauerte nicht lange; denn kaum war sie weggegangen, als zwei alte Weiber zueinander sagten: Was haltet Ihr denn von der Frau Erzpriesterin? Sie bedarf ihres Mannes nicht!

Von wem ist sie denn in diesen Umständen? fragte die andere.

Von wem? fuhr die erste fort; vom Herrn Erzpriester. Er ist noch dazu so gut, damit es kein Ärgernis gibt, wenn sie in seinem Hause ohne Mann niederkömmt, sie nächsten Sonntag mit Pierres Gabacho zu verheiraten, der ebenso geduldig sein wird als mein Gevatter Lazaro.

Das war der höchste Gipfel und das Nonplusultra meiner Standhaftigkeit. Ich fing an im Wasser zu schwitzen, fiel ohnmächtig in meinem schmutzigen Stalle nieder und gab alle Anzeichen des Todes. Die betrübten Fischer ließen alle hinausgehen und hoben schnell meinen Kopf aus dem Wasser. Sie fanden mich ohne Puls und ohne Atem, und sie selbst waren ohne denselben, beklagten sich und beweinten ihren großen Verlust. Sie fanden weder ein Rettungsmittel für mich noch Hilfe für ihren Kummer und Schmerz. Sie beschlossen endlich, mich in der kommenden Nacht nach dem Flusse zu bringen und mit einem Steine am Halse in denselben zu werfen, damit er mir als Grab dienen möchte.

Quelle:
Mendoza, D. Diego Hurtado de: Leben des Lazarillo von Tormes. Berlin 1923, S. 98-99.
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