[1226] Ich erwachte des Morgens früh und stund auf. Kaum war ich ans Fenster getreten, so ward ich des jungen Oheims gewahr, der an seinen Pferden zurechtmachte, die Stränge bald verkürzte, bald verlängerte, bis sie an seinen Pflug paßten. Endlich schwang er sich auf eine seiner Stuten, und zog mit langsamer Selbstzufriedenheit zum Tor hinaus. Ich bemerkte daß er gerade wie ein Bauer mit zwei Wämsern versehen war, vermutlich aus langer Erfahrung, daß man sich gegen die Morgentaue nicht genug verwahren könne. Ich warf mich voller Betrachtungen in einen Lehnstuhl, und ward über mich selbst böse, daß ich mich noch verwundern durfte, wie diese Simplizität bei einer größern Kultur des Geistes bestehen könne. Mir fielen die Helden Griechenlands und Roms, die neuern Helden Nordamerikas ein, die alle, vom Pfluge berufen, Wunder der Größe und Tapferkeit darstellen. – Ich rief endlich in einer Art von Entzückung aus: »Du Einfalt der Sitten, statt Hindernis der Kultur des Geistes, bist du vielmehr sein Element, seine eigenste Nahrung! Der Mensch, dessen äußere Organen durch sinnliche Beschäftigung gestärkt, erhalten und erhöht werden, soll da nicht schärfer denken, sich mutiger entschließen, nicht mehr Gegenwart des Geistes und des Augenblicks in seiner Gewalt haben – als derjenige, der mit spekulativer Weisheit getrödelt hat? In der Einsamkeit seines Kabinetts hat dieser niemand zum Zeugen, wieviel's ihm Mühe gekostet, bis er die Resultaten seiner Operationen ans Licht stellte. Niemand hat gesehen wie lang und einsam seine Materialien im Kopf schwammen, bis er sie in eins binden konnte; niemand weiß wieviel von fremdem ungerechten Gute jetzt unter dem Eignen zur Schau prangt!« – Hier ward ich in meinem Monologen unterbrochen. Der kleine Oheim von fünf Jahren trat eben nicht sehr sachte in die Stube, mit einer großen Gerte in der Hand, und ward mich nicht gewahr. Er ging nach dem Bette, und weil[1226] er die Vorhänge zugezogen fand, glaubte er, ich sei noch nicht aufgestanden. Er rufte mir herzhaft zu: »Der soll aufstehen!« und als er es noch einmal wiederholt hatte und keine Antwort erfolgte, schlug er mit seiner Gerte, daß es pfiff, auf den Sitz des Lehnstuhls mit einem drittenmal: »Der soll aufstehen.« Ich konnte mich nicht enthalten, den Jungen zu überfallen, und ihn vom Boden in meine Arme zu nehmen. Er machte mir weder eine Karesse, noch war er bestürzt, daß er mich an einem andern Ende fand, als dem wo er mich gesucht hatte, sondern sagte ganz gelassen: »Der Papa hat gesagt: Der Kaffee würde kalt.«
Ich ließ mich von meinem kleinen Führer leiten. Als wir an die Treppe kamen, begegnete mir Mlle. Oheim, die ihren ältern Bruder suchte, und mit wenigen Sprüngen die Treppe heraufgeflogen kam. Ihre schönen Haare hingen in allem ihrem Reichtum über den Rücken herab, und sie hatte noch nicht Zeit gehabt, ein Halstuch umzunehmen. Ich stand vor ihr, und war wie ein Mensch der nicht in die Sonne sehen mag, und seine Augen niederschlägt. Allein wenn ich sie auch erhob, so ward sie darüber weder bestürzt noch ungehalten. Mir rauschte ein Bild unsrer ersten Mutter durch die Seele. – »Nun, was hat Ihnen geträumt, Herr Müller? – es muß alles wahr werden«, sagte sie mit Lächeln; »denn es ist die erste Nacht, daß Sie in diesem Bette geschlafen haben.« – »Wollte der Himmel«, rief ich, »daß es je wahr werden könnte!« – »Das war also ein wahrer Traum, weil's so schön war, wie Sie's wünschen konnten?« – »Ach!« rief ich, »es war ein so heitrer herrlicher Traum, voll lauter Wonne, und sollte der im Leben nicht, wenigstens auf eine Zeitlang, möglich sein?« – »Also war gar kein Unglück drin?« fragte sie. »O da war's keine Liebesgeschichte, denn da muß ein Haufen Unglück sein, wenn's gut gehen soll.« Mit diesen Worten verließ sie mich und flog weg.
Ich traf den Vater unten vor dem Kamine im großen Saale, oder in der Küche, an. Hier war alles aufs reinlichste gescheuert und geputzt, und kein Anschein, daß gestern den ganzen Tag das geringste darin wäre hantiert worden. »Wir wollen heute mit Kaffee frühstücken«, sagte Hr. Oheim, »um doch auch ein wenig vom europäischen Luxus zu partizipieren, wie von den Welthändeln, wenn wir sie in der Zeitung lesen. Meine Frau hat ihre silberne Kanne und ihre Dresdner Tassen mit goldnen Ränden hervorgesucht, die wir als Memento mori unsrer ehmaligen Existenz aufbehalten haben. Außerdem tut mir's wohl in[1227] den Augen, die Würkungen des Lichts auf dem herrlichen Metall zu bewundern, und daß der Menschen Hände an dem Ton der Natur diesmal nichts verdorben haben.« Mademoiselle Oheim setzte sich auch zu uns, nachdem sie ihre besten Reize geordnet, oder vielmehr dem Auge des Zuschauers entzogen hatte; und ihr steinernes Näpfchen mit der eingebrockten Milch, und ihr Wesen und Gestalt machte den besten Kontrast zu unserm ausländischen Luxus und Palliativen!
Der Alte fing an: »Wenn ich so meine Familie am Feuer versammle, mein Junge hier in der Küche auf seinem Stecken im Kreise herumreitet, meine Weiber abends allesamt spinnen, und mein Sohn und ich hier, von dem was morgen getan soll werden, mit Philipp beratschlagen: so ist mir's immer, als ob ich das alles vom Schiffbruch auf eine gute Insel gerettet hätte, und da draußen das ungetreue Meer mit seinen großen Wellen wütete.«
»Ich denke mein Bruder wird nicht lange ausbleiben«, sagte Mlle. Oheim; »denn er hat nicht bleiben wollen, bis ich meine Milch zurechtgemacht hatte, und hat ein Stück Brot und Käse in die Tasche genommen.« Ich bat den Alten, daß er mich hinausführen sollte; denn ich wollte mir das Schauspiel nicht versagen, den herrlichen jungen Mann hinter seinem Pfluge arbeiten zu sehen. Allein ich fand auch hier, wie bei allen Dingen, daß, wer mit Nutzen reisen will, viel muß gelernt haben. Um zu fühlen, wie brav er pflügte, hätte ich's selbst versuchen müssen, und so war's eben mit mir diesmal wie mit allen unsern Reisenden, wenn sie eine Virtuosität sehen, die sie nicht selbst besitzen. Als wir in die Türe traten, fing es herzhaft an zu regnen, und ohngeachtet aller meiner Protestationen, wollte Hr. Oheim nicht gestatten, daß ich durchaus naß würde. Ich ließ mich endlich bereden, weil ich glaubte, der junge Mann würde wohl selbst nicht lange ausbleiben. »Darin irren Sie sich«, sagte der Vater; »denn unter uns Landleuten ist's eine Art von Ambition dem Wetter nicht nachzugeben, wenn wir schlechterdings zu tun haben, und meist ist unsre Arbeit an Tag und Stunde gebunden. Außerdem kostet's uns nicht viel, denn wir sind dazu angekleidet – bis der Regen durch unsre dreifache Bedeckung durchgeht – Gewohnheit tut auch viel – und selten spüren wir böse Folgen davon, weil uns der Regen nie in einer gewaltsamen Erhitzung überrascht. Kommen Sie mit mir in mein Kabinett, hier wollen wir die Zeit verschwatzen – denn wir hindern nur hier die Weiber mit unsern Stühlen und Reflexionen.«[1228]
Als wir uns gesetzt hatten, fing Hr. Oheim an: »Um Ihnen eine Idee zu geben, wie's jetzo mit mir steht, muß ich Ihnen sagen, wie's ehedem mit mir gestanden hat, und dann werden Sie begreifen, warum mir meine jetzige Art zu sein so sehr behagt. Mein Vater war Regierungs- und Justizrat in St., einer der brauchbarsten Geschäftsleute seiner Zeit. Er hatte in seiner frühen Jugend auf der Kanzlei gedient, nachher war er aufs Land als Beamter, und endlich wieder zurück in die Stadt berufen worden. Er kannte also die Landesverfassung vollkommen, wurde wegen seiner Tätigkeit von jeher zu allen außerordentlichen Geschäften gezogen, und bei seinem offnen Kopf und der Beschränktheit auf seinen Beruf war es notwendig, daß er sich diese außerordentliche Geschicklichkeit erwarb. Allein er hatte den einzigen Fehler, daß er, wie sie's nennten, schwer arbeitete, jede Sache als Abhandlung betrieb, und dadurch den Kollegen nichts zu erinnern übrigließ. Außer diesem wollte er beständig recht haben, und hatte auch meist recht. Dieses letztere war unverzeihlich; er wurde allen, die neben oder über ihn waren, nach und nach verhaßt oder gleich gültig. Dadurch ward er weniger zu Geschäften gezogen, und fiel in Untätigkeit, so daß er an seinem eignen Fleisch kauen mußte; und dies ist die gewisse Ursache seines frühzeitigen Todes, sowenig er es auch merken ließ. Indessen gestanden ihm Hohe und Niedrige, Freunde und Feinde, seine Verdienste zu. Er diente auch wo er konnte, so streng und unerbittlich er gegen Unrecht und Betrug war. In unserm ganzen Hause ertönte daher alles von dem Wunsche, daß ich, der einzige Sohn, auch dereinst ein so geschickter und geehrter Mann werden möchte als mein Vater. Sie wissen wie man in den kleinen Residenzen von allen andern Ständen und Verrichtungen urteilt und denkt, die nicht zum Herrndienst gehören. Der Landjunker ist ein Sprichwort, und ein Locus communis, den man den Kindern statt des Esels um den Hals hängt. Der Bauer kommt gar nicht, außer als Mastvieh für die Rechnung des Fürsten, in Anschlag. Keine Mittelleute geben sich mit der Landwirtschaft ab – oder sie verderben dabei, weil sie's nicht ganz durch sich selber treiben, wie man soll. Kommen die Diener des Fürsten in eine Handelsstadt, so sind sie sehr verlegen, daß sich nicht jeder vor ihnen bückt wie bei ihnen. Der Wohlstand, den sie hier sehen, drückt sie wie ein böses Gewissen, und sie helfen sich damit, daß die wohlgefütterten Köpfe und reichgekleideten Bäuche der Handelsstadt doch nur stupide Kerle wären,[1229] die keine Lebensart hätten und nichts verstünden. Wer auch mitten, wie wir, im festen Lande liegt, kann keinen hohen Begriff von der Handlung haben, weil alles meist große oder kleine Krämerei ist, und sich nur hie und da ein spekulativer Kopf blicken läßt, der auch nicht gedeihen würde, wenn er so viele Fonds wie die andern hätte. In unser Haus kamen keine Fremde, als Beamte, Ober- und Unterschultheißen von dem Lande. Ich ging ins Pädagogium und mein Vater auf die Regierung, und wenn wir beide uns präpariert und repetiert hatten, so dachten wir, es gäbe in der Welt weiter nichts zu tun. Wurde den Sonntag keine Partie Quadrille gespielt, so setzten sich Vater und Mutter hin und spielten Pikett oder zogen die Dame. An diesem Tage ward die Zeitung gelesen und erklärt. Der Papst und das türkische Reich ward nicht geschont, auch ärgerte man sich daran, daß die Rebellen in England ihren rechtmäßigen Oberherrn nicht gehorchen, und die hartnäckigen Schotten, die ihre von der englischen Regierung verordnete Hosen nicht an den Beinen, sondern an einer Stange tragen wollten.«
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
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