III

[582] »Ich rede nicht gerne von meiner Jugend« – begann Hans der Engelländer seine Erzählung – »und meine Gedanken weichen ihr aus, wenn ich nicht vor den heiligen Festen, um mich vor Gott und seiner heiligen Mutter zu demütigen, sie aus dem Dunkel emporsteigen lasse, oder wenn nicht ein Neider und Widersacher mir dieselbe böswillig in meinen alten Tagen gegen die Zähne wird.

Lieber Herr« – und der Armbruster tat einen tiefen Seufzer – »sie ist eine unehrliche und befleckte. Dennoch muß ich damit Euch und mir zur Last fallen, denn mein armer Lebenslauf läßt sich von dem des Heiligen und des Königs nicht trennen, wenigstens in meinem alten Kopfe nicht. Ihr müßt wissen, ich bin aus einem edeln Geschlechte, und wenn Ihr Hohenklingen oder Hohenkrähen sagt, so nennet Ihr zwar nicht mein Stammhaus, das in Schutt versunken ist, aber sein Name lautete ähnlich und es lag, wie jene festen Häuser, unweit vom Bodan und vom Rhein. Schon mein Vater war schwer verschuldet und – warum, das weiß Gott – von seiner Sippe gescheut und gemieden, als er, um seinen Gläubigern zu entgehen und um seine Seele zu retten, sich das Kreuz anheftete und nach dem Gelobten Lande zog, aus welchem er nicht zurückkehrte. Mein Mutterlein schleppte seit meiner Geburt einen siechen Leib und weinte sich die Augen blind, als mein älterer Bruder nicht in ritterlicher Fehde, sondern in bösem Raufhandel um Dein und Mein erschlagen wurde; denn wir halfen uns, wie wir konnten, und[582] lauerten an den Wegen, wo etwas vorüberkam. Bei meiner Sippe suchte ich weder Rat noch Hilfe, ich hätte dort keine gefunden. Die einzigen Freunde waren mir meine Armbrust und meine Hunde, mit denen ich zu Walde zog; aber ich selbst ward wie ein Wild gehetzt von einem bösen Feinde, den ich wie den Teufel haßte. Das war der Jude Manasse, der in Schaffhausen saß und auf Zinsen lieh. Ihm hatte mein Vater seinen Burgstall und seine wenigen Äcker verpfändet. Nun begab es sich, daß mich meine Mutter zu dem Juden schickte, um Aufschub zu verlangen, aber keine Barmherzigkeit war bei dem Wucherer zu finden. Da erfaßte mich plötzlich eine große Kümmernis und ein Erbarmen mit meinem siechen Mütterlein und auch mit dem blutigen Leiden unseres Heilandes, den die Juden grausam gemartert haben, und ich schlug den Manasse hart mit Fausten, daß er starb. Gott rechne mir diesen Mord nicht zu! Als ich ihn beging, war ich, wenn auch schon von Mannesgestalt und Stärke, noch ein Kind und dazu von weicher und heftiger Gemütsart. Der Jude indessen hatte in der Stadt und unter dem umliegenden Adel viele Freunde und ich wäre verloren gewesen ohne die geöffnete Klosterpforte von Allerheiligen. Und da ich froh sein mußte, daß sie sich fest hinter mir schloß, wurde ich unverhofft geistlich und nach Jahresfrist ein Mönch. In alledem hatte ich aufrichtig gehandelt und war kein Falsch an mir gewesen; aber ich taugte schlecht zum Mönche und hatte den Wuchs meiner Natur und das Erdreich ihres Gedeihens nicht vorausgekannt. Mißversteht mich nicht, Herr! Nicht das sündige Blut unserer Stammeltern allein meine ich, sondern mehr noch den zündenden Funken, der aus der Schöpferhand Gottvaters in den Ton, aus welchem ich geformt bin, herübergesprungen ist, das ist: Kraft, Verstand, Unternehmung, Baukunst und Wanderlust. Aber von menschlicher Kunst und Wissenschaft war zu Allerheiligen nichts zu lernen, als der Poet Virgilius, den ich auch heute noch großenteils auswendig weiß.

Der Prior rühmte an diesem Poeten, daß er ein frommer Heide gewesen und Gott ihm zum Lohne seiner Tugenden prophetische Krad eingehaucht, so daß in seinen Versen die hochgelobte Mutter mit dem Kinde sich spiegle und deutlich zu erkennen sei. Daher kam es, daß die Rolle, aus der ich lernte, ganz von Messerstichen durchlöchert war. In der Johannisnacht, da ich von Allerheiligen schied und bevor ich den Sprung über die Mauer tat, habe auch ich hinein gestochen zu dreien Malen, nach[583] inbrünstiger Anrufung der drei heiligen Namen, und die Worte getroffen: sagittas, calamo, arcui. Und Virgilius hatte wahr gesprochen: mit Pfeil und Bogen hab ich all mein Lebtag zu tun gehabt.

So genoß ich denn meiner raschen Füße wieder und eilte durch das Waldgebirg dem Elsaß zu, den großen Bogen des Rheines mit einer geraden Linie abschneidend. Gegen Mittag kam ich vor einem festen Orte auf eine Wiese, wo von allerlei Volk ein Bogenschießen abgehalten wurde. Ich war schon unterwegs wie berauscht von dem Odem der Erde und der Lust, meine Glieder zu brauchen, und da ist es nicht zu verwundern, daß ich mir in dem Lustlager und Getümmel der Schießenden von den ausgelassenen Gesellen, die der verlaufene Mönch ergötzte, einen Bogen in die Hand geben ließ und dann, mit vorgestrecktem Fuße Stand fassend, Schuß um Schuß ans Ziel schickte. Mein Blick, sei Euch gesagt, ist scharf und sicher von Natur und hat mich von Kindheit an nie betrogen.

Ich glaube, daß sie mich, der den Becher verlernt hatte, trunken machten, daß ich in der Glut die Ärmel aufstreifte und die Kutte bis an die Schenkel schürzte, und mir steht dunkel und ärgerlich vor Augen, daß ich zuletzt unter Spott und Gelächter mit nackten Armen und Beinen im Narrentriumphe herumgetragen wurde.

Am frühen Morgen, in der Knechtstracht, die mir ein guter Gesell geschenkt, weiterwandernd, betrachtete ich nicht ohne Scham den Stand meiner Dinge. Ein beflecktes Wappen lag rechts und eine zerrissene Kutte links hinter mir am Wege. Nichts blieb mir als das Handwerk und ich suchte mir eines, das mich von ritterlichen Leuten und Dingen nicht ganz entferne und seinen Mann ernähre in Kriegs- und Friedenszeiten. Da erhellte sich mir die Losung des Virgilius und ich beschloß, ein Bogner und Armbruster zu werden. Aller Anfang ist schwer, lieber Herr; und neben den müßigen Gewöhnungen des Wegelagerers und des Mönches hatte ich noch viel Torheit eines weichen Herzens zu überwinden. Ich mußte zu festem Stande kommen; denn, ob ich schon einen Juden getötet und ein Klostergelübde gebrochen, so hätte mich doch mein frommes Gemüt fast in eine dritte Missetat gestürzt. Dies will ich Euch noch erzählen – vom übrigen werde ich kurz sein.

Ich war, gen Straßburg wandernd, unter eine Bande von fahrenden Schülern geraten und wir zechten in einer Schenke gegegenüber[584] den Mauerwerken und Turmspitzen der berühmten Stadt. Da fiel mir ein, wie mein Mütterlein mir weiland viel geredet hatte von einer frommen Muhme, die in einem Straßburger Kloster ein heiliges Leben geführt und deren Fürsprache im Himmel sie, wenn das Wasser des Elends ihr bis an den Mund stieg, mit Nutzen anzurufen pflegte. Solches dachte ich auf meinen irrenden Wegen auch zu tun. Also ging ich einen der Fahrenden, der ein helles offenes Gesicht hatte und, wie er sagte, die Stadt von früher her wohl kannte, mit freundlichen Worten an, ob er mir das Kloster nicht weisen könne, wo meine Muhme Willibirg im Geruche der Heiligkeit gestorben sei.

›Lieber‹, antwortete er, ›siehest du dort den achteckigen Turm mit dem farbigen Dache? Und daneben das lange Gebäude an der Stadtmauer? Dort hat deine Muhme gewaltet.‹

Da warf ich mich auf die Kniee und rief, nach dem Hause hinüberblickend, die heilige Frau inbrünstig an, mir zu allem guten und heilsamen Werke behilflich zu sein. Was höre ich hinter mir? ein unterdrücktes Gekicher, ein toll ausbrechendes Gelächter, und rasch den Kopf wendend, sehe ich den Fahrenden, der die Zipfel seines Gewandes zu zwei langen Ohren gestaltet hatte, die er neben den meinigen winken und wedeln läßt. Zu gleicher Zeit lachten die anderen unbändig: ›Der Esel betet zum Hause der schönen Frauen hinüber! . . .‹ Aber schon lag der Schalk unter meinen Knieen, während ich schwere Tränen fallen ließ über die Bosheit und Schlechtigkeit der Welt und ihn würgte, daß ihm der Lebensodem ausgegangen wäre, wenn ihn mir die anderen nicht entrissen hätten.

In Straßburg trat ich in die erste Lehre bei einem Bogner, der mich ehrlich hielt und mir die Handgriffe, soviel er sie wußte, rechtschaffen beibrachte. Doch war er ein Mann des Brauches und der Gewohnheit, der den Kopf eigensinnig schüttelte zu den Verfeinerungen und Ausbildungen, deren das Wesen und die Gestalt der Armbrust fähig ist und die damals aus Engelland und Flandern, besonders aber aus dem heidnischen Granada bis zu uns in das deutsche Reich hereindrangen. Mir aber, der einen jungen und neugierigen Geist hatte, ließ es, nach den einmal überwundenen Anfängen, keine Rast noch Ruhe; denn lieber Herr, in jeder, auch der geringsten Kunst ist ein Ziel der Vollendung verborgen, das uns ruft und lockt, ihm Tag und Nacht sehnsüchtig nachzuziehen.

Oft hab ich damals im Traume eine Armbrust gebaut und einen[585] Bolzen gebildet, die noch weiter trugen als das sarazenische Schießzeug, aber im Frühlicht verblichen meine Fündlein wie höhnische Irrwische; denn es waren plumpe Tastungen oder willkürliche Gedanken, da ich wohl einige Griffe, aber noch nicht die Gründe und Gesetze meiner Kunst erkannt hatte.

So beschloß ich zu wandern und bei den Meistern zu lernen. Durch Frankreich und Aquitanien wanderte ich und überstieg den Pyrenäenberg und erblickte jeden Abend in den roten Wolken des Sonnenniederganges die Wunderstadt Granada, wohin mich meine Seele zog, bis sie zuletzt wahr und wirklich vor mir auf dem Abendhimmel stand. Und es war mir vergönnt, die Weltpracht, die sie dort aufgerichtet haben, zu betrachten, das durchbrochene Schmuckwerk ihrer Paläste, die Palmen und Zypressen ihrer Zaubergärten und die aufsteigenden Strahlen ihrer rauschenden Wasserkünste.«

»Und du bist unbeschnitten an Leib und Glauben wieder zurückgekehrt, armer Hans?« warf Herr Burkhard ein.

»Zweifelt nicht daran und mit einem weit klügeren Kopfe auf den Schultern, als ich ihn hingetragen hatte. Was aber meinen Christenglauben betrifft, Herr, so habe ich ihn gegen einen großen Philosophen behauptet, dem ich die Röhren, wodurch er den Gang der Gestirne beobachtete, vervollkommnen half. Allnächtlich zeigte er mir die langsam wandelnden Heere des Himmels und erklärte mir, wie von Ewigkeit her die menschlichen Geschicke an diese leuchtenden Zeichen und Figuren, diese Tiergestalten und Wagen geschmiedet seien, so daß keine Hand, weder menschliche noch göttliche, in die sich drehenden Speichen des Feuerrades greifen könne und kein Raum bleibe weder für die menschliche Wahl noch für den Zorn und die Gnade Gottes.

Ich aber glaubte ihm nicht und berief mich auf die Gewitterflut der Reue, wann ich meine Sünde vollbracht hatte.

Im übrigen fand und lernte ich in Granada, was ich dort zu suchen gekommen war. Es ist nur die Wahrheit, lieber Herr! die heidnischen Bogner sind unübertroffen. Haben sie doch vorzeiten mit klugem Witze aus dem Umfange des Bogens die gedrungene und handliche Gestalt der Armbrust gezogen, wie die Sage lautet und ich gerne glauben will: denn Gott hat den Heiden viele Kunst und Wissenschaft gegeben, Mathematik, Mechanik, Baukunde, alle Lehre, wo gezählt und gewogen wird, um ihnen, wie ich meine, vor dem ewigen Tode einen kurzen Stolz zu gönnen.«[586]

Der Chorherr nickte billigend zu diesem weisen Worte und der Bogner fuhr fort:

»Drei Jahre verblieb ich in der Heidenstadt, die Tage verflogen mir im Wettlaufe der Arbeit und an den Abenden ergötzte ich mich, da mir nach und nach die arabische Zunge geläufig wurde, ohne Wein und Streit in den luftigen offenen Hallen, wo sie Marchen erzählen. Dort vernahm ich einmal aus dem Munde eines braunen, glutäugigen Burschen, dem sie am liebsten lauschten, denn er verstand es, die Gebärde beider Geschlechter und jeden Alters und Standes mit beweglichem Mienen- und Gliederspiele darzustellen, eine Geschichte, nicht besser und nicht schlechter als seine übrigen: sie scheint Euch abweges; aber ich lasse sie nicht liegen, denn sie gehört zur Sache.

Es ist das Märchen vom Prinzen Mondschein.

Ein junger Fremdling sei von einer gegen Mitternacht gelegenen Insel nach Cordova gekommen und habe sich dort bei dem Kalifen in Gunst gesetzt durch den Zauber seiner Gestalt und Rede und durch seine Meisterschaft im Schachspiele. Daneben habe er trotz seiner anmutigen Jugend eine solche Schärfe des Verstandes und politische Weisheit besessen, daß der von ihm beratene Kalife ohne Krieg und Blutvergießen durch die bloße Anwendung der Staatskunst in nicht langer Zeit der mächtigste der maurischen Könige geworden sei. Darum habe er den Prinzen Mondschein – so nannten die Cordovaner den Fremdling um der Blässe und Sanftmut seines Antlitzes willen – ganz närrisch liebgewonnen und ihm ohne Bedenken die schönste seiner Schwestern zum Weibe gegeben, Prinzessin Sonne, die, nachdem sie einmal den Fremdling erblickt, ihre leuchtenden Augen nicht mehr von ihm habe abwenden können. Sonne und Mond seien aber nicht über einen Jahreslauf zusammengeblieben, da die Geburt eines Mädchens der Prinzessin das Leben gekostet. Hierauf hatten hundert neidische Höflinge gegen den Fremden, dessen Stellung sie erschüttert glaubten, sich heimlich verschworen. Der Kluge habe sie entlarvt, doch in milder Gesinnung für ihr Leben gebeten. Da seien eines Tages von königlichen Sklaven zehn Maultiere, mit ebenso vielen Säcken beladen, durch die Pforten seines Palastes getrieben worden, und, als das Gesinde die Säcke geöffnet, seien die abgeschnittenen Köpfe seiner hundert Feinde auf den Marmorboden des Hofes gerollt. Der Beschenkte aber sei beim Anblicke der blutigen Gabe erblassend in seine Gemächer zurückgetreten und habe nach eingebrochener Nacht sein[587] Kind aus der Wiege gehoben, ein Pferd bestiegen und die schlummernde Cordova verlassen. Mit ihm aber habe Glück und Macht dem König auf immer den Rücken gewandt.

Der Märchenerzähler verschwor sich im Feuer seines Vortrages, den Prinzen Mondschein persönlich gekannt und ihn oft auf den Plätzen von Cordova mit über der Brust gekreuzten Armen demütig begrüßt zu haben. Sie seien nicht sehr verschieden an Alter und nicht zehn Jahre seien vorüber seit jenen Begebenheiten.

Er war überzeugt, daß er die Wahrheit rede, aber ich nicht völlig; denn die Mauren, ehrwürdiger Herr, lügen mit mehr Aufrichtigkeit als wir, weil ihnen ihre rasche Einbildungskraft das Nichtgeschehene täuschend wie das Geschehene vorgaukelt.

Kurz vor meiner Abreise dann hörte ich den braunen Gesellen die Märe vom Prinzen Mondschein zum anderen Male erzählen und – diese Gerechtigkeit widerfahre ihm! – ohne merklichen Ausschmuck oder Umbau. Das fiel mir auf. Doch hatte ich nicht Zeit, ihn auszufragen, denn ich selber bereitete mich damals darauf vor, wie Prinz Mondschein, aus diesen fremden Sitten und Gebräuchen mich in der Stille nach der Christenheit heimzufinden.

Ich unternahm eine Meerfahrt nach Engelland, wo es mir bald gelang, bei dem vornehmsten Bogner in der Stadt London selbst Arbeit zu finden. Er hatte seine Werkstätte an der Themse unweit des festen Stadtturmes aufgetan und arbeitete mit vielen Gesellen. Da seine Kunst von König und Ritterschaft gesucht wurde, war sein Gut groß angewachsen und man hätte ihn einen angesehenen Mann nennen können, wäre er nicht, wie alle vom Handwerk, von sächsischem Geblüte gewesen. Die Sachsen aber werden seit der Eroberung von ihren normännischen Herren unehrlich gehalten und auf eine unchristliche Weise unterdrückt.«

»Oho!« unterbrach Herr Burkhard. »Ist das die Rede eines Mannes, der ein halbes Menschenalter hinter Herrn Heinrich getrabt und stolziert hat?«

Hans warf dem Chorherrn einen gescheiten Blick zu und erwiderte ohne langes Besinnen:

»Es kommt, o Herr, beim Urteilen wie beim Schießen lediglich auf den Standpunkt an. Damals, mitten unter den Sachsen lebend, drückte ich mich beiseite, oder zog die Mütze, wann ein Zug Normannen auf ihren gepanzerten Rossen vorübersprengte. Hernach, als ich selber droben saß, hätte es meine Ehre nicht gelitten, mich von einem Sachsen anders als barhaupt ansprechen[588] zu lassen. Jetzt, da Sachsen und Normannen für mich verblichene Bilder sind, habe ich, nebst der Weisheit meiner grauen Haare, einen mittleren und mäßigen Stand und spreche: Macht und Eroberung sind von Gott gesetzt, und da die Normannen schärferes Blut und ungestümere Geister haben, so sind sie die Herrscher. Aber derselbe Gott hat Knechtsgestalt angenommen und uns alle mit seinem teuren Blute gekauft: darum mache der Herr sein Gesinde nicht bitter und vergreife sich nicht an dem Weibe und Kinde seines Knechts!

Solches aber geschah meinem Meister, dem zu seinem Unsegen eine schöne Tochter im Hause wuchs.

In Wahrheit, die goldhaarige Hilde war die schönste Magd in London und ich konnte kein Auge von ihr verwenden, wann sie uns nach der Vespermahlzeit, ohne sich allzu lange bitten zu lassen, ihre Balladen vorsang.«

Von Erinnerung überwältigt, wiegte der Bärtige seine breit vorragende Stirn und summte in unmelodischen Tönen:


»In London was Young Beichan born,

He longed strange countries for to see – «


»Wohin verläufst du dich, Hans?« rief Herr Burkhard, der das Englische nicht verstand, mit beginnendem Mißmut.

Der Armbruster fuhr aus seinem Traume auf und in den etwas abgespannten Zügen seines alten Zuhörers lesend, daß diesem der Einleitung zu viel und die Weile lang werde, sprach er ihn heftig an: »Wisset Ihr, Herr, von was diese Ballade, welche Jung Hilde uns vorsang, handelt? . . .

Von der Geburt eines Heiligen aus dem Schoße einer Sarazenin, desselben heiligen Thomas, dessen Geschichte Euch zu erzählen ich hier bin!«

Die plötzliche Wendung, mit welcher Hans sein Schifflein aus dem Fahrwasser des eigenen Lebens in die Strömung eines größeren hineinsteuerte, gab dem Chorherrn einen Stoß; er richtete sich in seinem Sessel so steil und so rasch in die Höhe, als sein Alter es zuließ, und rief erstaunt:

»Sarazenenblut in den Adern des heiligen Thomas, Lieber bist du bei guten Sinnen?«

»Hättet Ihr das Pergament geduldig gelesen, das Euch die Frau vom Münster, wie Ihr sagt, geliehen hat, Ihr würdet mich nicht mit so entsetzten Augen anschauen. Denn gerade dieser Punkt, will ich wetten, ist darin schön hervorgehoben. Hat sich[589] doch die ganze Pfaffheit von London stark der Sache angenommen und die Heidin, bevor sie dieselbe in eine christliche Ehe treten ließ, sorgfältig bekehrt! Sie tauften sie auf den Namen Grazia oder Grace, was deutsch lautet: Gnade. Um der großen Gnade willen, welche die Mutter Gottes der Ungläubigen erwiesen!

In der Brautnacht der Sarazenin aber hatte eine prophetische Nonne zu London ein Gesicht und sah aus dem neuen Ehebunde eine weiße Lilie, das ist einen Heiligen, entsprießen und gen Himmel wachsen.

Und es geschah, wie die Nonne gesehen hatte.

Aber viel hat es gebraucht, bis aus dem Heidenkinde der Heilige herauswuchs: Blut und unendlichen Jammer, den Sturz eines Königs und wo nicht den Untergang, doch die Erschütterung eines Königreiches!

Ich will nun ganz nach der Ordnung, wie es Euch bequem ist, Herr, erzählen, wer die Eltern des Thomas Becket gewesen sind.

Die Geschichte ist mir vertraut; denn sie war die Freude der blonden Hilde, welche damals noch jung und unschuldig war und das Wunder natürlich fand, daß zweie, die sich liebten, über Land und Meer zusammenkamen.

Vor vielen Jahren begab es sich einmal, daß ein Handelsmann aus London mit Namen Gilbert Becket nach dem Morgenlande fuhr und dort von einem mit seinen Reitern und Herden in der Wüste ziehenden Fürsten überrascht und gebunden wurde. Die eigene Tochter des Heiden aber erbarmte sich seiner Bande und zerschnitt sie. Vor Jahresfrist dann floh sie dem Sachsen nach; denn sie hatte ihr Herz an ihn verloren, und in Engelland singen und sagen sie, daß die vornehme heidnische Magd, obwohl ihrem Willen und Gedanken nur zwei Worte zu Gebote standen: London und Gilbert, mit diesen den Weg zu ihrem Lieblinge gesucht und gefunden habe.«

»Höre, Hans«, gab der Chorherr einem aufsteigenden Zweifel Ausdruck, »du reitest das geflügelte Rößlein der Fabel nicht schlechter als dein brauner Freund, der Märchenerzähler in Cordova. Es fehlt nur noch, daß auch du darauf schwörest, du seiest dabeigewesen.«.

Der Bogner zuckte gleichmütig die Achseln.

»Nicht ich, lieber Herr; mein Meister aber in London, der ein pünktlicher und trockener Mann war, hat mir oft gesagt, wie er, ein junger Geselle, durch die Straßen der Stadt hinter der[590] fahrenden Sarazenin hergelaufen sei. Denn diese habe jeden Vorübergehenden angehalten und ihn gefragt: ›Gilbert?‹ Dadurch sei sie stadtkundig geworden, so daß ihr am Ende viel Volk nachgezogen, um mit ihr ›Gilbert!‹ zu rufen. Die einen aus Mitleid mit dem schönen ausgehungerten Frauenbilde, das vor Kümmernis jede Speise zurück wies, die andern der Törin spottend, die einen Gilbert aus Tausenden in London, wo der Name gemein ist, herausfinden wollte. Endlich sei der wahre Gilbert an sein Fenster und vor seine Schwelle getreten, habe die Heidin bei der Hand ergriffen und an seinen Herd geführt.

Wann aber der Meister so erzählte, ermangelte er nie anzufügen:

›Fahrende Heidinnen, Hans, bringen uns Christen nichts Gutes. Wäre doch das Wüstenkind in seinem Zelte geblieben, statt: nach unserm Engelland zu schwimmen und uns hier den Kanzler auf die Welt zu setzen, den Verräter an seinem Volke!‹

Der Kanzler, der weltberühmte Kanzler von Engelland, die Wonne und Weisheit des Königs, die Bewunderung und der Neid der Normannen, der Haß und geheime Schrecken der Sachsen, war damals in aller Munde.

Sein rasch aufleuchtender Stern, die wie aus einem unerschöpflichen Füllhorn über ihn ausgeschütteten Gnaden und Würden, seine Türme, Burgen, Abteien, seine Zaubergärten und unbegrenzten Wälder, sein Gefolge von hundert und dann von tausend Rittern, die goldenen Geschirre seiner Rosse und Mäuler, die üppigen Tafeln seiner Feste und die unabsehbaren Reihen der Geladenen, seine köstlichen Gewande und blitzenden Steine – das alles gab den Leuten von London zu wundern und zu reden von Morgen bis Abend.

In der Werkstätte konnte ich mir während der Arbeit die Ohren nicht verhalten und so klangen sie mir unablässig von dem Sohne des Sachsen und der Sarazenin. Daß ihm seine Landsleute alle schwarzen Frevel nachredeten, setzte mich nicht in Erstaunen und lag in den Staatsverhältnissen, da der Kanzler der einzige Sachse war, der im Sonnenlichte der königlichen Gnade wandelte. Aber denkwürdig bleibt es immerhin, daß die Väter an demselben Manne keine gute Faser fanden, den die Söhne jetzt auf den Knieen anrufen.

Ein schlechter Sohn sei er gewesen, der den Geruch der väterlichen Ölfässer und Warenballen verabscheut habe. In den Dienst eines schwelgerischen normännischen Bischofs sei der Jüngling zuerst[591] getreten, dort habe er französisch lispeln gelernt und kein ehrliches sächsisches Wort sei mehr über seine Lippen gekommen. Um seinen von Vaterseite sächsischen Ursprung zu verwischen, habe er von den Händen dieses Normannen, als ein Leichtfertiger, die ersten Weihen empfangen. Dann, reich geworden durch den Tod des Vaters, sei er über Meer gefahren, habe in Calais seine treuen sächsischen Diener verabschiedet, welsches Gesinde gedungen, köstliche Gewande gekauft und sich als Ritter aufgetan. Durch Aquitanien und Spanien sei er an die maurischen Höfe gezogen, von seinem mütterlichen heidnischen Blute getrieben, und beim Könige von Cordova in die höchste Gunst gekommen. Dort habe er mit Weisen aus dem Morgenlande Sterndeutung und geheime Wissenschaft getrieben, worin er seine Meister bald übertroffen, so daß es ihm nach seiner Heimkehr habe glücken können, König Heinrich durch höllische Sympathie unvergänglich an sich zu ketten.

Herr, darin war das Goldkorn der Wahrheit schwer zu finden.

Um so mehr wuchs meine Begierde, diese lebendige Fabel mit Augen zu schauen; aber lange mußt ich mich gedulden, denn Thomas Becket weilte damals mit dem Könige jenseits des Meerarmes in Aquitanien, das, wie Ihr wißt, zu dem Weibergute seiner Königin gehörte.

Endlich kam der Tag. Ich schnitzte in der Werkstatt an einem Bolzen. Da fängt es an, auf der Straße unruhig zu werden, zu treiben und zu summen. Meine Gesellen verlassen ihr Zeug, steigen auf Schemel und Bänke und drücken die Köpfe in die Fenster. Pauken und Zimbeln schmettern. Hinter den berittenen Spielleuten folgte ein Herold mit den drei Pardeln auf der Brust und bereitete den Weg dem Sohne der Heidin Grazia.

Ein schöner Mann war er und fürstlich, wie König Salomo. Mit den normännischen Herren konnte er sich wohl nicht messen an Frische des Antlitzes und Macht des Wuchses. Aber er lenkte mit unvergleichlichem Anstande seinen goldgeschirrten, tanzenden Araber und sein farbloses Antlitz besaß eine ernste Lieblichkeit.

Wie ich damals, mitten unter dem niedern Volke stehend, ihn bewunderte, ließ ich mir nicht einfallen, daß ich selbst über ein kurzes in den Dienst des Königs treten und dort diesem wundersamen Herrn täglich, ja stündlich begegnen würde.

Das begab sich aber folgendergestalt.

In der Werkstätte meines Meisters gingen die Normannen ein[592] und aus, denn da gab es stets mit neuer Kunst erfundene oder vervollkommnete Armbruste zu prüfen. Leider blieb bei diesen Besuchen die schüchterne Hilde nicht immer verborgen. Sie war die Freude und der Wunsch meiner Augen; so konnte mir nicht entgehen, daß die der normännischen Ritter schärfer auf ihr hafteten als heilsam war. Einer von ihnen, den sie Gui Malherbe, das ist Veit Unkraut, hießen und der im Gefolge und an der reichen Tafel des Kanzlers sein schädliches Dasein fristete, ein frecher, ungebundener Edelknecht, aber gegen die Frauen von geschmeidigen Manieren, wurde mir täglich mehr zum Stachel und zum Ärgernis, und es fraß mir das Herz ab, ihn mit der sächsischen Magd auf der Grenzscheide verblümter Tändelei und nackter Herrenfrechheit spielen zu sehen, ohne ihm dafür mein Messer zwischen die Rippen stoßen zu dürfen. Mein Leben hätt ich es mir vielleicht kosten lassen; aber den Meister und das Mägdlein wollt ich nicht ins Verderben stürzen, wie es doch damit geschehen wäre.

Was soll ich da Worte machen, wo mein Herr Burkhard sich aus seiner Jugend erinnert, wie behend der Böse in solchen Fällen sein Netz auswirft und zuzieht!

Eines Tages wurden der Meister und ich auf ein etliche Meilen von London gelegenes Schloß gerufen, um einem normännischen Herrn die Waffenkammer einzurichten. Es wird ein verabredetes Spiel gewesen sein. Wir wurden unter allerlei Vorwand dort aufgehalten, und als wir nach London heimkehrten, war Jung Hilde verschwunden – gewaltsam entführt nach der Aussage der Nachbarn, die nächtlicherweile Pferdegetrappel und eine jammernde Stimme gehört hatten, willig folgend, wie die feigen Gesellen und furchtsamen Mägde logen, da sie der Meister zur Rede stellte.

Ich warf meinen Verdacht auf Gui Malherbe – was sage ich? die Sache war mir gewiß und so riet ich meinem Meister, dem Kanzler knieend den Weg zu verlegen, wenn er an unserer Werkstatt vorüberritte nach dem festen Turme von London, zu dessen Kastellan der König ihn erhoben hatte, und nicht zu weichen bis er ihm Gehör gebe und seinen normännischen Knecht zur Rechenschaft ziehe.

So geschah es eines Tages. Mein armer Meister warf sich vor dem prächtig geschirrten Zelter des Kanzlers in den Staub und heischte, seinen grauen Bart raufend, mit erstickter Stimme und mit tränenbedeckten Wangen Gerechtigkeit gegen den Räuber[593] seines Kindes, der mit trotziger Miene, aber unruhigen Augen in der dritten Reihe hinter seinem prunkenden Gebieter herritt.

Ich kann es nie vergessen und sehe es jetzt noch, wie dieser gelassen und unbewegt, ohne eine Miene zu verziehen, den Geängstigten kaum mit einem dunkeln Blicke aus seinen halbgeschlossenen Augen streifte, das Pferd langsam an ihm vorüberlenkend.

Als dann der verzweifelnde Sachse auf die Füße sprang, die geballten Fäuste gegen ihn schüttelte und ihm nachschrie: ›Schade, Pfaffe, daß du kein Kind hast, das dir ein Normanne verderben kann!‹ da berührte Thomas Becket, wie von einem lästigen Insekt umschwärmt, leise sein arabisches Roß, um es in etwas raschere Gangart zu setzen. Ich aber drängte den alten Mann in sein Haus zurück und entzog ihn den höhnenden Blicken und verächtlichen Scherzreden der den Kanzler geleitenden Reiterschar.

Nun folgten jammervolle Tage, an die ich noch heute nur mit Bitterkeit zurückdenke; damals glaubte ich sie kaum zu überstehn. Es wurde nichts besser, als eines Tages die arme Hilde unversehens, da es dunkelte, in der verlassenen Werkstatt saß, den Vater erwartend, von dem sie wußte, daß er bei einbrechender Nacht mit eigenen Händen Laden und Türe verriegelte.

Ich habe nie erfahren, ob der Normanne Malherbe seine Gefangene freiwillig zurückgab, weil er ihrer müde geworden, oder ob der Kanzler in seiner verborgenen Weise einen Druck auf ihn ausgeübt hatte.

Eines dagegen sah ich deutlich: der Meister trieb mich in treuer Absicht aus dem Hause. Er war gesonnen, sein zertretenes und scheu gewordenes Kind einem Angelsachsen aus seiner Verwandtschaft, der in der Werkstatt arbeitete und Trustan Grimm hieß, einem ungeschlachten Rotkopf, zum Weibe zu geben. Dabei wollte er mich nicht zusehen lassen. So lag er mir täglich an, eine bessere Stellung zu suchen, und da ich in jener Zeit, um Groll und Gram zu verwinden, eine Armbrust erfand, die weiter trug und sich leichter spannen ließ als alle damaligen – ein braves Werk, wenn ich es auch später abermals übertroffen habe – so redete er mir zu, meine Erfindung König Heinrich, der ein Förderer und Pfleger der edeln Wurf- und Schießkunst war, persönlich zu überbringen und zu empfehlen. Ich sah, er meinte es gut mit mir, und ich befolgte seinen Rat.[594]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 582-595.
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