Erstes Kapitel

[300] »Precor sanctos apostolos Petrum et Paulum!« psalmodierten die Mönche auf Ara Coeli, während Karl der Große unter dem lichten Himmel eines römischen Märztages die ziemlich schadhaften Stufen der auf das Kapitol führenden Treppe emporstieg. Er schritt feierlich unter der Kaiserkrone, welche ihm unlängst zu seinem herzlichen Erstaunen Papst Leo in rascher Begeisterung auf das Haupt gesetzt. Der Empfang des höchsten Amtes der Welt hatte im Ernste seines Antlitzes eine tiefe Spur gelassen. Heute, am Vorabend seiner Abreise, gedachte er einer solennen Seelenmesse für das Heil seines Vaters, des Königs Pippin, beizuwohnen.

Zu seiner Linken ging der Abt Alkuin, während ein Gefolge von Höflingen, die aus allen Ländern der Christenheit zusammengewählte Palastschule, sich in gemessener Entfernung hielt, halb aus Ehrerbietung, halb mit dem Hintergedanken, in einem günstigen Augenblicke sich sachte zu verziehen und der Messe zu entkommen. Die vom Wirbel zur Zehe in Eisen gehüllten Höflinge schlenderten mit gleichgültiger Miene und hochfahrender Gebärde in den erlauchten Stapfen, die Begrüßung der umstehenden Menge mit einem kurzen Kopfnicken erwidernd und sich über nichts verwundern wollend, was ihnen die Ewige Stadt Großes und Ehrwürdiges vor das Auge stellte.

Jetzt hielten sie vor der ersten Stufe, während oben auf dem Platze Karl mit Alkuin bei dem ehernen Reiterbilde stillestand. »Ich kann es nicht lassen«, sagte er zu dem gelehrten Haupte, »den Reiter zu betrachten. Wie mild er über der Erde waltet! Seine Rechte segnet! Diese Züge müssen ähnlich sein.«

Da flüsterte der Abt, den der Hafer seiner Gelehrsamkeit stach: »Es ist nicht Konstantin. Das hab ich längst heraus. Doch ist es gut, daß er dafür gelte, sonst wären Reiter und Gaul in der Flamme geschmolzen.« Der kleine Abt hob sich auf die Zehen und wisperte dem großen Kaiser ins Ohr: »Es ist der Philosoph und Heide Mark Aurel.« »Wirklich?« lächelte Karl.

Sie gingen der Pforte von Ara Coeli zu, durch welche sie verschwanden,[300] der Kaiser schon in Andacht vertieft, so daß er einen netten jungen Menschen in rätischer Tracht nicht beachtete, der unferne stand und durch die ehrfürchtigsten Grüße seine Aufmerksamkeit zu erregen suchte.

»Halt, Herren«, rief einer der inzwischen bei dem Reiterbilde angelangten Höflinge und fing rechts und links die Hände der neben ihm Wandelnden, »jetzt da alles treibt und schwillt« – Erd- und Lenzgeruch kam aus nahen Gärten – »will ich meinen Becher und was mir sonst lieb ist mit Veilchen bekränzen, aber keinen Weihrauch trinken, am wenigsten den einer Totenmesse. Ich habe hierherum eine Schenke entdeckt mit dem steinernen Zeichen einer säugenden Wölfin. Das hat mir Durst gemacht. Sehen wir uns noch ein bißchen den Reiter an und verduften dann in die Tabernen.«

»Wer ist's?« fragte einer.

»Ein griechischer Kaiser –«

»Den setzen wir ab –«

»Wie er die Beine spreizt!« –

»Reitet der Kerl in die Schwemme!« –

»Holla, Stallknecht!« –

»Nettes Tier!« –

»Wülste wie ein Mastschwein!«

So ging es Schlag auf Schlag und ein frecher Witz überblitzte den andern. Das antike Roß wurde gründlich und unbarmherzig kritisiert.

Der artige Räter hatte sich nach und nach dem Kreise der Spötter genähert. Seine Absicht schien, zwischen zwei Gelächtern in ihre Gruppe zu gelangen und auf eine unverfängliche Weise mit der Schule anzuknüpfen. Aber die Höflinge achteten seiner nicht. Da faßte er sich ein Herz und sprach in vernehmlichen Worten zu sich selbst: »Erstaunliche Sache, diese Palastschule, und ein Günstling des Glücks, wer ihr angehören darf!«

Ober eine gepanzerte Schulter wendete sich ein junger Rotbart und sprach gelassen: »Wir schwänzen sie meistenteils.« Dann kehrte sich der ganze Höfling, ein baumlanger Mensch, und fragte der Räter mit einem spöttischen Gesichte: »Welcher Eltern rühmst du dich, Knabe?«

Dieser gab vergnügten Bescheid. »Ich bin der Neffe des Bischofs Felix in Chur und mit seinen Briefen an den Heiligen Stuhl geschickt.«

»Räter«, sprach der Lange ernsthaft, »du bist an den Quell der[301] Wahrheit gesendet. Hier stehst du auf den Schwellen der Apostel und über den Grüften unzähliger Bekenner. Lege wahrhaftes Zeugnis ab und bekenne tapfer: Ich bin der Sohn des Bischofs.«

Eben intonierten die Mönche von Ara Coeli mit jungen und markigen Stimmen die dunkle Klage und flehende Entschuldigung: »Concepit in iniquitatibus me mater mea!«

»Hörst du«, und der Höfling deutete nach der Kirche, »die dort wissen es!« Der ganze Haufe schlug eine schallende Lache auf.

Der kluge Bischofsneffe hütete sich in Zorn zu geraten. Mit einem flüchtigen Erröten und einer leichten Wendung des Kopfes sagte er: »Bischof Felix, der im Schatten seiner Berge die aus eurer Schule aufsteigende Sonne der Bildung mit frommem Jubel begrüßt, hat mir den Auftrag gegeben, für seine jung gebliebene Lernbegierde einige Hauptschriften der erwachenden Wissenschaft und insbesondere das unvergleichliche Büchlein der Disputationen des Abtes Alkuin zu erwerben. Nun wird erzählt, dieser große und gute Lehrer habe jeden von euch mit einem kostbaren Exemplare ausgerüstet, und ich meine nur, einer dieser Herren hätte vielleicht Lust einen Handel zu schließen.«

»Du sprichst wahr und weise, Bischofssohn«, parodierte ihn der Höfling, »und wäre mein Alkuin nicht längst unter die Hebräer gegangen, mochte es geschehen, daß wir zweie zu dieser Stunde darum ein kurzweiliges Würfelspielchen machten.«

»In unchristliche Hände! diese göttliche Weisheit!« wehklagte der Räter.

»Weisheit!« spottete der Rotbart, »ich versichere dir: lauter dummes Zeug. Übrigens weiß ich es auswendig. Höre nur, Bergbewohner!« Er krümmte den langen Rücken wie ein verbogener Schulmeister, zog die Brauen in die Höhe und wendete sich an den jüngsten der Bande, einen Krauskopf, der, fast noch ein Knabe, aus südlichen Augen lachend mit Lust und Liebe auf das gottlose Spiel einging.

»Jüngling«, predigte der falsche Alkuin, »du hast einen guten Charakter und einen gelehrigen Geist. Ich werde dir eine ungeheuer schwere Frage vorlegen. Siehe, ob du sie beantwortest. Was ist der Mensch?«

»Ein Licht zwischen sechs Wänden«, antwortete der Knabe andächtig.

»Welche Wände?«

»Das Links, das Rechts, das Vorn, das Nichtvorn, das Oben,[302] das Unten.« Jeden dieser Räume bezeichnete er mit einer Gebärde: beim fünften starrte er in den leuchtenden Himmel hinauf, als bestaune er einen Engelreigen, und bohrte schließlich einen stieren Blick in den Boden, als entdecke er die verschüttete Tarpeja. Jubelndes Klatschen belohnte die Faxe.

Die wachsende Lustigkeit der Palastschule begann den Bischofsneffen zu ängstigen. Da trat im guten Augenblicke einer aus dem Kreise, ein kühner Krieger, dem an der rechten Seite des stämmigen Wuchses ein seltsam gewundenes Hifthorn hing. »Sei getrost«, sagte er und ergriff die Hand des Räters, »du sollst ein Pergament haben. Das meinige. Es schleppt sich unter dem Gepäcke.« Er führte den Erlösten weg, die Treppe des Kapitols hinunter, sich nicht weiter um seine Gefährten bekümmernd.

Jetzt gingen sie freundlich nebeneinander, wenn auch nicht mehr Hand in Hand. Die des Palastschülers war auf das Hifthorn geglitten, das der Bischofsneffe mit aufmerksamen Blicken betrachtete. »Das hier kommt aus dem Gebirge«, sagte er.

»So«, machte der Behelmte. »Aus welchem Gebirge?«

»Aus unserm, Landsmann. Ich kenne dich an deiner Sprache, wie du mich ebendaran erkannt haben wirst, da du mich, wofür ich dir danke, den Neckereien der Palastschule entzogest. Daß du es wissest, ich bin Graciosus« – der kluge Räter hatte diesen seinen hübschen Namen den Spöttern am Reiterbilde weislich verschwiegen – »oder auf deutsch Gnadenreich, und du bist Wulfrin, Sohn Wulfs, wenn dieses Hifthorn dein Erbteil ist, wie ich vermute.«

Wulfrin runzelte die Stirn. Es mochte ihm nicht willkommen sein, von der Heimat zu hören. Dann musterte er Gnadenreich und fand einen anmutenden wohlgebildeten Jüngling, eine Gott und Menschen gefällige Erscheinung, nicht anders als der Name lautete. Er klopfte ihn auf die runde Schulter, deren Schmiegsamkeit zu dieser beschützenden Liebkosung einlud, und sagte: »Es macht warm.« In der Tat strahlte nicht nur die römische Märzsonne, sie brannte sogar.

»Ja, es mache warm«, wiederholte er, hob den Helm und wischte mit der Hand einen Schweißtropfen. »Leeren wir einen Becher?« und ohne die Antwort zu erwarten, bog er nach wenigen Schritten in den offenen Hofraum eines klösterlichen Gebäudes und warf sich dort auf eine Steinbank, wo Graciosus in Züchten sich neben ihn setzte. »Ich darf mich nicht weiter verziehen«, sagte der Höfling, »als das Horn reicht, wann Herr[303] Karl die Schule zusammenruft. Auch liebe ich dieses junge Geschöpf«, scherzte er und zeigte auf eine Palme, welche in geringer Entfernung auf dem Vorsprunge eines Hügels, von leichten Windstößen bewegt, sich im blauen Himmel fächerte und etwa sechzehn Jahresringe zählen mochte. »Hier heißt es ad palmam novellam und Pförtner Petrus schenkt einen herben. He, Petrus!« Dieser, ein Alter mit struppigem Bart, feurigen Augen und zwei riesigen Schlüsseln am Gurte, brachte Kanne und Becher.

»Palma novella ist auch ein Frauenname«, bemerkte Graciosus und netzte den Mund.

»Mag sein«, versetzte Wulfrin. »In Hispanien, wenn mir recht ist, läuft derlei Getauftes oder Ungetauftes herum. Ich habe mich nicht damit befaßt. Ich mache mir nichts aus den Weibern.«

»Deine rätische Schwester heißt auch nicht anders«, sagte Gnadenreich unschuldig.

»Meine – rätische – Schwester?«

»Nun ja, Wulfrin, das Kind der Judicatrix, meiner Nachbarin auf Malmort am Hinterrhein. Du hast sie nie von Angesicht gesehen, die Frau Stemma, das zweite Weib deines Vaters?«

»Das dritte«, murrte Wulfrin. »Ich bin von der zweiten.«

»Das weißt du besser. Auch das jähe Ende deines Vaters weißt du, bei seinem Auftritt in Malmort. Palma ist nachgeboren.«

»Es sei«, versetzte Wulfrin verdrossen. »Warum auch sollte es nicht sein? Rührt mich aber nicht. Was mich kümmern konnte, hat mir der Knecht des Vaters, der Steinmetz Arbogast, umständlich berichtet. Ich habe es mit ihm beredet und erörtert mehr als einmal und noch zuletzt am Wachfeuer vor Pertusa, wenige Augenblicke bevor den treuen Kerl der maurische Pfeil meuchelte. Das ist nun fertig und abgetan. Wisse: als Siebenjähriger bin ich daheim ausgerissen – der Vater hatte mir das sieche Mütterlein ins Kloster gestoßen – und über Stock und Stein zu König Karl gerannt. Dorthin hat mir der Arbogast mein Erbe gebracht, das Wulfenhorn, dieses hier. Der Wulfenbecher, der dazugehört, obschon er heidnisch ist – das Horn ist biblischen Ursprungs – blieb auf Malmort und mag dort bleiben, bis ich freie, und das hat Weile. Sie werden ihn aufgehoben haben. Du hast ihn wohl gesehen, wenn du dort ein und aus gehst.«

Graciosus nickte.

»Verstehe: beide, Horn und Kelch, sind zwei Altertümer, mit[304] Tugenden und Kräften begabt. Den Becher gab einem Wölfling ein Elb oder eine Elbin von denen im Hinterrhein. Solang eines Wolfes Weib ihn ihrem Wolfe kredenzt und den darein gegrabenen Spruch ohne Anstoß hersagt, einmal vorwärts und einmal rückwärts, gefällt und mundet sie dem Wolfe. Über das Hifthorn sind die Meinungen geteilt. Nach den einen ist es gleichfalls ein elbisches Geschenk, und vor dem Burgtor bei der Rückkehr geblasen, zwingt es die Wölfin zu bekennen, was immer sie in Abwesenheit des Gatten gesündigt hat. Andere dagegen behaupten, daß ein Wolf im Gelobten Lande das Horn mit seinem Schwert aus dem erstarrten Pech und Schwefel des Toten Meeres grub. So ist es ein im Getümmel zur Erde gestürztes Harschhorn, von denen welche die himmlischen Haufen bliesen zum Gericht über Sodom und Gomorrha.« Wulfrin blickte dem Räter ins Gesicht, der ihm – Schlauheit oder Einfalt – zwei gläubige Augen entgegenhielt.

Eben wurde vom Winde ein Bruchstück der Seelenmesse aus Ara Coeli hergetragen. Zornig und drohend sangen sie dort: »Dies irae, dies illa, dies magna et amara valde!«

»Schöne Bässe«, lobte Wulfrin. »Um wieder auf den Becher zu kommen, so glaube ich nicht an seine Kraft. Sicherlich hat die Mutter nicht unterlassen, seinen Spruch herzubeten, vorwärts und rückwärts. Es hat nichts gefruchtet. Sie welkte und der Vater verstieß sie.« Er tat einen Seufzer.

»Und das Horn?« fragte Schelm Graciosus.

Der Höfling wog es in den Händen und lächelte. Graciosus lächelte gleichfalls.

»Übrigens ist es das beste Hifthorn im Heere. Das ruft! Höre nur!« und er setzte es an den Mund.

»Um aller Heiligen willen, Wulfrin, laß ab!« schrie Graciosus ängstlich. »Willst du die Stadt Rom in Aufruhr bringen?«

»Du hast recht, ich dachte nicht daran.« Wulfrin ließ das Horn in die tragende Kette zurückfallen.

»Dieses Hifthorn«, sagte jetzt Graciosus bedächtig, »wurde mir beschrieben. Auch hat es der Knecht Arbogast in Stein gemeißelt auf dem Grabmal im Hofe von Malmort, wo er den Comes deinen Vater abbildete und die Wittib daneben.«

»So?« grollte Wulfrin. »Konnte der Vater nicht allein liegen?«

Graciosus ließ sich nicht einschüchtern. »An den Herrn des Hifthorns habe ich einen Auftrag«, sagte er.[305]

»Du bist voller Aufträge. Von wem hast du diesen?«

»Von der Richterin.«

»Welche Richterin?« Entweder war Wulfrin von harten Begriffen oder seine Laune verschlechterte sich zusehends.

»Nun, die Judicatrix Stemma, deine Stiefmutter.«

»Was hab ich mit der Alten zu schaffen! Warum lächelst du, Männchen?«

»Weil du so mit ihr umgehst, die noch schön und jung ist.«

»Ein altes Weib, sage ich dir.«

»Ich bitte dich, Wulfrin! Dein Vater freite sie als eine Sechzehnjährige. Dein Geschwister ist nicht älter. Zähle zusammen! Doch jung oder alt, sie gab mir den Auftrag und ich darf ihn nicht unausgerichtet heimbringen.«

Der Höfling verschluckte einen Fluch. »Du verdirbst mir den Krätzer, er schmeckt wie Galle.« Erbost stieß er den Becher von der Bank und setzte den Fuß darauf. »So sprich!«

»Frau Stemma«, begann Gnadenreich in bildlicher Rede, »will sich vor dir die Hände in ihrer Unschuld waschen.«

»Ein Becken her!« spottete Wulfrin, als riefe er in die Gasse hinaus nach einem Bader.

»Wulfrin, stünde sie vor dir, du straftest deine Lippen! Keine in Rätien hat edlere Sitte. Was sie verlangt, ist gebührlich. Auf der Schwelle ihres Kastells, vor ihrem Angesichte, jählings ist dein Vater erblichen. Das ist schrecklich und fragwürdig. Frau Stemma läßt dir sagen, sie wundere sich, daß sie dich rufen müsse, sie habe dich längst, täglich, stündlich erwartet, seit du zu deinen mündigen Jahren gekommen bist. Nur ein Sorgloser, ein Fahrlässiger, ein Pflichtvergessener – nicht meine Worte, die ihrigen – verschiebe und versäume es, sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

Wulfrin blickte finster. »Das Weib tritt mir zu nahe«, sagte er. »Ich wußte, was man einem Vater schuldig ist. Er hat an meiner Mutter gefrevelt und sein Gedächtnis – die Kriegstaten ausgenommen – ist mir unlieb: dennoch habe ich mir seine Todesgebärde vergegenwärtigt, den Augenzeugen Arbogast, der das Lügen nicht kannte, habe ich scharf ins Verhör genommen. Jetzt will ich noch ein übriges tun und dir die gemeine Sache herbeten, vom Credo bis zum Amen. Du bist aus dem Lande und kennst die Geschichte. Mangelt etwas daran oder ist etwas zuviel, so widersprich!

Der Vater kam aus Italien und nächtigte bei dem Judex auf[306] Malmort. Bei Wein und Würfeln wurden sie Freunde und der Vater, der, meiner Treu, kein Jüngling mehr war – ich habe aus der Wiege seinen weißen Bart gezupft – warb um das Kind des Richters und erhielt es. Beim Bischof in Chur wurde Beilager gehalten. Am dritten Tage setzte es Händel. Der Räzünser, dessen Werbung der Judex abgewiesen haben mochte, wurde zu spät oder ungebührlich geladen oder an einen unrechten Platz gesetzt oder nachlässig bedient oder schlecht beherbergt oder es wurde sonst etwas versehen. Kurz, es gab Streit und der Räzünser streckt den Judex. Der Vater hat den Schwieger zu rächen, berennt Räzüns eine Woche lang und bricht es. Inzwischen bestattet das Weib den Judex und reitet nach Hause. Dort sucht sie der Vater, mit Beute beladen. Er stößt ins Horn, der Sitte gemäß. Sie tritt ins Tor, sagt den Spruch und kredenzt den Wulfenbecher, den ihr der Vater in Chur nach wölfischer Sitte als Morgengabe gereicht hatte. Kredenzt ihn mit drei Schlücken. Der Arbogast, der durstig daneben stand, hat sie gezahlt: drei herzhafte Schlücke. Der Vater nimmt den Becher, leert ihn auf einen Zug und haucht die Seele aus. War es so oder war es anders, Bischofsneffe?«

»Wörtlich und zum Beschwören so«, bestätigte Graciosus »Von hundert Zeugen, die den Burghof füllten, zu beschwören! Soviel ihrer noch am Leben sind. Und solches ist geschehen nicht im Zwielichte, nicht bei flackernden Spänen, sondern im Angesicht der Sonne zu klarer Mittagszeit. Der Comes dein Vater war rasend geritten, hatte im Bügel manchen Trunk getan –«

»Und mit fliegender Lunge ins Horn gestoßen, vergiß nicht!« höhnte Wulfrin.

»Er triefte und keuchte –«

»Er lechzte wie eine Bracke!« überbot ihn Wulfrin.

»Er sehnte sich nach seinem Weibe«, dämpfte Graciosus.

»Trunken und brünstig! unter gebleichten Haaren! pfui! Ist das zum Abmalen und An-die-Wand-Heften? Was will die Judicatrix? Mich schwören lassen, daß wir Wölfe gemeinhin am Schlage sterben? Was freilich auf die Wahrheit herausliefe.«

»Es ist ihr Wille so und man gehorcht ihr in Rätien.«

»Seht einmal da! ihr Wille!« hohnlachte Wulfrin. »Mein Wille ist es nicht und meine Heimat ist nicht ein Bergwinkel, sondern die weite Welt, wo der Kaiser seine Pfalz bezieht oder sein Zelt aufschlägt. Sage du deiner Richterin, Wulfrin sei kein Laurer noch Argwöhner! Sie rühre nicht an die Sache! Sie zerre[307] den Vater nicht aus dem Grabe! Ich lasse sie in Ruhe, kann sie mich nicht ruhig lassen?« Er drohte mit der Hand, als stünde die Stiefmutter vor ihm. Dann spottete er: »Hat das Weib den Narren gefressen an Spruch und Urteil? Hat es eine kranke Lust an Schwur und Zeugnis? Kann es sich nicht ersättigen an Recht und Gericht?«

»Es ist etwas Wahres daran«, sagte Graciosus lächelnd. »Frau Stemma liebt das Richtschwert und befaßt sich gerne mit seltenen und verwickelten Fällen. Sie hat einen großen und stets beschäftigten Scharfsinn. Aus wenigen Punkten errät sie den Umriß einer Tat und ihre feinen Finger enthüllen das Verborgene. Nicht daß auf ihrem Gebiete kein Verbrechen begangen würde, aber geleugnet wird keines, denn der Schuldige glaubt sie allwissend und fühlt sich von ihr durchschaut. Ihr Blick dringt durch Schutt und Mauern und das Vergrabene ist nicht sicher vor ihr. Sie hat sich einen Ruhm erworben, daß fernher durch Briefe und Boten ihr Weistum gesucht wird.«

»Das Weib gefällt mir immer weniger«, grollte Wulfrin. »Der Richter walte seines Amtes schlecht und recht, er lausche nicht unter die Erde und schnüffle nicht nach verrauchtem Blute.«

Graciosus begütigte. »Sie redet davon, ihr Haus zu bestellen, obwohl sie noch in Blüte und Kraft steht. Vielleicht sorgt sie, wenn sie nicht mehr da wäre, könntest du deine Schwester in Unglück stürzen –«

»In Unglück?«

»Ich meine sie berauben und verjagen unter dem Vorwande einer unaufgeklärten und ungeschlichteten Sache. Darum, vermute ich, will sie dich nach Malmort haben und sich mit dir vertragen.«

Wulfrin lachte. »Wirklich?« sagte er. »Sie hat einen schönen Begriff von mir. Meine Schwester plündern? Das arme Ding! Im Grunde kann es nicht dafür, daß es auf die Welt gekommen ist. Doch auch von ihr will ich nichts wissen.« Während er redete, zählte sein Blick die Jahresringe der jungen Palme. »Fünfzehn Ringe?« sagte er.

»Fünfzehn Jahre«, berichtigte Graciosus.

»Und wie schaut sie?«

»Stark und warm«, antwortete Gnadenreich mit einem unterdrückten Seufzer. »Sie ist gut, aber wild.«

»So ist es recht. Und dennoch will ich nichts von ihr wissen.«

»Sie aber weiß von nichts anderm als von dem fremden reisigen[308] fabelhaften Bruder, der sich mit den Sachsen balgt und mit den Sarazenen rauft. ›Wann der Bruder kommt‹ – ›Das gehört dem Bruder‹ – ›Das muß man den Bruder fragen‹ – davon werden ihr die Lippen nicht trocken. Jedes Hifthorn jagt sie auf, sie springt nach deinem Becher und damit an den Brunnen. Sie wäscht ihn, sie reibt ihn, sie spült ihn.«

»Warum, Narr?«

»Weil sie dir ihn kredenzen will und dein Vater sich daraus den Tod getrunken hat.«

»Dummes Ding! Du also wirbst um sie?«

Der ertappte Graciosus errötete wie ein Mädchen. »Die Mutter begünstigt mich, aber an ihr selbst werde ich irre«, gestand er. »Kämest du heim, ich bäte dich, ein Wort mit ihr zu reden.«

Wieder musterte Wulfrin den netten Jüngling und wieder klopfte er ihn auf die Schulter. »Sie hält dich zum besten?« sagte er.

»Sie redet Rätsel. Da ich neulich auf mein Herz anspielte –«

»Schlug sie die Augen nieder?«

»Nein, die schweiften. Dann zeigte sie mit dem Finger einen Punkt im Himmel. Ich blinzte. Ein Geier, der ein Lamm davontrug. Unverständlich.«

»Klar wie der Morgen. ›Raube mich.‹ Das Mädchen gefällt mir.«

»Du willst sie sehen?«

»Niemals.«

Jetzt trat ein Palastschüler mit suchenden Blicken in den Hofraum und dann rasch auf Wulfrin zu. »Du«, sagte er, »die Messe ist aus, der König verläßt die Kirche.« Der »Kaiser« wollte ihm noch nicht über die Zunge.

Wulfrin sprang auf. »Nimm mich mit!« bat Graciosus, »damit ich dem Herrn der Erde nahe trete und ihn reden höre.«

»Komm«, willfahrte Wulfrin gutmütig und bald standen sie neben dem Kaiser, vor welchem ein ehrwürdiger, aber etwas verwilderter Graubart das Knie bog. Gnadenreich erkannte Rudio, den Kastellan auf Malmort, und wunderte sich, welche Botschaft der Räter bringe, denn Karl hielt ein Schreiben in der Hand. Er reichte es dem Abte und Alkuin las vor:

»Erhabener, da ich höre, Du werdest von Rom nach dem Rheine ziehen, flehe ich Dich an, daß Du Deinen Weg durch Rätia nehmest. Seit Jahren haben sich in unsern verwickelten Tälern versprengte Lombarden eingenistet unter einem Witigis,[309] der sich Herzog nennt. Wir, die Herrschenden im Lande, unter uns selbst uneins und ohne Haupt, werden nicht mit ihnen fertig, ja einige von uns zahlen ihnen Tribut. Ein unerträglicher Zustand. Du bist der Kaiser. Wenn Du kommst und Ordnung schaffst, so tust Du, was Deines Amtes ist. Stemma, Judicatrix.«

»Keine Schwätzerin«, sagte der Kaiser. »Meine Sendboten haben mir von der Frau erzählt.« Alkuin betrachtete die Handschrift. »Feste Züge«, lobte er.

»Alkuin, du Abgrund des Wissens«, lächelte Karl, »was ist Rätien? Welche Pässe führen dahin?«

Der kleine Abt fühlte sich durch Lob und Frage geschmeichelt, wendete sich aber nicht an den Gebieter, sondern, als der Höfling und der Schulmeister welcher er war, an die Palastschule, die schon zu einem guten Drittel, den Blondbart inbegriffen, um den Kaiser versammelt stand.

»Jünglinge«, lehrte er und zog die Brauen in die Höhe, »wer seinen Weg durch das rätische Gebirge nimmt, hat, ohne den harten aber in Stücke zerrissenen Damm einer Römerstraße zu zählen, die Wahl zwischen mehreren Steigen, die sich alle jenseits des Schnees am jungen Rheine zusammenfinden. Diese Wege und Stapfen führen im Geisterlicht der Firne durch ein beirrendes Netz verstrickter Täler, das die Fabel mit ihren zweifelhaften Gestalten und luftigen Schrecken bevölkert. Hier ringelt sich die Schlangenkönigin, wie verlockt von einer Schale Milch, einem blanken Wasser zu, gegenüber, aus einem finstern Borne, taucht die Fei und wehklagt.«

»Lehrer, was hat sie für Gründe dazu?« fragte der Rotbart wißbegierig.

»Sie ahnt das ewige Gut und kann nicht selig werden. Dahinter, zwischen Schnee und Eis, in einem grünen Winkel, weidet eine glockenlose Herde und ein kolossaler Hirte, halb Firn halb Wolke, neigt sich über sie. Tiefer unten, bei den ersten Stapfen, verliert die harmlose Fabel ihre Kraft und menschliche Schuld findet ihre Höhlen und Schlupfwinkel. Hier raucht und schwelt eine gebrochene Burg, dort starrt, von Raben umflattert, ein Mörder in den zerschmetternden Abgrund.«

»Wen hat er hinuntergeworfen?« fragte der Rotbart spöttisch.

»Eheu!« jammerte der Abt, »bist du es, Liebling meiner Seele, Peregrin, mein bester Schüler, dessen Knochen in der rätischen Schlucht bleichen?« Er trocknete sich eine Träne. Dann schloß[310] er: »Gegen beides, Fabel und Sünde, hält Bischof Felix in Chur beschwörend seinen Krummstab empor.«

»In schwachen Händen«, scherzte der Kaiser.

»Er ist sehr schön gearbeitet«, rief Graciosus mit der schallenden Stimme eines Chorknaben, »und in seiner Krümmung neigt sich der Verkündigungsengel mit der Inschrift: ›Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen.‹«

Karl gönnte dem Bischofsneffen einen heitern Blick und wendete sich gegen die Schule: »Stammt einer von euch aus Rätien?«

Wulfrin trat vor. »Ich, Herr. Jung bin ich ausgewandert, doch kenne ich Sprache und Steige.«

»So reite und berichte.«

»Dir zu Dienste, Herr«, verabschiedete sich Wulfrin, wurde aber von dem hartnäckigen Gnadenreich gehalten, der sich seiner bemächtigte und ihn vor den Kaiser zurückbrachte. »Durchlauchtigster«, verklagte er ihn, »er soll auf Malmort bei der Richterin seiner Stiefmutter erscheinen, keiner andern als die dir den Brief geschrieben hat, und er will nicht. Sie besteht darauf, sich vor ihm zu rechtfertigen über das jähe Sterben ihres Gemahles des Comes Wulf.«

»Jener?« besann sich der Kaiser. »Er hat mir und schon meinem Vater gedient und verunglückte im rätischen Gebirge.«

»Vor dem Kastell und zu den Füßen seines Weibes Stemma, die ihm den Willkomm kredenzt hatte«, erinnerte Gnadenreich.

Karl verfiel in ein Nachdenken. »Eben habe ich für die Seele meines Vaters gebetet«, sagte er. »Kindliche Bande reichen in das Grab. Mich dünkt, Wulfrin, du darfst bei der Richterin nicht ausbleiben. Du bist es deinem Vater schuldig«

Wulfrin schwieg trotzig. Jetzt griff der Kaiser rechts nach dem Hifthorn, um die ganze Schule zusammenzurufen und ihr seine Befehle zu geben. Es mangelte. Er hatte es im Palaste vergessen oder absichtlich zurückgelassen, um der Messe als ein Friedfertiger beizuwohnen. »Deines, Trotzkopf!« gebot er und Wulfrin hob sich sein Hifthorn über das Haupt. Karl betrachtete es eine Weile. »Es ist von einem Elk«, sagte er, hob es an den Mund und stieß darein. Da gab das Horn einen so gewaltigen und grauenhaften Ton, daß nicht nur die Höflinge aus allen Ecken und Enden des Kapitols hervorstürzten, sondern auch, was sich ringsum von römischem Volke gehäuft hatte, erstaunt und erschreckt die Köpfe reckte, als nahe ein plötzliches Gericht. Karl aber stand wie ein Cherub.[311]

Im Gedränge des Aufbruchs machte sich der Bischofsneffe noch einmal an den Höfling. »Auf Wiedersehen in Malmort: du gehorchst?«

»Nein«, antwortete Wulfrin.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 300-312.
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