Erstes Kapitel

[421] Ein durchsichtig blauer Winterhimmel umfing die Lagunenstadt und schaute sich mit gleicher Kraft und Helle tief aus dem Spiegel eines ihrer vielen schmalen Wasserbänder wieder entgegen. Hier zeigten die stillen Wasser auch das scharfe, dunkle Ebenbild einer schlank Gewölbten Marmorbrücke, die das engste und bewohnteste Quartier Venedigs mit dem Campo dei Frari verbindet. Dieser kleine Platz bildet den spärlichen Vorraum zu dem fremdartig erhabenen Meisterbau Niccolò Pisanos, dem rotschimmernden Dome der Maria gloriosa de' Frari.

In der engen Pforte eines an die Lagune gebauten Hauses jenseits der Brücke stand ein Mann von mittleren Jahren mit einem ernsten bärtigen Kopfe und von gedrungener, kurzer Gestalt. Sein Blick folgte ruhig den lautlos geführten, von Zeit zu Zeit unter dem Brückenbogen durchgleitenden Gondeln, oder betrachtete die Bettler, welche auf den Stufen des Domes lagerten und eben ihr Frühstück verzehrten. Ihm zu Häupten war an der Mauer, dem Halbrunde der Türwölbung folgend, in kolossalen schwarzen Lettern und italienischer Sprache zu lesen: Lorenz Fausch, Pastetenbäcker aus Bünden.

Aus den herrschaftlichen Gondeln, die an der Landungstreppe des Campo anlegten, war schon manche zarte Dame gestiegen; manche zierliche Gestalt, umhüllt von den weichen Falten dunkler Seide und das Antlitz durch die sammetne Halbmaske vor der Kälte geschützt, war die Stufen hinauf über den Platz in die Kirche geglitten, ohne daß die Züge des Bündners sich im mindesten verändert hätten. Jetzt aber ging etwas Seltsames auf dem ernsthaft gleichmütigen Gesichte vor. Unter der Brücke war der wetterbraune, weißbärtige Kopf eines Ruderers zum Vorschein gekommen, der, aus seinen ungelenken Bewegungen zu schließen, mit der Lagune nicht vertraut war. Während sein Gefährte, der auf dem Hinterteile des Fahrzeuges stand, ein jugendlich behender, ein echter Gondoliere, dieses mit schlanker Ruderbewegung an die Mauer drückte, öffnete der Alte langsam die niedrige Gondeltüre und schickte sich an, einer nur leicht verschleierten, offen und groß blickenden Frau beim Aussteigen[421] behilflich zu sein. Sie aber hatte seine Hand nicht angenommen. Unversehens stand sie auf der Treppe und schritt, ohne sich umzublicken, der Pforte des Domes zu.

Ehe der in der Gondel beschäftigte Alte seiner Herrin folgen konnte, trat Herr Fausch, dessen Miene sich plötzlich erhellt hatte, an den Rand der Lagune vor und rief ihm mit gedämpfter Baßstimme den romanischen Gruß: »Bun dì« zu; aber jener wandte sich nicht nach dem seine Bekanntschaft Suchenden um, er streifte ihn nur mit einem Blitze unter seinen buschigen Brauen hervor, halb mißtrauisch, halb verständnisvoll, dann zog er langsam einen Rosenkranz aus der Tasche und schritt, Herrn Fausch den Rücken zukehrend, nach der Kirche.

Noch folgte ihm dieser mit nachdenklichen Blicken, als, aus dem Seitengäßchen rasch herauslenkend, ein kleiner hagerer Kavalier an ihm vorüberschoß und mit einem stählernen Sprung auf der Brücke stand. Hier bemerkte er zu seiner Rechten den Bäcker und dessen behaglichen Gruß, wandte ihm einen Augenblick sein junges, nichts weniger als hübsches, aber höchst orginelles Gesicht zu und sagte: »Augenblicklich noch im Dienst! Holt mir ein Fläschchen Cyprier, Vater Fausch – wohlverstanden, von der Sorte, der Ihr persönlich huldigt. In zwei Minuten bin ich hier.«

Fausch trat aus dem fröhlichen Sonnenlichte in sein etwas düsteres zu dieser Morgenstunde noch leer stehendes Schenkzimmer zurück, das jedoch mit seinen zahlreichen Sitzen und reinlichen weißen Marmortischen offenbar auf den Besuch von Gästen nicht geringen Standes eingerichtet war. Während er sich in den geheimen, wohlverschlossenen Raum begab, der ihm in der Meerstadt als Keller diente, um ein strohumflochtenes Fläschchen von seinem dunkeln Ehrenplatze herunterzuholen, dem Befehle des jungen Kavaliers gemäß, doch alles mit würdiger Bedächtigkeit, hatte dieser seinen Gang gemacht und kam schon wieder über die Brücke zurück.

Er hatte die Kirche betretend sogleich die hohe Gestalt wiederentdeckt, die sein Blick aus der Tiefe des Gäßchens im Fluge erfaßt hatte, und die ihm durch ihre dunkle kräftige Schönheit anziehend erschienen war.

Andächtig kniete sie, das Antlitz zum Gekreuzigten erhoben, mit gefalteten Händen auf den Stufen des Hochaltars. Nicht Zweifel, nicht Trostbedürfnis, nicht Sehnsucht schien sie hergeführt zu haben. Keine innere Aufregung, keine unstete Leidenschaft bewegte die hochgewachsene Gestalt. Feste Ruhe lag in den[422] schönen, noch jugendweichen Zügen. Aber nicht klösterlich kalt war ihr Ausdruck, sondern von kräftigem Leben durchglüht. Sie flehte nicht, rang nicht um Erhörung. Sie brachte, so schien es, ein tägliches Opfer, ein gewohntes Gelübde dar, das ihre Seele erfüllte und dem ihr Leben geweiht war.

In steigender Neugier war der junge Kavalier immer näher herangetreten, da hatte sie sich erhoben und war seinem unbescheidenen Auge unverschleiert mit einem stolzen fremden Blicke begegnet. Dann hatte sie die Kirche verlassen. Zwiefach enttäuscht – denn in der Ferne war ihm die Dame jünger erschienen und auf ihre einfache Hoheit war er nach seinen venezianischen Erfahrungen und Gewohnheiten nicht gefaßt – hatte er noch einen Blick auf die verschiedenen Kirchenbilder geworfen und ein Wort mit dem Küster gesprochen.

Als Fausch, das Fläschchen auf einem silbernen Teller mit einiger Feierlichkeit vor sich hertragend, in der Hinterpforte seines Schenkraumes erschien, hatte sich der Gast schon in nachlässigster Haltung auf einer Ottomane nächst der Türe niedergelassen. Er zog jetzt seine Füße von dem Marmortischchen, auf das er sie gelegt hatte, der Bäcker aber holte ein fein geschliffenes kleines Kelchglas herbei, stellte es neben die Flasche und begann nach seiner Gewohnheit selbst das Gespräch.

»Und wer war denn, mit Eurer Gnaden Erlaubnis, das Herz und Augen erfrischende Frauenbild, dem der Herr Locotenent nachschoß wie eine Kugel aus dem Rohre?«

»Wie, Vater Lorenz, das solltet Ihr nicht wissen«, meinte der Angeredete, »Ihr, die lebendige Tageschronik und Fremdenliste von Venedig?« –

»Sie kommt mir sonderbar bekannt vor, und wer sie ist, werd ich herausbringen. Sicher keine dieser trägen Venezianerinnen, dafür erfreut sie sich zu leichter Füße. Wißt nur, Herr Wertmüller, als ich sie vorhin so schön und frei über das Campo schreiten sah, da überkam mich eine Rührung. Mir war, als schritte sie nicht neben dieser faulenden Lagune, sondern auf den Bergpfaden meiner Heimat neben senkrechten Präzipizien und schäumenden Bachen. Noch eins! Ihr Diener, der alte weißbärtige Spitzbube mit den Jägeraugen und dem Rosenkranze, ist ein Bündner so gewiß als ich.«

»Also aus Euern Bergen«, versetzte Wertmüller, »und von Euerm Schlage.«

»Was Wunder übrigens«, meinte Fausch, »wenn ein Salis oder[423] ein anderes Haupt unserer französischen Partei in diesem Augenblicke in der gastfreundlichen Venezia zu tun hätte; zweifelt ja von uns keiner mehr daran, daß Euer Herr, der vieledle Heinrich Rohan, von Richelieu Vollmacht erhalten hat, eine Heerfahrt nach Bünden zu rüsten. Nun kommt endlich die Stunde, da mein Land der österreichisch-spanischen Gewalt entwunden wird.«

»Gut«, sagte der andere ihn spöttisch ansehend, »der gallische Hahn also, Vater Fausch, soll sich für euch mit dem österreichischen Adler zausen, daß die Federn fliegen! Ihr traut ihm viel Großmut zu, denn ihr sitzt fest in den spanischen Krallen. In meiner Stellung als Adjutant des Herzogs bin ich freilich weniger in diese geheimen politischen Pläne eingeweiht als Ihr, das von dem venezianischen Müßiggange inspirierte Lagunen- und Lügenorakel. Übrigens«, fuhr er, seine Schärfe mäßigend, fort und blickte dem Bäcker in die Augen, der in seinem Innersten beleidigt, sich mit gerötetem Angesicht vor ihn hingestellt hatte und nach dem kräftigsten Ausdruck zur Abwehr solcher Mißachtung rang, »übrigens ist heute nicht Politik, sondern Kunst bei uns im herzoglichen Palazzo an der Tagesordnung. Eben war beim Frühstück von Tizian die Rede. Eine mit unserer Herzogin befreundete Nobildonna behauptete, unsere kunstsinnige Dame habe bis heute eines der edelsten Werke des Meisters übersehen, das sich hier bei den Frari befinde. Es erwies sich, daß es bei der Herzogin letztem Aufenthalte in Venedig aus irgendeinem Grunde sich in der Werkstätte eines Malers befand. Ich ward von ihr abgesandt, um den jetzigen Tatbestand festzustellen. Es hängt wieder drüben, und ich fliege, es den Herrschaften zu melden. Sie werden ihre Wallfahrt zu dem Tizian gleich antreten wollen.«

»Herr, so dürft Ihr mir nicht fort«, sagte Fausch, und vertrat ihm mit seiner breiten Figur den Ausweg. »Ihr verkennt mich grausam in dem was mir hoch und heilig ist. – Was hielte meinen Geist in diesem schmerzvollen Exil lebhaft und aufrecht, wenn nicht die Tag und Nacht genährte Hoffnung, mein jahrzehntelang zerfleischtes, verheertes, gefesseltes Bünden wieder befreit zu sehen! – Und ich soll mich nicht um Neuigkeiten kümmern? Soll nicht die Fühlhörner nach allen Seiten ausstrecken? Nicht jede günstige Nachricht mit durstigen Poren einsaugen? – Pocht denn Euch nichts hier fürs Vaterland, Herr Wertmüller? . . .« Er drückte tief atmend die fette Hand auf die Brust. »Glaubt nicht, daß mir die für Bünden unrühmliche Hilfe der Franzosen will kommen sei; ich heiße das den Teufel durch Beelzebub vertreiben,[424] aber sie ist, Gott sei's geklagt, der letzte Ausweg aus der härtesten Sklaverei! Auch lebt jetzt in Bünden ein matteres Geschlecht. In jener großen Zeit freilich, wo ich, der Würgengel Jenatsch und der Märtyrer Blasius Alexander die Taten eines Leonidas und Epaminondas vollbrachten, hätten wir alle uns lieber die Brust mit Wunden bedeckt, in ein breites Grab reihen lassen, als in das welsche Heer, und unsere Seelen eher dem leibhaftigen Teufel übergeben, als dem französischen Kardinal!«

Der junge Wertmüller, den die Szene insgeheim köstlich belustigte, war im Begriffe, den begeisterten Bäcker auf die Seite schiebend, die Tür zu gewinnen, konnte sich aber die Schlußbemerkung nicht versagen: »Soweit ich die Weltgeschichte kenne Vater Lorenz, seid Ihr darin nicht berücksichtigt.«

Jetzt ergriff ihn Fausch heftig aber freundschaftlich bei der Hand: »Wie wird heutzutage Historia geschrieben, Herr Locotenent? Saftlos und ohne Gewissenhaftigkeit! Die Tradition jedoch der volkstümlich großen Taten erlischt nicht, auch wenn ein pedantischer Geschichtschreiber sie heimtückisch unter den Scheffel stellen sollte. Sie geht über Berg und Tal von Mund zu Munde und aus dem meinigen sollt Ihr ein Euch unbekanntes, wichtiges Blatt unserer Bündnergeschichten kennenlernen.

Anno zwanzig, als die edle Demokratie in unserem Lande herrschte, vollzog sie einen großartigen, einen wahrhaft weltgeschichtlichen Akt. Frankreich zweideutelte damals zwischen Licht und Nacht, zwischen protestantischer und katholischer Politik. Dem beschloß das zu Davos versammelte Strafgericht in seiner Weisheit herzhaft ein Ende zu machen. An den Gesandten Frankreichs – der Gueffier war's, er hielt damals Hof in Maienfeld – schickte es eines seiner Mitglieder, einen schlichten Bürger, einen einfachen Prädikanten, der dem Franzosen Befehl überbrachte, augenblicklich einzupacken . . ., und dieser tapfere Republikaner, Euer Gnaden, war niemand anders, als Lorenz Fausch, der hier vor Euch steht. Jetzt aber hättet Ihr sehen sollen, wie der Franzose seinen Hut vom Kopfe riß, und ihn wie toll mit den Füßen zerstampfte. ›Einen Salis oder Planta mindestens hätte man an mich abordnen sollen‹, schrie er wütend, ›nicht einen solchen ...‹« hier hielt Fausch inne und besann sich –

»Weinschlauch! – dies ist des denkwürdigen Dialogs beglaubigter Wortlaut«, erscholl es mit heller mächtiger Stimme von dem offenen Eingange her, der in diesem Augenblicke durch eine große Gestalt, welche auf die Schwelle trat, verdunkelt ward,[425] und vor dem erstaunt sich umwendenden Bäcker stand ein Kriegsmann von gewaltiger Statur und herrischem Blick.

»Sagte er wirklich so, Jürg?« faßte sich der betroffene Herr Lorenz; aber statt ihm zu antworten neigte sich der stattliche Fremde mit leichtem Anstande gegen den jungen Offizier, der den Gruß militärisch erwidernd durch die frei gewordene Tür hinaus in den Sonnenschein eilte.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 421-426.
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