[131] Einige Male im Laufe des Tages hatte ich an Hillels Türe geklopft; – es ließ mir keine Ruhe: ich mußte ihn sprechen und fragen, was alle diese seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieß es, er sei noch nicht zu Hause.
Sowie er heimkäme vom jüdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter sofort verständigen. –
Ein sonderbares Mädchen übrigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine Schönheit, so fremdartig, daß man sie im ersten Moment gar nicht fassen kann, – eine Schönheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht, und ein unerklärliches Gefühl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verloren gegangen sein müssen, ist dieses Gesicht geformt, grübelte ich mir zurecht, wie ich es so im Geiste wieder vor mir sah.
Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wählen müßte, um es als Gemme festzuhalten und dabei den künstlerischen Ausdruck richtig zu wahren: Schon an dem rein Äußerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der Augen, der alles übertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. – Wie erst die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemäß in eine Kamee bannen,[132] ohne sich in die stumpfsinnige Ähnlichkeitsmacherei der kanonischen »Kunst«richtung festzurennen!
Nur durch ein Mosaik ließ es sich lösen, erkannte ich klar, aber was für Material wählen? Ein Menschenleben gehörte dazu, das passende zusammen zu finden. – –
Wo nur Hillel blieb!
Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
Merkwürdig, wie er mir in den wenigen Tagen – und ich hatte ihn doch, genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, – ins Herz gewachsen war.
Ja, richtig: die Briefe – ihre Briefe wollte ich doch besser verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal länger von zu Hause fort sein sollte.
Ich nahm sie aus der Truhe: – in der Kassette würden sie sicherer aufbewahrt sein.
Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht hinschauen, aber es war zu spät.
Den Brokatstoff um die bloßen Schultern gelegt – so wie ich ›sie‹ das erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flüchtete aus Saviolis Atelier – blickte sie mir in die Augen.
Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
Deine Angelina.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Angelina!!![133]
Wie ich den Namen aussprach, zerriß der Vorhang, der meine Jugendjahre vor mir verbarg, von oben bis unten.
Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu müssen. Ich krallte die Finger in die Luft und winselte, – biß mich in die Hand: – – nur wieder blind sein, Gott im Himmel, – den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte ich.
Das Weh stieg mir in den Mund. – Quoll. – Schmeckte seltsam süß, – wie Blut. – –
Angelina!!
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Der Name kreiste in meinen Adern und wurde – zu unerträglicher gespenstischer Liebkosung.
Mit einem gewaltsamen Ruck riß ich mich zusammen und zwang mich – mit knirschenden Zähnen – das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr darüber wurde!
Herr darüber!
Wie heute nacht über das Kartenblatt.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Endlich: Schritte! Männertritte.
Er kam!
Voll Jubel eilte ich zur Tür und riß sie auf.
Schemajah Hillel stand Straußen und hinter ihm – ich machte mir leise Vorwürfe, daß ich es als Enttäuschung empfand – mit roten Bäckchen und runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
»Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath«, fing Hillel an.
Ein kaltes »Sie«?[134]
Frost. Schneidender, ertötender Frost lag plötzlich im Zimmer.
Betäubt, mit halbem Ohr, hörte ich hin, was Zwakh, atemlos vor Aufregung, auf mich losplapperte:
»Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem Mord begonnen« – Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
Zwakh schüttelte mich: »Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath? Unten hängt doch großmächtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken Zottmann, den ›Freimaurer‹ – na, ich meine doch den Lebensversicherungsdirektor Zottmann, – soll man ermordet haben. Der Loisa – hier im Haus – ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos verschwunden. – Der Golem – der Golem – es ist ja haarsträubend.«
Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er mich so unverwandt an?
Ein verhaltenes Lächeln zuckte plötzlich um seine Mundwinkel.
Ich verstand. Es galt mir.
Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
Außer mir in meinem Entzücken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was zuerst bringen? Gläser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.) Zigarren? – Endlich fand ich Worte: »Aber warum setzt ihr euch[135] denn nicht!?« – Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. – – –
Zwakh fing an, sich zu ärgern: »Warum lächeln Sie denn immerwährend, Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daß der Golem spukt? Mir scheint. Sie glauben überhaupt nicht an den Golem?«
»Ich würde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor mir sähe«, antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. – Ich verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: »Das Zeugnis von hunderten Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? – Aber warten Sie nur, Hillel, denken Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her.«
»Die Häufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares«, erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die Scheiben hinab auf den Trödlerladen – »Wenn der Tauwind weht, rührt sich's in den Wurzeln. In den süßen wie, in den giftigen.«
Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
»Wenn der Rabbi nur reden wollte, der könnte uns Dinge erzählen, daß einem die Haare zu Berge stünden«, warf er halblaut hin.
Schemajah drehte sich um.
»Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin nur ein armseliger Archivar im jüdischen[136] Rathaus und führe die Register über die Lebendigen und die Toten.«
Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fühlte ich. Auch der Marionettenspieler schien es unterbewußt zu empfinden, – er wurde still, und eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
»Hören Sie mal, Rabbi –, verzeihen Sie: ›Herr Hillel‹, wollte ich sagen«, – fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang auffallend ernst, »ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mögen, oder nicht dürfen – – –«
Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas – er trank nicht; vielleicht verbot es ihm das jüdische Ritual.
»Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh.«
»– – Wissen Sie etwas über die jüdische Geheimlehre, die Kabbala, Hillel?«
»Nur wenig.«
»Ich habe gehört, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala lernen kann: den ›Sohar‹ – –«
»Ja, den Sohar – das Buch des Glanzes.«
»Sehen Sie, da hat man's«, schimpfte Zwakh los. »Ist es nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, daß eine Schrift, die angeblich die Schlüssel zum Verständnis der Bibel und zur Glückseligkeit enthält –«
Hillel unterbrach ihn: »– nur einige Schlüssel.«
»Gut, immerhin einige! – also, daß diese Schrift infolge ihres hohen Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugänglich ist? In einem einzigen[137] Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe erzählen lassen? Und überdies chaldäisch, aramäisch, hebräisch – oder was weiß ich wie – geschrieben? – Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?«
»Haben Sie denn alle Ihre Wünsche so heiß auf dieses Ziel gerichtet?« fragte Hillel mit leisem Spott.
»Offen gestanden – nein«, gab Zwakh einigermaßen verwirrt zu.
»Dann sollten Sie sich nicht beklagen«, sagte Hillel trocken, »wer nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, – wie ein Erstickender nach Luft, – der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen.«
»Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sämtliche Schlüssel zu den Rätseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige«, schoß es mir durch den Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte Zwakh sie bereits ausgesprochen.
Hillel lächelte wieder sphinxhaft: »Jede Frage, die ein Mensch tun kann, ist im selben Augenblick beantwortet, wo er sie geistig gestellt hat.«
»Verstehen Sie, was er damit meint?«, wandte sich Zwakh an mich.
Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels Rede zu verlieren.
Schemajah fuhr fort:[138]
»Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den Keim der Antwort in sich tragen – und Antworten, die schwanger gehen mit Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr.«
Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
»Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder anders versteht.«
»Gerade darauf kommt es an«, sagte Hillel freundlich. »Alle Menschen über einen Löffel zu – kurieren, ist lediglich Vorrecht der Ärzte. Der Fragende erhält die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jüdischen Schriften sind bloß aus Willkür nur in Konsonanten geschrieben? – Jeder hat sich selbst die geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur für ihn allein bestimmten Sinn erschließen, – soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma erstarren.«
Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
»Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heißen, wenn ich daraus klug werde.«
Pagad!! – Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor Entsetzen beinahe vom Stuhl.
Hillel wich meinen Augen aus.
»Pagad ultimo? Wer weiß, ob Sie nicht wirklich so heißen, Herr Zwakh!« – schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. »Man soll seiner Sache niemals allzu sicher sein. – Übrigens, da wir gerade von Karten sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarok?«
»Tarok? Natürlich. Von Kindheit an.«[139]
»Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen können, in dem die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand gehabt haben.«
»Ich? In der Hand gehabt? Ich?« – Zwakh griff sich an den Kopf.
»Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daß das Tarokspiel zweiundzwanzig Trümpfe hat, – genausoviel, wie das hebräische Alphabet Buchstaben? Zeigen unsere böhmischen Karten nicht zum Überfluß noch Bilder dazu, die offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht? – Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, daß Ihnen das Leben die Antworten in die Ohren schreien soll? – – Was Sie allerdings nicht zu wissen brauchen, ist, daß ›tarok‹ oder ›Tarot‹ soviel bedeutet wie die jüdische ›Tora‹ = das Gesetz, oder das altägyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in der uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹. – Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen, das Tarok stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. – Und so, wie der Pagad die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem eignen Bilderbuch, sein eigner Doppelgänger: – – der hebräische Buchstabe Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel zeigt und mit der andern abwärts: das heißt also: ›So wie es oben ist, ist es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.‹ – Darum sagte ich vorhin: Wer weiß, ob Sie wirklich Zwakh heißen und nicht: ›Pagad‹ – Berufen Sie's nicht,« – Hillel blickte mich dabei unverwandt[140] an, und ich ahnte, wie sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat – »berufen Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere Gänge geraten, aus denen noch keiner zurückfand, der nicht – einen Talisman bei sich trug. Die Überlieferung erzählt, daß einmal drei Männer hinabgestiegen seien ins Reich der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte, Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z.B. Goethe, gewöhnlich auf einer Brücke, oder sonst einem Steig, der von einem Ufer eines Flusses zum andern führt, – hat sich selbst ins Auge geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine Spiegelung des eigenen Bewußtseins und nicht der wahre Doppelgänger: nicht das, was man ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹ nennt, von dem es heißt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er auferstehen am Tage des Letzten Gerichts.« – Hillels Blick bohrte sich immer tiefer in meine Augen – »Unsere Großmütter sagen von ihm: ›er wohnt hoch über der Erde in einem Zimmer ohne Türe, nur mit einem Fenster, von dem aus eine Verständigung mit den Menschen unmöglich ist. Wer ihn zu bannen und zu – – verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst.‹ – – – Was schließlich das Tarok betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: für jeden Spieler liegen die Karten anders, wer aber die Trümpfe richtig verwendet, der gewinnt[141] die Partie – – –. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir, Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts mehr übrig für ihn selbst.«
Ausgewählte Ausgaben von
Der Golem
|
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro