Adam Mickiewicz

Herr Thaddäus

oder

Der letzte Einritt in Lithauen

Zur Zeit der polnischen »Republik« war die Vollstreckung richterlicher Urtheile eine sehr schwierige Sache, – in einem Lande wo die executive Gewalt fast gar keine Polizei zur Verfügung hatte, und die Mächtigen Haustruppen hielten, manche – wie die Fürsten Radziwill – sogar viele Tausend Mann. Hatte also der Kläger sein Decret erlangt, so mußte er sich zum Zwecke der Execution an den Ritterstand, d.h. an die Schlachta, wenden, die auch die vollziehende Gewalt besaß. Die Verwandten, Freunde und Districtsgenossen des Klägers zogen dann aus, mit dem Decret in der Hand und vom Gerichtsfrohn (Wozny) begleitet, – und eroberten, oft nicht ohne Blutvergießen, die demselben zugesprochenen Liegenschaften, welche der Gerichtsfrohn legal »tradirte« oder in Besitz übergab. Eine derartige bewaffnete Execution der gerichtlichen Entscheidung nannte man »Zajazd«, »Einritt«. In früheren Zeiten, in denen die Achtung vor dem Gesetze herrschte, wagten selbst die mächtigsten Herrn nicht, einem Urtheilsspruch Widerstand entgegenzusetzen. Bewaffnete Überfälle kamen selten vor und Gewaltthätigkeiten gingen fast niemals straflos hin. Man kennt aus der Geschichte das traurige Ende des Fürsten Wasil Sanguszko, und des Stadnicki, genannt »der Teufel«. Die Verderbniß der öffentlichen Sitten in der Republik vermehrte die Zahl der Einritte, die eine fortwährende Ruhestörung für Lithauen bildeten.


Es sei erlaubt, den Leser gleich an dieser Stelle über die politischen Begebenheiten, die unser Gedicht berührt, kurz zu orientiren: Nach der dritten Theilung suchten viele begabte und eifrige Patrioten, vor Allem der berühmte General Dombrowski, für die polnische Sache im Auslande zu wirken. Dombrowski vereinbarte (1797) mit Bonaparte die Bildung polnischer Legionen, die, in nationaler Uniform, aber französischer Organisation, mit den Heerschaaren der Republik vereint kämpfen sollten. Viele tapfere Krieger folgten Dombrowski's feurigem Aufruf, sammelten sich um ihn in der Lombardei und glänzten von nun ab mit in den vordersten Reihen der Napoleonischen Heere. Einer der hervorragendsten Feldherrn neben Dombrowski war der General Kniaziewicz, der namentlich im römisch-neapolitanischen Feldzuge (1798 und 1799) und später an der Seite Moreau's und Richepanse's in der Schlacht bei Hohenlinden (1801) mit großer Auszeichnung kämpfte. Aber weder Dombrowski's, noch Kniaziewicz's Dienste, noch alle die Opfer an Blut und Leben, die die Legionen für Napoleon brachten, vermochten den französischen Machthaber zu irgend einem für die Polen segensreichen Schritte zu bewegen. Im Frieden zu Luneville (1801) wurde ihrer Sache nicht gedacht, und kurz darauf ein großer Theil ihres Heers unter dem Fürsten Jablonowski nach San Domingo geschickt, um dort gegen den Negerhäuptling Toussaint L'Ouverture zu kämpfen, der sich gegen die französische Herrschaft erhoben hatte. Erst 1806, als der Krieg mit Preußen und Rußland ausgebrochen war, schien sich Bonaparte für die Polen lebhafter zu erwärmen. Er selbst forderte den alten Freiheitshelden Kosciuszko auf, seine Landsleute zu den Waffen zu rufen; dieser aber schlug es ab – er mißtraute den Versprechungen des Kaisers. Dombrowski hingegen leistete ihm wieder Heeresfolge und rückte unmittelbar nach der Schlacht bei Jena in Posen ein. Auch diesmal aber blieben Napoleon's Thaten weit hinter seinen Versprechungen zurück. Im Frieden von Tilsit (1807) wurde Rußlands geschont. Aus dem preußischen Antheil an den ehemals polnischen Provinzen schuf Napoleon das Großherzogthum Warschau, zu welchem später (im Wiener Frieden 1809) noch Westgalizien geschlagen wurde. Immerhin aber sahen die Polen diese Schöpfung als den Keim eines künftigen Reiches an, dessen baldige Wiederherstellung sie von einem neuen französisch-russischen Zusammenstoß erhofften. In der That erklärte Napoleon, als er 1812 über den Niemen ging, den begonnenen Feldzug gegen Rußland für den »zweiten polnischen Krieg« – und die Polen eilten begeistert unter seine Fahnen. Prinz Joseph Poniatowski, der bekannte Marschall Napoleon's, und General Dombrowski führten neue zahlreiche Heerschaaren in den Kampf, die im russischen Feldzug ebenso tapfer und todesmuthig kämpften, wie früher auf den Schlachtfeldern Deutschlands, Italiens und Spaniens. Der Ausgang des Feldzuges war auch das Ende ihrer Hoffnungen.

Im Herbst 1811 und im Frühling 1812 spielt nun unsre Erzählung. Alles blickt voll Erwartung über den Niemen, der das unter russischer Herrschaft stehende Lithauen vom Großherzogthum Warschau trennt. Über den Niemen eilen die Jünglinge, um sich mit den Landsleuten zu verbünden – vom Herzogthum aus soll die Befreiung herannah'n. In den letzten zwei Gesängen der Dichtung sehen wir denn auch die polnischen Generale bereits in Lithauen und freudig und hoffnungsvoll schließt die Dichtung. (d.Ü.)

(Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie)
Quelle:
Mickiewicz, Adam: Herr Thaddäus oder der letzte Einritt in Lithauen. In: Poetische Werke, Leipzig 1882, Band 1.
Erstdruck: Paris 1834 (2 Bde). Hier nach der Übers. v. Siegfried Lippiner. Originaltitel: Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie
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