Dritter Auftritt.

[53] Argan. Beralde.


BERALDE. Vor allen Dingen, Bruder, nimm dir vor, dich bei unserm Gespräch nicht zu ereifern; darum bitte ich dich dringend.

ARGAN. Schon gut!

BERALDE. Ebenso wünsche ich, daß du auf die Fragen, die ich dir etwa vorlegen könnte, ohne Heftigkeit antwortest.

ARGAN. Ja.

BERALDE. Und über die Sachen, die wir miteinander abzusprechen haben, ohne allen Affekt redest.

ARGAN. I du mein Gott, ja doch! – Mir scheint, du machst eine lange Vorrede!

BERALDE. Wie kommt es also, Bruder, daß du bei deinem schönen Vermögen, und da du nur die eine Tochter hast – denn die Kleine rechne ich nicht –, wie kommt es, sage ich, daß du auf den Gedanken gerätst, Angelique in ein Kloster zu schicken?

ARGAN. Wie kommt es, Bruder, daß ich Herr in meinem Hause bin und in meiner Familie tun und lassen kann, was mir beliebt?[53]

BERALDE. Deine Frau liegt dir beständig in den Ohren, dich auf diese Art deiner beiden Töchter zu entledigen; und ich zweifle nicht, daß sie aus christlicher Liebe sehr erfreut sein würde, wenn sie aus beiden ein paar fromme Nonnen machen könnte.

ARGAN. Nun ja, da haben wir's. Immer kommt vor allen Dingen die arme Frau an die Reihe; sie ist allein an allem schuld und hat alle Welt zum Feinde.

BERALDE. Gut, Bruder, lassen wir sie ganz beiseite. Sie hat die besten Absichten für deine Familie, sie weiß von keinem Eigennutz, sie hat für dich eine Zärtlichkeit, die ans Wunderbare grenzt, und zeigt deinen Töchtern eine Liebe und Güte, wie man sie kaum begreifen kann; das alles gebe ich zu. Also nichts weiter von ihr, und kommen wir wieder auf deine Tochter. Was denkst du dir eigentlich dabei, Bruder, daß du sie mit dem Sohn eines Arztes verheiraten willst?

ARGAN. Ich denke mir dabei, daß ich dadurch zu einem Schwiegersohn komme, wie ich ihn für mich brauche.

BERALDE. Aber nicht, wie ihn deine Tochter braucht, Bruder; und für die zeigt sich jetzt eine viel passendere Partie.

ARGAN. Kann sein; aber diese paßt mir besser.

BERALDE. Der Mann aber, den sie heiraten soll, Bruder – nimmt sie den für sich oder für dich?

ARGAN. Er soll für sie und für mich sein, und ich will Leute in meine Familie bringen, die mir nützen können.

BERALDE. Du würdest also nach demselben Grundsatz deine kleine Tochter, wenn sie nur schon erwachsen wäre, einem Apotheker zur Frau geben?

ARGAN. Warum nicht?

BERALDE. Ist's denn möglich, daß du dein ganzes Leben lang auf deine Doktoren und deine Apotheker versessen bleibst, und der Natur und allen Menschen zum Trotz krank sein willst?

ARGAN. Was willst du damit sagen, Bruder?

BERALDE. Ich will damit sagen, daß ich keinen Menschen kenne, der weniger krank ist wie du, und daß ich mir keine bessere Konstitution wünsche als die deinige. Der beste Beweis, daß du einen vortrefflich organisierten Körper hast, ist der, daß du dich wohl befindest, und daß du mit aller Mühe, die dir's gekostet hat, es noch nicht[54] dahin hast bringen können, deine gute Natur zu ruinieren und nicht längst schon an allen den Medizinen, die man dich hat schlucken lassen, draufgegangen bist.

ARGAN. Weißt du denn nicht, Bruder, daß die allein mich erhalten, und daß Herr Purgon mir versichert, ich wäre geliefert, wenn er sich nur drei Tage lang nicht um mich kümmerte?

BERALDE. Wenn du dich nicht vorsiehst, wird er sich so viel um dich kümmern, daß er dich in die andre Welt schicken wird!

ARGAN. Aber laß uns einmal vernünftig reden, Bruder. Du glaubst also nicht an die Medizin?

BERALDE. Nein, Bruder; und ich sehe auch nicht die Notwendigkeit ein, daß man wegen seines Seelenheils an sie glauben müsse.

ARGAN. Wie, du glaubst nicht an die Wahrheit einer Sache, die von der ganzen Welt als festgestellt angesehn wird, und die alle Jahrhunderte in Ehren gehalten haben?

BERALDE. Ich bin so weit davon entfernt, sie für wahr zu halten, daß sie mir wie eine der größten Torheiten vorkommt, die die Menschen sich ausgedacht haben. Und um die Sache philosophisch zu betrachten: mir kommt es wie ein alberner Mummenschanz, wie eine fratzenhafte Lächerlichkeit vor, wenn ein Mann sich damit befaßt, einen andern kurieren zu wollen.

ARGAN. Und warum, Bruder, sollte ein Mensch den andern nicht kurieren können?

BERALDE. Aus dem einfachen Grunde, Bruder, weil die Triebfedern unsrer Maschine bis jetzt ein Geheimnis geblieben sind, das kein menschliches Auge durchschaut, und das die Natur mit einem zu dichten Schleier verhüllt hat, als daß wir etwas davon erkennen könnten.

ARGAN. Nach deiner Ansicht verstehn die Ärzte also nichts.

BERALDE. O ja, Bruder. In der Regel verstehn sie die alten Sprachen recht gut; sprechen ein klassisches Latein und sind imstande, alle Krankheiten griechisch zu nennen, zu beschreiben und in Klassen zu bringen. Aber wie sie zu kurieren sind, davon verstehn sie gar nichts.

ARGAN. Jedenfalls wirst du mir doch das einräumen, daß die Ärzte von dem allen mehr wissen als wir andern?

BERALDE. Sie wissen, was ich dir vorhin gesagt habe,[55] Bruder, und damit kuriert man blutwenig. Glaube mir, die ganze Herrlichkeit ihrer sogenannten Wissenschaft besteht in einem hochtrabenden Galimathias und in einem blendenden Phrasenschwall, der statt Gründe anzuführen Worte gibt und Versprechungen statt der Tat.

ARGAN. Aber, um es kurz zu machen, Bruder – es gibt andre Leute, die ebensoviel Verstand und Einsicht haben wie du; und die doch alle, wie du siehst, sich, wenn sie krank sind, an die Ärzte wenden.

BERALDE. Das ist ein Beweis der menschlichen Schwachheit, entscheidet aber nichts für die Wahrheit jener sogenannten Wissenschaft.

ARGAN. Die Ärzte selbst müssen aber doch an ihre Kunst glauben, weil sie sich ihrer für sich selbst bedienen?

BERALDE. Nun ja; einige unter ihnen sind selbst in jenem Irrtum des großen Haufens befangen, der ihnen Nutzen bringt; und andere machen sich ihn zunutze, obgleich sie ihn durchschauen. Dein Herr Purgon zum Beispiel gehört zu den Ehrlichen; er ist Arzt vom Kopf bis zu den Füßen; er glaubt an seine Regeln fester als an irgendeinen mathematischen Beweis, und es würde ihm wie eine Sünde vorkommen, sie prüfen zu wollen: für ihn ist in der ganzen Heilkunde nichts dunkel; er statuiert weder einen Zweifel noch eine Schwierigkeit; und mit allem Ungestüm des Vorurteils, mit der starren Schroffheit der Zuversicht und einer brutalen Überhebung über Vernunftgründe und Menschenverstand geht er ins Zeug mit Purganzen und Aderlässen, und läßt sich durch nichts irre machen. Man darf ihm alles Unheil, was für dich daraus entstehn kann, kaum vorwerfen; er wird dich mit dem ruhigsten Gewissen in die andre Welt schicken; und wenn er dich umbringt, wird er eben nichts andres tun, als was er an seiner Frau und seinen Kindern getan hat, und was er im Notfall an sich selber tun würde.

ARGAN. Ich sehe schon, du hast einen Zahn auf ihn. Aber laß uns zur Sache kommen. Was soll man also machen, wenn man krank ist?

BERALDE. Nichts, Bruder.

ARGAN. Nichts?

BERALDE. Nichts. Man soll sich einfach ruhig verhalten;[56] die Natur, wenn man sie gewähren läßt, hilft sich allmählich selbst. Unsre Ungeduld, unsre Unruhe verdirbt alles, und fast alle Menschen sterben an ihren Arzneien und nicht an ihren Krankheiten.

ARGAN. Du wirst aber doch nicht in Abrede stellen, Bruder, daß man durch gewisse Dinge der Natur helfen kann.

BERALDE. Mein Gott, Bruder, das sind pure Einbildungen, mit denen wir uns nun einmal schmeicheln. Von jeher sind die Menschen auf solche Phantasien gefallen, denen sie sich gern hingeben, weil sie ihnen angenehm sind, und weil es zu wünschen wäre, die Sache verhielte sich so. Wenn dir ein Arzt verspricht, er wolle der Natur helfen, sie unterstützen und dir Linderung verschaffen, wolle forträumen, was ihr schadet, und ihr geben, was ihr fehlt, sie herstellen, und sie zur freien Tätigkeit ihrer Funktionen zurückführen; wenn er dir sagt, er gehe darauf aus, dein Blut zu verbessern, dein Gehirn und deine Eingeweide zu temperieren, deine angeschwollne Milz in ihren normalen Zustand zu bringen, deine Brust zu erleichtern, deine Leber zu kurieren, dein Herz zu stärken, deine natürliche Wärme wieder herzustellen, und dir zu verstehn gibt, er besitze geheime Mittel, dein Leben auf viele Jahre zu verlängern, so gehört das samt und sonders in den Roman der Heilkunde. Kommt es aber dann zur Probe, und du fragst die Erfahrung, so findest du von dem allen nichts, und es verhält sich damit wie mit einem schönen Traum, der dir beim Erwachen nur das Mißbehagen zurückläßt, an ihn geglaubt zu haben.

ARGAN. Du glaubst also, daß dein Kopf alle Weisheit der Welt in sich einschließt, und daß du mehr weißt als alle großen Ärzte unsrer Zeit?

BERALDE. Leider sind nur deine großen Ärzte zwei sehr verschiedene Arten von Leuten: wenn du sie sprechen hörst, die geschicktesten Männer von der Welt; siehst du aber, was sie tun, die erbärmlichsten Stümper, die es gibt.

ARGAN. Allen Respekt! Du bist, wie ich sehe, ein großer Weiser; und ich wünschte nur, es wäre einer von den Herren zugegen, um dich mit deinen Schlüssen in die Enge zu treiben und deiner Redseligkeit einen Riegel vorzuschieben.

BERALDE. Ich habe mir ja gar nicht die Aufgabe gestellt,[57] die Arzneiwissenschaft vor der Welt zu bekämpfen; mag doch jeder, auf seine Gefahr und seine Kosten davon glauben, was ihm gut dünkt. Was ich darüber sage, gilt nur uns beiden; ich hätte gewünscht, dich ein wenig aus dem Irrtum zu ziehn, in dem du steckst, und möchte dich, was dies Kapitel anlangt, zu deiner Unterhaltung einmal in eines der Molièreschen Lustspiele führen.

ARGAN. Dein Molière wäre mir grade der Rechte mit seinen unverschämten Komödien! Ich finde es unerhört von ihm, sich über so brave Männer wie unsre Ärzte lustig machen zu wollen.

BERALDE. Es sind ja nicht die Ärzte, über die er sich lustig macht, sondern die Hirngespinste ihrer Wissenschaft.

ARGAN. Als ob er der Mann danach wäre, die Arzneiwissenschaft zu meistern! – Wie darf solch ein dreister vorwitziger Faselhans sich erlauben, über Konsultationen und Rezepte sich aufzuhalten, an der ganzen Fakultät sich zu vergreifen, und so ehrwürdige Personen wie unsre Doktoren auf sein Theater zu bringen!

BERALDE. Wen soll er denn sonst aufs Theater bringen, als die verschiedenen Stände und Professionen der Menschen? – Bringt man ja doch alle Tage Fürsten und Könige auf die Bühne, die doch von ebenso gutem Hause sind als die Ärzte.

ARGAN. Nun, so soll mich doch, hätte ich bald gesagt, der Teufel holen: wenn ich wie die Ärzte wäre, ich rächte mich an ihm für seine Frechheit, und wenn er krank würde, ich ließe ihn ohne Hilfe sterben. Da möchte er dann tun und sagen, was er wollte, ich verordnete ihm nicht den kleinsten Aderlaß, nicht das geringste kleine Klistier, und spräche zu ihm: Fahre du nur ab! Das wird dich lehren, ein andermal deinen Witz an der Fakultät auszulassen!

BERALDE. Du bist ja sehr ergrimmt gegen ihn!

ARGAN. Ja. Er ist ein einfältiger Mensch, und wenn die Ärzte klug sind, tun sie, wie ich dir sage.

BERALDE. Er wird schon noch klüger sein als deine Ärzte und sich gar nicht an sie wenden.

ARGAN. Desto schlimmer für ihn, wenn er ihre Mittel verschmäht!

BERALDE. Er hat seine guten Ursachen, wenn ihn nicht danach verlangt; denn er behauptet, das dürften sich nur[58] robuste und kräftige Naturen erlauben, die stark genug sind, außer der Krankheit noch die Mittel auszuhalten; während er nur gerade so viel Kräfte habe, die Krankheit allenfalls zu überstehn.

ARGAN. Was für einfältige Gründe er da anführt! – Höre, Bruder, sprechen wir nicht mehr von dem Menschen, denn das bringt mir die Galle in Bewegung und könnte mir einen Rückfall zuziehen.

BERALDE. Sehr gern; und um von etwas anderm zu reden, will ich nur sagen, daß du wegen der kleinen Widersetzlichkeit, die dir deine Tochter gezeigt hat, doch nicht gleich den gewaltsamen Entschluß fassen darfst, sie in ein Kloster zu schicken; und daß du, was die Wahl eines Schwiegersohns betrifft, nicht blindlings dem Affekt folgen mußt, der dich hinreißt. Man muß in solchen Dingen sich ein wenig nach der Neigung einer Tochter richten, weil das Glück ihrer Ehe und ihres Lebens auf dem Spiele steht.


Quelle:
Molière: Der eingebildete Kranke. Leipzig 1945, S. 53-59.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der eingebildete Kranke
Der eingebildete Kranke
Le Malade imaginaire /Der eingebildete Kranke: Franz. /Dt.
Der eingebildete Kranke /Die Gaunereien des Scappino: Zwei Komödien
Der eingebildete Kranke (Suhrkamp BasisBibliothek)
Der Menschenfeind; Der eingebildete Kranke

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon