Achtes Kapitel.

[106] Stern fährt fort. Havelaars Ansprache an die Häupter des Landes und seine Unterredung mit Verbrügge.


Havelaar hatte den Kontroleur ersucht, die zu Rangkas-Betung anwesenden Häupter aufzufordern, bis zum folgenden Tage zu verweilen, um der Sebah (Ratsversammlung), die er abhalten wollte, beizuwohnen. Solch eine Versammlung fand gewöhnlich einmal im Monat statt. Aber sei es, daß er einigen Häuptern, die sehr fern von dem Hauptorte wohnten, das unnötige Hin- und Herreisen ersparen wollte, sei es, daß er sofort und ohne den festgesetzten Tag abzuwarten auf feierliche Weise zu ihnen zu sprechen wünschte, er hatte den ersten Sebah-Tag auf den folgenden Morgen festgesetzt.

Links vor seiner Wohnung, doch auf demselben Grundstück und dem Hause gegenüber, das Mewrouw Slotering bewohnte, stand ein Gebäude, das in einem Teile die Bureaus der Adsistent-Residentschaft enthielt, zu denen auch die Landeskasse gehörte, dessen anderer Teil aber bestand in einer ziemlich geräumigen offenen Galerie, die eine sehr gute Gelegenheit zu solch einer Sitzung darbot. Dort waren denn auch die Häupter den folgenden Morgen frühzeitig versammelt. Havelaar trat ein, grüßte und nahm Platz. Er empfing die geschriebenen Berichte über Landbau, Polizei und Justiz und legte sie zur Seite zu späterer Nachprüfung.

Jeder erwartete nun eine Ansprache, wie sie der Resident[106] hatte tags zuvor gehalten, und es ist auch ganz und gar nicht sicher, daß Havelaar beabsichtigte, den Häuptern irgend etwas anderes zu sagen. Aber man mußte ihn bei solchen Gelegenheiten gehört und gesehen haben, um zu verstehen, wie er bei solchen Ansprachen aus sich herausging und durch seine eigenartige Sprechweise den bekanntesten Dingen eine neue Färbung verlieh; wie sich dann seine Haltung aufrichtete, wie sein Blick Feuer schoß, wie seine Stimme vom Schmeichelnd-Sanften zum Ätzend-Scharfen überging, wie die Bilder von seinen Lippen flossen, als streue er etwas Kostbares um sich, was ihn doch nichts kostete, und wie, wenn er schloß, jeder ihn mit offenem Munde anstarrte, als wollten sie fragen: »Mein Gott! wer bist du?«

Er selbst, der bei solchen Gelegenheiten sprach wie ein Apostel, ein Seher, wußte später nicht mehr genau, wie er gesprochen hatte, und seine Beredsamkeit hatte denn auch mehr die Eigenschaft, zu treffen und Bewunderung zu erregen, als durch die Bündigkeit seiner Gründe zu überzeugen. Er hätte die Kriegslust der Athener, nachdem der Krieg gegen Philipp beschlossen war, zur Unsinnigkeit anfeuern können; aber er würde sich weniger dazu geeignet haben, sie durch Gründe zum Kriege zu bewegen. Seine Ansprache an die Lebakschen Häupter war natürlich malayisch und entlehnte dieser Sprache noch eine Eigenartigkeit mehr, da die Einfachheit der orientalischen Sprachen vielen Ausdrücken eine Kraft verleiht, die in den westlichen Sprachen durch größere Künstelei verloren gegangen ist; während anderseits auch das Süßfließende des Malayischen schwer in einer anderen Sprache wiederzugeben ist, – man bedenke ferner, daß der größte Teil seiner Zuhörer aus einfachen, doch keinesfalls dummen Menschen bestand, und schließlich, daß es Orientalen waren, deren Eindrücke von den unseren sehr verschieden sind.

Havelaar mußte etwa so gesprochen haben:

»Mynherr Radhen Adhipatti, Regent von Bantan-Kidul, und Ihr, Rhaden Demang, die ihr Häupter seid der Distrikte dieses Bezirks, und Ihr Radhen Djaksa, die Ihr die Justiz zu Eurem Amte habt, und auch Ihr, Rhaden Kliwon, die Ihr die Aufsicht führt über den Hauptort, und Ihr, Radhen, Mantris und alle die Häupter, die ihr seid in dem Bezirk Bantan-Kidul, ich grüße euch.

Und ich sage euch, daß ich Freude fühle in meinem Herzen, wenn ich euch da alle versammelt sehe, den Worten meines Mundes lauschend.[107]

Ich weiß, daß einige unter euch sind, die sich auszeichnen durch Kenntnis und wackeren Sinn. Ich hoffe meine Kenntnis durch die eure zu vermehren, denn sie ist nicht so groß, als ich wünschte. Und ich liebe wackeren Sinn, aber oft merke ich, daß in meinem Gemüt Fehler sind, die die guten Triebe überschatten und ihnen das Wachstum benehmen, wie ihr ja wißt, daß der große Baum den kleinen verdrängt und tötet. Darum will ich auf diejenigen unter euch achten, die hervorragen in Tugend, um zu trachten, besser zu werden, als ich bin.

Ich grüße euch alle sehr.

Als der General-Gouverneur mich beauftragte, zu euch zu gehen, um Adsistent-Resident dieses Bezirks zu sein, war mein Herz erfreut. Ihr wißt, daß ich niemals Bantan-Kidul betreten habe. Ich ließ mir deshalb Schriften geben, die über euren Bezirk handeln, und ich habe gesehen, daß viel Gutes ist in Bantan-Kidul. Euere Leute haben Reisfelder in den Thälern und es sind Reisfelder auf den Bergen. Und ihr wünscht in Frieden zu leben, und ihr begehrt nicht in Landstrichen zu wohnen, die durch andere bewohnt werden. Ja, ich weiß, es ist viel Gutes in Bantan-Kidul.

Aber nicht darum war mein Herz erfreut; denn auch in anderen Landstrichen würde ich viel Gutes gefunden haben.

Aber ich erfuhr, daß euer Volk arm ist, und darüber war ich froh im Innersten meiner Seele.

Denn ich weiß, daß Allah die Armen liebt, und daß er Reichtum dem giebt, den er prüfen will; aber dem Armen sendet er, wer sein Wort spricht, daß sie sich aufrichten in ihrem Elend.

Giebt er nicht Regen, wenn der Halm verdorrt, und einen Tautropfen in den Blumenkelch, der dürstet?

Und ist es nicht schön, ausgesendet zu werden, um die Müden zu suchen, die zurückblieben nach der Arbeit und niedersanken längs des Weges, da ihre Knie nicht mehr stark genug waren, um nach dem Lohnplatze zu gehen? Sollte ich nicht erfreut sein, meine Hand dem reichen zu dürfen, der in die Grube fiel, und einen Stab zu reichen dem, der die Berge besteigt? Sollte mein Herz nicht aufspringen, als es sich gewählt sah unter vielen, um aus Klagen ein Gebet zu machen, eine Danksagung aus Weinen?

Ja, ich bin sehr froh, daß ich nach Bantan-Kidul gerufen bin.

Ich habe gesagt zu der Frau, die meine Sorgen teilt und[108] mein Glück vergrößert: Freue dich, denn ich sehe, daß Allah Segen giebt auf das Haupt unseres Kindes! Er hat mich gesendet an einen Ort, wo noch nicht alle Arbeit gethan ist, und er schätzte mich würdig, dort zu sein, vor der Zeit der Ernte. Denn nicht im Schneiden der Padi liegt die Freude, die Freude liegt im Schneiden der Padi, die man gepflanzt hat. Und die Seele der Menschen wächst nicht von dem Lohn, sondern von der Arbeit, die den Lohn verdient. Und ich sagte zu ihr: Allah hat uns ein Kind gegeben, das einmal sagen soll: wißt ihr, daß ich sein Sohn bin? Und dann werden Leute leben in diesem Lande, die ihn grüßen mit Liebe, und die Hand auf sein Haupt legen und sagen: Setz dich nieder zu unserem Mahle, und bewohne unser Haus, und nimm teil an dem, was wir haben, denn ich habe deinen Vater gekannt.

Denn, Häupter von Lebak, es ist viel zu arbeiten in eurem Landstrich.

Sagt mir, ist nicht der Landmann arm? Reift nicht eure Padi oft, um die zu nähren, die nicht gepflanzt haben? Sind nicht viele Mißstände in eurem Lande?

Ist nicht Scham in euren Seelen, wenn der Bewohner von Bandung, das da im Osten liegt, euer Land besucht und fragt: wo sind die Dörfer, und wo die Landbauer, und warum höre ich den Gamelang nicht, der Freude spricht mit ehernem Munde, noch das Gestampf der Padi durch eure Töchter?

Ist es euch nicht bitter, von hier nach der Südküste zu reisen und Berge zu sehen, die kein Wasser tragen auf ihren Seiten, oder die Ebenen, auf denen nie ein Büffel den Pflug zog?

Ja, ja, ich sage euch, daß meine Seele darüber betrübt ist; und darum gerade sind wir Allah dankbar, daß er uns Kraft gegeben hat, hier zu arbeiten.

Denn wir haben in diesem Lande Acker für viele, obschon der Bewohner wenig sind. Und es ist nicht der Regen, der fehlt; denn die Spitzen der Berge saugen die Wolken des Himmels zur Erde. Und nicht überall sind Felsen, die Raum weigern der Wurzel; denn auf vielen Stellen ist der Boden weich und fruchtbar und verlangt nach dem Getreidekorn, das er euch im gebogenen Halm wiedergeben will. Und es ist kein Krieg im Lande, der die Padi zertritt, wenn sie noch[109] grün ist, noch Krankheit, die den Patjol nutzenlos macht. Auch sind die Sonnenstrahlen nicht heißer als nötig, um das Getreide zu reifen, das ihr und eure Kinder essen müßt, noch auch Banjers, die euch sagen lassen: zeige mir den Platz, da ich gesät habe.

Wo Allah Wasserströme sendet, die die Äcker wegschwemmen, wo er den Grund hart macht wie dürren Stein, wo er seine Sonne glühen läßt zum Versengen, wo er mit Krankheit schlägt, die die Hände schwach machen, und mit Dürre, die die Ähren tötet – da, Häupter von Lebak, beugen wir das Haupt und sprechen: er will es so!

Aber nicht ist es so in Bantan-Kidul.

Ich bin hierher gesandt, euer Freund zu sein, euer älterer Bruder. Würdet ihr euren jüngeren Bruder nicht warnen, wenn ihr einen Tiger sähet auf seinem Wege?

Häupter von Lebak, wir haben oft Fehler begangen, und unser Land ist arm, weil wir so viele Fehler begingen.

Denn in Tjikandi und Bolang und im Krawangschen und in der Umgegend von Batavia leben viele Leute, die geboren sind in unserem Lande, und die unser Land verlassen haben.

Warum suchen sie die Arbeit fern von dem Platz, da sie ihre Eltern begruben? Warum flohen sie die Dessah, wo sie die Beschneidung empfingen? Warum suchen sie die Kühle des Baumes, der dorten wächst, lieber als den Schatten unserer Büsche?

Und selbst drüben im Nordwesten über der See, da sind viele, die unsere Kinder mußten sein, aber die Lebak verlassen haben, um in fremden Strecken herumzuirren, mit Kris und Klewang und Schießgewehr. Und sie kommen dort elend um, denn es ist die Macht der Regierung, die die Aufständischen niederschlägt.

Ich frage euch, Häupter von Lebak! warum sind so viele, die weggingen, um nicht begraben zu werden, wo sie geboren sind? Warum fragt der Baum: wo ist der Mann, den ich spielen sah als Kind an meinem Fuße?«

Havelaar hielt hier einen Augenblick inne.

Um einigermaßen den Eindruck zu verstehen, den seine[110] Worte machten, hätte man ihn hören und sehen müssen. Als er von seinem Kinde sprach, war in seiner Stimme etwas Sanftes, etwas unbegreiflich Rührendes, was dich veranlaßte zu fragen: wo ist der Kleine? ich möchte das Kind küssen, dessen Vater so spricht! Aber als er kurz darauf, mit wenig Rhetorik, überging zu den Fragen: warum Lebak arm wäre, warum so viele Einwohner auswanderten, da war in seiner Rede etwas, das an den Ton erinnert, den ein Bohrer macht, wenn er mit Gewalt in hartes Holz geschraubt wird. Und er sprach dabei nicht laut, noch betonte er besonders einzelne Worte, ja es war sogar etwas Eintöniges in seiner Stimme, aber sei es Absicht oder Natur, gerade durch die Eintönigkeit verstärkte er den Eindruck seiner Worte auf Gemüter, die so besonders für solche Rede empfänglich waren.

Seine Bilder, stets aus dem Leben genommen, das ihn umgab, waren für ihn wirklich Hilfsmittel, um recht verständlich zu machen, was er sagen wollte, und nicht, wie es oft vorkommt, überflüssige Anhängsel, die die Sätze der Redner beschweren, ohne irgend eine Verdeutlichung zu dem Begriff der Sache, die man zu erklären meint, beizutragen. Wir sind jetzt an die Ungereimtheit des Ausdrucks »stark wie ein Löwe« gewöhnt; aber wer das Bild in Europa zuerst gebrauchte, zeigte damit, daß er seinen Vergleich nicht aus der Poesie der Seele geholt hatte, die Bilder giebt anstatt der Begründung und nicht anders sprechen kann, sondern daß er einfach aus einem anderen Buch – vielleicht aus der Bibel, – worin ein Löwe vorkam, abgeschrieben hatte. Denn keiner seiner Zuhörer hatte die Stärke des Löwen kennen gelernt, und es wäre deshalb eher nötig gewesen, ihnen diese Stärke dadurch verständlich zu machen, daß man den Löwen mit etwas anderem, wovon die Kraft ihnen bekannt war, in Vergleich stellt.

Man sieht, daß Havelaar wirklich ein Dichter war, daß er, wenn er von den Reisfeldern sprach, die auf den Bergen waren, die Augen durch die offene Seite des Saales dahin richtete und die Felder in der That sah; man fühlt, wenn er den Baum ließ fragen, wo der Mann war, der als Kind an seinem Fuße gespielt hatte, daß dieser Baum dastand und in der Vorstellung von Havelaars Zuhörern in Wirklichkeit fragend um sich blickte nach den verschwundenen Bewohnern von Lebak. Er ersann nichts; er hörte den Baum sprechen und glaubte lediglich nachzusprechen, was er in seiner dichterischen Auffassung so deutlich gehört hatte.

Es könnte vielleicht jemand bemerken, daß das Ursprüngliche[111] in Havelaars Sprechweise nicht so zweifelsohne ist, da sein Stil an die Propheten des Alten Testaments erinnert. Da muß ich erinnern, daß ich bereits gesagt habe, wie er in Augenblicken der Begeisterung wirklich etwas von einem Seher hatte, und daß er, durch Eindrücke genährt, die das Leben in Wäldern und auf Bergen ihm mitgeteilt hatte, und durch die poesieatmende Atmosphäre des Ostens, wahrscheinlich nicht anders gesprochen hätte, wenn er die herrlichen Poesien des Alten Testaments niemals gekannt hätte.

Finden wir doch in den Versen, die aus seiner Jugend stammen, Zeilen wie diese, die auf dem Salak geschrieben waren – einem der Riesen, wenn auch nicht dem größten unter den Bergen der Preange--Regentschaften, – worin wieder der Anfang die Sanftmut seiner Gefühle zeichnet, um plötzlich überzugehen in das Nachsprechen des Donners, den er unter sich hört:


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

's ist süßer, seinen Schöpfer hier zu loben,

Gebet klingt schön längs Berg- und Hügelreih',

Die Seele schwinget leichter sich nach oben,

Man fühlt, daß seinem Gott man näher sei.


Hier schuf er zu Altären sich und Chören,

Was keines Menschen Fuß betrat bisher;

Hier kannst du ihn in Sturmesbrausen hören,

Und rollend ruft sein Donner: Ich der Herr!

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Fühlt man da nicht, daß er die letzten Zeilen nicht so hätte schreiben können, wenn er nicht wirklich gehört hätte, wie Gottes Donner ihm in krachendem Schauer gegen die Bergwände die Worte vorgesprochen hätte?

Aber er liebte Verse nicht, »es wäre eine häßliche Schnürbrust,« sagte er, und wenn er wirklich einmal dazu gebracht werden konnte, etwas vorzulesen, was er »verbrochen« hatte, so amüsierte er sich damit, sein eigen Werk zu verderben; entweder trug er es in einem Tone vor, der es ins Komische verzerrte, oder er brach, mit Vorliebe bei einer tiefernsten Stelle, ab und warf einen Witz dazwischen, der die Zuhörer[112] peinlich befremdete, der aber bei ihm nichts anderes war als eine Satire auf das Mißverhältnis zwischen dem Schnürleibchen und seiner Seele, die sich darin so beengt fühlte.

Wenige unter den Häuptern nahmen etwas von den dargereichten Erfrischungen. Havelaar hatte nämlich durch einen Wink dafür gesorgt, daß der bei solchen Gelegenheiten unvermeidliche Thee mit Manissan (Konfekt) herumgereicht wurde. Er schien absichtlich einen Ruhepunkt eintreten zu lassen nach den letzten Sätzen seiner Ansprache, und er hatte wohl seine Grunde dafür. »Wie?« mußten die Häupter denken, »er weiß es schon, daß so viele unseren Bezirk verlassen haben, mit Bitterkeit im Herzen? Er weiß schon, wie viele Familien nach Nachbarbezirken auswanderten, um der Armut, die hier herrscht, zu entfliehen? Und sogar das ist ihm bekannt, daß so viele Bantamer unter den Banden sind, die in den Lampongs die Fahne des Aufruhrs gegen die niederländische Regierung entrollt haben? Was will er, was bezweckt er, wem gelten seine Fragen?«

Und es waren welche unter ihnen, die Radhen Wira Kusuma, das Distriktshaupt von Parang-Kudjang, ansahen. Aber die meisten schlugen die Augen zur Erde nieder.

»Komm mal her, Max,« rief Havelaar, der sein Kind draußen spielen sah, und der Adhipatti nahm den Kleinen auf den Schoß. Aber der war zu wild, um lange dazubleiben. Er sprang davon und lief in dem großen Kreise herum, amüsierte die Häupter durch sein Schwatzen und spielte mit ihren Dolchscheiden. Als er an den Djaksa kam, der sich in seiner Kleidung von den anderen unterschied und dadurch das Kind anzog, wies dieser auf etwas am Kopfe des kleinen Max, und machte eine Bemerkung zu dem Kliwon, der ihm zunächst saß, und der ihm zuzustimmen schien.

»Gehe nun, Max,« sagte Havelaar, »Papa hat den Herren noch etwas zu sagen,« und der Kleine lief davon, nachdem er mit Kußhändchen gegrüßt hatte.

»Häupter von Lebak! Wir alle stehen im Dienst des Königs von Niederland. Aber er, der rechtschaffen ist und will, daß wir unsere Pflicht thun, ist fern von hier. Dreißigmal tausend mal tausend Seelen, ja mehr als so viel, müssen seinen Befehlen gehorchen, aber er kann nicht bei allen sein, die von seinem Willen abhängen.[113]

Der große Herr zu Buitenzorg ist rechtschaffen und will, daß jeder seine Pflicht thue. Aber auch er, so mächtig er auch ist und gebietend über alles, was Gewalt hat in den Städten, und über die Ältesten in den Dörfern, und gebietend über die Macht des Heeres und über die Schiffe, die auf der See sind, auch er kann nicht sehen, wo Unrecht geschieht, denn das Unrecht bleibt ferne von ihm.

Und der Resident zu Serang, der Herr ist über den Landstrich Bantam, den zweimalhunderttausend Menschen bewohnen, will, daß Recht geschehe in seinem Gebiet, und daß Rechtschaffenheit herrsche in den Landschaften, die ihm unterthan sind. Doch wo Unrecht ist, da ist er fern, und der Übelthäter verbirgt sich vor seinem Antlitz, weil er die Strafe fürchtet.

Und der Herr Adhipatti, der Regent ist von Süd-Bantam, will, daß jeder lebe, der nach dem Guten trachtet, und daß keine Schande sei über dem Landstrich, der seine Regentschaft ist.

Und ich, der gestern den allmächtigen Gott zum Zeugen nahm, daß ich rechtschaffen sein werde und langmütig, daß ich recht thun werde sonder Furcht und sonder Haß, daß ich ein ›guter Adsistent-Resident‹ sein werde – auch ich wünsche zu thun, was meine Pflicht ist.

Häupter von Lebak! Das wünschen wir alle.

Aber wenn einige unter uns wären, die ihre Pflicht verwahrlosten für Gewinn, die das Recht verkauften für Geld, die den Büffel des Armen nähmen, und die Früchte, die dem Hungrigen gehören, – wer soll sie strafen?

Wenn einer von euch es wüßte, er würde es hindern, und der Regent würde es nicht dulden, daß so etwas geschehe in seiner Regentschaft, und auch ich werde dagegen hintreten, wo ich kann; aber wenn weder ihr noch der Adhipatti noch ich es wüßte ...?

Häupter von Lebak! wer soll dann Recht üben in Bantan-Kidul?

Hört auf mich, ich werde euch sagen, wie dann wird Recht gesprochen werden.

Es kommt eine Zeit, da unsere Frauen und Kinder weinen werden, indem sie unser Totengewand bereiten, und die Vorübergehenden[114] sprechen werden: da ist ein Mensch gestorben. Dann wird, wer in den Dörfern ankommt, Nachricht bringen von dem Tode des Mannes, der gestorben ist, und wer ihn beherbergt, wird fragen: wer war der Mann, der gestorben ist?

Er war gut und rechtschaffen. Er sprach recht und verstieß den Klageführenden nicht von seiner Thür. Er hörte geduldig an, wer zu ihm kam, und gab zurück, was genommen war. Und wer den Pflug nicht treiben konnte durch den Erdboden, weil ihm der Büffel aus dem Stall geholt war, dem half er suchen nach dem Büffel. Und wo die Tochter war geraubt aus dem Hause der Mutter, da suchte er den Dieb und brachte die Tochter wieder. Und wo gearbeitet war, hielt er den Lohn nicht zurück, und er nahm die Früchte nicht denen, die den Baum gepflanzt hatten. Und er kleidete sich nicht mit dem Kleide, das andere decken sollte, und nährte sich nicht mit Speise, die dem Armen gehört.

Dann wird man sagen in den Dörfern: Allah ist groß, Allah hat ihn zu sich genommen, sein Wille geschehe; es ist ein guter Mensch gestorben.

Aber ein andermal wird der Vorübergehende stillstehen vor dem Hause und fragen: Was ist das, daß der Gamlang schweigt und der Gesang der Mädchen? Und wiederum wird man sagen: Es ist ein Mann gestorben.

Und wer herumreist in den Dörfern, wird des Abends bei seinem Gastfreunde sitzen, um ihn die Söhne und Töchter des Hauses und die Kinder derer, die das Dorf bewohnen, und er wird sprechen:

Da starb ein Mann, der gelobte rechtschaffen zu sein, und er verkaufte das Recht dem, der ihm Geld gab. Er düngte seinen Acker mit dem Schweiß des Arbeiters, den er von dem Acker der Arbeit abgerufen hatte. Er hielt dem Arbeiter seinen Lohn zurück und nährte sich mit der Speise des Armen. Er ist reich geworden von der Armut der anderen. Er hatte viel Gold und Silber und edle Steine in Menge, aber der Landbauer, der in der Nachbarschaft wohnte, wußte den Hunger seines Kindes nicht zu stillen. Er lächelte wie ein glücklicher Mensch; aber es war ein Geknirsch zwischen den Zähnen des Klägers, der Recht suchte. Es war Zufriedenheit auf seinem Gesicht; aber es war keine Nahrung in den Brüsten der Mütter, die säugten.

Dann werden die Bewohner der Dörfer sagen: Allah ist groß! ... wir fluchen niemand![115]

Häupter von Lebak! Einst sterben wir alle!

Was wird gesagt werden in den Dörfern, wo wir Macht hatten, und was von den Vorübergehenden, die das Begräbnis anschauen?

Und was werden wir antworten, wenn nach unserem Tode eine Stimme spricht zu unserer Seele und sie fragt: Warum ist Weinen in den Feldern, und warum verbergen sich die Jünglinge? Wer nahm die Ernte aus den Scheuern und aus den Ställen den Büffel, der das Feld pflügen sollte? Was hast du gethan mit deinem Bruder, den ich dir gab zu bewachen? Warum ist der Arme traurig und flucht der Fruchtbarkeit seiner Frau?«

Hier hielt Havelaar wieder inne, und nach einigem Schweigen fuhr er fort, im einfachsten Tone der Welt, und als hätte durchaus nichts stattgefunden, was Eindruck machen müßte:

»Ich wünschte gern in guten Beziehungen zu euch zu leben, und ich bitte euch darum, mich als Freund zu betrachten. Wer gefehlt haben mag, kann ein mildes Urteil von meiner Seite erwarten, denn da ich selbst so manchmal fehle, werde ich nicht streng sein, wenigstens nicht in gewöhnlichen Dienstversehen oder Nachlässigkeiten. Höchstens wo die Nachlässigkeit zur Gewohnheit geworden ist, werde ich einschreiten. Von Übelständen größerer Art ... von Erpressung und Unterdrückung, spreche ich nicht ... so etwas wird nicht vorkommen; nicht wahr, Adhipatti?«

»O nein, Herr Adsistent-Resident, so etwas wird in Lebak nicht vorkommen.«

»Nun denn, meine Herren Häupter von Bantan-Kidul! laßt uns erfreut sein, daß unser Bezirk so arm ist. Wir haben Schönes zu wirken. Wenn Allah uns am Leben erhält, werden wir sorgen, daß Wohlfahrt komme. Der Boden ist fruchtbar, das Volk willig. Wenn jeder im Genuß der Früchte seiner Anstrengung gelassen wird, leidet es keinen Zweifel, daß binnen wenig Zeit die Bevölkerung zunehmen wird, so an Seelenzahl wie in Besitzungen und Kultur; denn das geht überall Hand in Hand. Ich bitte euch nochmals, mich als einen Freund anzusehen, der euch helfen wird, wo er kann, besonders wo Unrecht abgestellt werden soll. Und hiermit empfehle ich mich sehr eurer Mitwirkung.

Ich werde die empfangenen Berichte über Landbau, Viehzählung, Polizei und Justiz euch mit meinen Weisungen zurückgehen lassen.[116]

Häupter von Bantan-Kidul! ich habe gesprochen. Ihr könnt zurückkehren, jeder nach seiner Wohnung. Ich grüße euch alle sehr.«

Er verbeugte sich, bot dem alten Regenten den Arm und geleitete ihn über das Grundstück nach seiner Wohnung, wo Tine ihn in der Vorgalerie erwartete.


* * *


»Kommen Sie, Verbrügge, gehen Sie noch nicht nach Hause! Kommen Sie auf ein Glas Madeira! Und, ja, das muß ich wissen, Radhen Djaksa! hören Sie!«

Havelaar rief das, als alle Häupter sich nach vielen Verbeugungen bereit machten, in ihre Wohnungen zurückzukehren. Auch Verbrügge stand schon auf dem Punkte, das Gehöft zu verlassen, kehrte aber jetzt mit dem Djaksa um.

»Tine, ich will Madeira trinken, Verbrügge auch. Djaksa! lassen Sie doch hören, was haben Sie zu dem Kliwon über Max gesagt?«

»Mintak ampong, Herr Adsistent-Resident, ich betrachtete sein Haupt, weil Sie gesprochen hatten.«

»Was hat denn sein Kopf damit zu thun? Ich weiß selbst nicht mehr, was ich gesagt habe.«

»Mijnheer, ich sagte zu dem Kliwon ...«

Tine trat herzu; es wurde über den kleinen Max gesprochen.

»Ich sagte zu dem Kliwon, daß der Sinjo ein Königskind wäre.«

Das that Tine wohl, sie fand das auch!

Und der Adhipatti betrachtete das Haupt des Kleinen, und wahrlich! auch er sah den User-useran, der nach dem Aberglauben der Javanen eine Krone tragen soll.

Da die Etikette nicht erlaubte, dem Djaksa in Gegenwart des Regenten einen Platz anzuweisen, nahm er seinen Abschied, und man war einige Zeit zusammen, ohne etwas auf den »Dienst« Bezügliches zu berühren. Nur der Regent fragte plötzlich, ob die Gelder, die der Steuer-Kollekteur zu gut hatte, nicht ausgezahlt werden könnten?[117]

»O nein,« sagte Verbrügge, »der Herr Adhipatti weiß, daß das nicht geschehen darf, bevor seine Verantwortung abgelaufen ist.«

Havelaar spielte mit Max, aber das hinderte ihn nicht, auf dem Antlitz des Regenten zu lesen, daß Verbrügges Antwort ihm nicht zusagte.

»Kommen Sie, Verbrügge, wir wollen nicht schwerfällig sein,« sagte er und ließ einen Schreiber aus dem Kontor rufen. »Wir werden das schon jetzt ausbezahlen, seine Rechnung wird schon genehmigt werden.«

Als der Adhipatti sich entfernt hatte, sagte Verbrügge, der von den amtlichen Vorschriften viel hielt:

»Aber Herr Havelaar, das darf nicht sein! Die Abrechnung des Unterkollekteurs ist zu Serang zur Nachprüfung ... wenn nun irgend etwas nicht stimmt?«

»Dann nehme ich es auf mich,« sagte Havelaar.

Verbrügge begriff indes nicht, woher die große Nachsicht gegen den Steuerkollekteur stammte.

Der Schreiber kam bald mit einigen Papieren zurück, Havelaar unterschrieb und sagte dann, man möge sich mit der Auszahlung beeilen.

»Verbrügge! ich werde Ihnen sagen, warum ich das thue. Der Regent hat keinen Deut im Hause, sein Schreiber hat es mir gesagt. Er selbst hat das Geld nötig, und der Kollekteur will es ihm vorschießen. Ich übertrete lieber auf eigene Verantwortung eine Form, als daß ich einen Mann von seinen Jahren und seinem Rang in Verlegenheit lassen soll. Außerdem, Verbrügge, es wird in Lebak viel Mißbrauch der Gewalt getrieben, Sie müßten es wissen. Wissen Sie es?«

Verbrügge schwieg.

»Ich weiß es!« fuhr Havelaar fort, »ich weiß es! Ist nicht der Herr Slotering im November gestorben? Nun, am Tage nach seinem Tode hat der Regent Volk herbeiholen lassen, um seine Sawahs ohne Bezahlung zu bearbeiten. Sie hätten das wissen müssen, wissen Sie es?«

Verbrügge wußte es nicht.

»Sie hätten es wissen müssen. Ich weiß es,« ging Havelaar weiter. »Da liegen die Monatsberichte aus den Distrikten« – er zeigte auf das Paket Schriften, die er in der Versammlung erhalten hatte – »sehen Sie, ich habe nichts geöffnet; darin sind unter anderem auch die Ausstellungen über Arbeiter, die nach dem Hauptorte zum Herrendienst gestellt sind ... nun, sind die Aufstellungen richtig?«[118]

»Ich habe sie noch nicht gesehen ...«

»Ich auch nicht; und doch frage ich Sie, ob sie richtig sind? Waren die Berichte über den Monat vorher richtig?«

Verbrügge schwieg.

»Auch die Aufstellungen, die ich heute erhielt, sind falsch,« fuhr Havelaar fort. »Der Regent ist arm: die Regenten von Bantam und Tjikand sind Glieder des Geschlechts, dessen Haupt er ist. Er ist Adhipatti und der Regent von Tjikand ist nur Tommongong, und doch lassen seine Einkünfte, weil sich Lebak nicht so für den Kaffeebau eignet und ihm daher keine Emolumente abwirft, nicht zu, daß er an Glanz und Prunk wetteifere mit einem einfachen Demang im Preangerschen, der den Zaum halten müßte, wenn seine Neffen zu Pferde steigen. Ist das wahr?«

»Ja, das ist so.«

»Er hat nichts als sein Traktament, und darauf ruht noch ein Abzug zur Abbezahlung eines Vorschusses, den die Regierung ihm gegeben hat, als er ... wissen Sie?«

»Ja, ich weiß es.«

»Als er eine neue Moschee bauen wollte, wozu er viel Geld brauchte. Dazu kommt, daß viele Glieder seiner Familie ... wissen Sie?«

»Ja, das weiß ich.«

»Viele Glieder seiner Familie – die eigentlich nicht in Lebak zu Hause ist und darum auch beim Volke nicht angesehen ist – scharen sich um ihn wie eine Bummlerbande und pressen ihm Geld ab ... ist's wahr?«

»Ja,« sagte Verbrügge.

»Und wenn seine Kasse leer ist, was oft vorkommt, nehmen sie in seinem Namen dem Volke ab, was ihnen gefällt ... ist's so?«

»Ja, so ist es.«

»Ich bin also gut unterrichtet, doch davon später. Der Regent wird alt, er ist seit einigen Jahren von dem Triebe beherrscht, sich durch Geschenke an die Geistlichen verdienstlich zu machen. Er giebt viel Geld zu den Reisekosten der Mekkapilger, die ihm allerlei Lumpen von Reliquien, Talismanen und Djimats mitbringen. Ist es nicht so?«

»Ja, das ist wahr.«

»Durch dies alles ist er so arm. Der Demang von Parang-Kudjang ist sein Schwiegersohn. Wo der Regent selbst, aus Scham, seines Ranges wegen, nichts nehmen durfte, da ist es der Demang – aber er nicht allein – der dem Adhipatti[119] den Hof macht, indem er der armen Bevölkerung Geld und Gut abpreßt, und die Leute von ihren eigenen Reisfeldern wegholt, um sie auf die Sawahs des Regenten zu treiben. Und dieser ... ich will ja glauben, daß er gern anders möchte, aber die Not zwingt ihn, von solchen Mitteln Gebrauch zu machen. Ist das nicht alles wahr, Verbrügge?«

»Ja, es ist wahr,« sagte Verbrügge, der, je länger je mehr, einzusehen begann, daß Havelaars Blick scharf war.

»Ich wußte,« fuhr dieser fort, »daß er kein Geld im Hause hatte. Sie haben heute früh gehört, daß ich den Vorsatz habe, meine Pflicht zu thun. Unrecht dulde ich nicht, bei Gott, ich dulde es nicht!«

Und er sprang auf, und es war in seinem Ton etwas ganz anderes als gestern bei dem offiziellen Eid.

»Aber,« fuhr er fort, »ich will meine Pflicht mit Milde thun. Ich will nicht zu genau wissen, was geschehen ist. Doch was von heute ab geschieht, gehört zu meiner Verantwortung; dafür will ich Sorge tragen. Ich hoffe lange hier zu bleiben. Wissen Sie wohl, Verbrügge, daß unser Beruf herrlich schön ist? Aber wissen Sie auch, daß ich alles, was ich Ihnen eben sagte, eigentlich von Ihnen hätte hören müssen? Ich kenne Sie ebenso gut, wie ich weiß, wer da Garem-glap (Seesalz) macht an der Südküste: Sie sind ein braver Mensch, das weiß ich; aber warum haben Sie mir nicht gesagt, daß hier so viel nicht in Ordnung ist? Sie sind zwei Monate lang stellvertretender Adsistent-Resident gewesen, und außerdem schon lange hier als Kontroleur, Sie mußten das also wissen.«

»Mijnheer Havelaar, ich habe nie unter jemand gedient, der gewesen wäre wie Sie. Sie haben etwas sehr Besonderes, nehmen Sie mir es nicht übel.«

»Durchaus nicht; ich weiß wohl, daß ich nicht bin wie alle Menschen ... aber was thut das zur Sache?«

»Das thut's, daß Sie einem Begriffe und Ideen mitteilen, die früher nicht bestanden.«

»Nein! die eingeschlummert waren durch den verfluchten offiziellen Schlendrian, der seinen Stil sucht in ›Ich habe die Ehre‹ und seinen Hochgenuß in der ›höchsten Zufriedenheit der Regierung.‹ Nein, Verbrügge, verleumden Sie sich nicht selber! Sie haben von mir nichts zu lernen ... heute früh zum Beispiel in der Sebah, habe ich Ihnen da etwas Neues erzählt?«[120]

»Nein, Neues nicht ... aber Sie sprachen anders als die anderen.«

»Ja, das macht, weil meine Erziehung vernachlässigt ist. Ich spreche zu sehr gerade heraus. Aber Sie sollten mir sagen, warum Sie sich bei all dem Verkehrten in Lebak so beruhigt haben?«

»Ich habe nie so den Eindruck einer Initiative gehabt ... und dann, das war ja alles immer so in diesen Gegenden.«

»Ja, ja, das weiß ich wohl ... jeder kann nicht Prophet sein oder Apostel ... das Holz würde zu teuer zum Kreuzigen. Aber Sie wollen mir doch helfen, alles zurecht zu bringen? Sie wollen doch wohl Ihre Pflicht thun?«

»Gewiß, vor allem bei Ihnen. Aber nicht jeder würde das so streng fordern oder abschätzen, und dann – man kommt so leicht in die Lage des Mannes, der gegen Windmühlen kämpft.«

»Nein, das sagen die, die das Unrecht lieben, weil sie davon leben, daß kein Unrecht wäre, um einen Vorwand zu haben, Euch als einen Don Quixote hinzustellen und zu gleicher Zeit ihre Windmühlen im Gange zu erhalten. Indessen, Verbrügge! Sie hätten nicht auf mich zu warten brauchen, um Ihre Pflicht zu thun. Der Herr Slotering war ein geschickter und ehrlicher Mann; er wußte, was vorging, er mißbilligte es und trat dagegen auf. Sehen Sie hier!«

Havelaar nahm aus einer Brieftasche zwei Blatt Papier, und indem er sie Verbrügge zeigte, fragte er:

»Wessen Hand ist das?«

»Das ist die Handschrift des Herrn Slotering ...«

»Richtig. Das sind Notizen, augenscheinlich Dinge betreffend, die er mit dem Residenten besprechen wollte. Da steht, sehen Sie:


1. Über den Reisbau.

2. Über die Wohnungen der Dorfhäupter.

3. Über das Einziehen der Landrenten u.s.w.


Dahinter stehen zwei Ausrufungszeichen; was meinte Herr Slotering damit?«

»Das kann ich nicht wissen,« sagte Verbrügge.

»Aber ich. Das bedeutet, daß viel mehr Landrenten aufgebracht werden, als in die Landeskasse fließen. Aber ich werde Ihnen etwas zeigen, was wir beide verstehen, weil es in Buchstaben geschrieben ist und nicht in Zeichen. Sehen Sie:
[121]

12. Über den Mißbrauch, der durch den Regenten und niedere Häupter mit der Bevölkerung getrieben wird. (Über das Halten verschiedener Wohnungen zu Kosten der Bevölkerung u.s.w.)


Ist das deutlich? Sie sehen, daß der Herr Slotering wohl jemand war, der die Initiative ergreifen konnte, Sie hätten sich daher wohl an ihn anschließen können. Hören Sie:


15. Daß viele Personen von den Familien und dem Gefolge auf den Auszahlungslisten stehen, die in der That an der Kultur keinen Anteil haben; sodaß ihnen die Vorteile davon zufallen, zum Schaden der wirklichen Teilhaber. Auch werden sie in den unrechtmäßigen Besitz der Sawah-Felder gestellt, während diese allein denen zukommen, die an der Kultur Anteil haben.


... Hier habe ich noch eine Notiz, und zwar mit Bleistift. Sehen Sie, auch da steht etwas sehr Deutliches:


Die Verminderung des Volkes zu Parang-Kudjang ist allein dem weitgehenden Mißbrauch zuzuschreiben, der mit der Bevölkerung getrieben wird.


... Was sagen Sie dazu? Sehen Sie wohl, daß ich nicht so excentrisch bin, als es aussieht, wenn ich mit dem Recht Ernst mache, und daß das auch andere thaten.«

»Es ist wahr,« sagte Verbrügge, »der Herr Slotering hat mit dem Residenten oft über das alles gesprochen.«

»Und was folgte darauf?«

»Dann wurde der Regent gerufen ... er wurde abouchiert.« ...

»Schön! Und dann?«

»Der Regent leugnete gewöhnlich alles. Dann mußten Zeugen kommen. Niemand wagte zu zeugen gegen den Regenten ... Mijnheer Havelaar, diese Sachen sind so schwierig!«

Der Leser wird, noch ehe er mein Buch ausgelesen hat, ebenso gut wie Verbrügge wissen, warum diese Sachen so besonders schwierig sind.

»Der Herr Slotering hatte viel Ärger damit,« fuhr der Kontroleur fort, »er schrieb scharfe Briefe an die Häupter ...«

»Ich habe sie heute nacht gelesen,« sagte Havelaar.

»Und ich habe ihn oftmals sagen gehört, wenn es nicht anders würde und der Resident nicht durchgriffe, so würde[122] er sich geradeswegs an den General-Gouverneur wenden. Dies hat er den Häuptern auch selbst gesagt auf der letzten Sebah, die er geleitet hat.«

»Da würde er sehr falsch gehandelt haben; denn der Resident war sein Chef, den er auf keinen Fall übergehen durfte, und warum sollte er auch? Es ist doch nicht anzunehmen, daß der Resident von Bantam Unrecht und Willkür gutheißen sollte?«

»Gutheißen, nein ... aber man klagt nicht gern ein Haupt an.«

»Ich klage keinen gern an, wer es auch sei; aber wo es sein muß, ein Haupt so gut wie einen anderen. Indes, von Anklagen ist ja hier, gottlob, keine Rede. Morgen werde ich den Regenten besuchen. Ich will ihm die falsche und gesetzwidrige Ausnutzung der Macht vor Augen stellen, vor allem, wo es sich handelt um den Besitz armer Leute. Aber bis das alles zurecht kommt, will ich ihm in seinen mißlichen Umständen helfen, so viel ich kann. Sie begreifen nun, warum ich das Geld dem Kollekteur sofort habe auszahlen lassen. Auch beabsichtige ich die Regierung zu ersuchen, ihm seinen Vorschuß gänzlich zu schenken. Und Sie, Verbrügge, ersuche ich, streng Ihre Pflicht zu thun, so lange es geht, mit Milde, aber wenn es sein muß, ohne Furcht. Sagen Sie fortan frei heraus, wie es steht ... komme, was kann: werfen Sie die Halbheit von sich ... und jetzt, bleiben Sie bei uns zu Tisch; wir haben holländischen Blumenkohl, Konserve ... aber alles ist sehr einfach; denn ich muß sehr sparsam sein ... komm, Max!«

Und mit Max rittlings auf der Schulter, traten sie in die Innengalerie, wo Tine sie am gedeckten Tisch erwartete, der, wie Havelaar gesagt hatte, wohl sehr einfach war. Düclari, der Verbrügge fragen kam, ob er denn nicht vor dem Mittagsessen zu Hause zu sein dächte, wurde mit zu Tisch geladen, – und wenn ihr gern etwas Abwechselung in meiner Erzählung haben wollt, müßt ihr das folgende Kapitel lesen, in dem ich euch mitteile, was so alles bei diesem Mahl gesprochen wurde.

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 106-123.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon