Drittes Kapitel.

[28] Der verrückte Brief des Shawlmanns und der Theeabend bei Rosemeyers, die in Zucker machen.


Als ich tags darauf von der Börse nach Hause kam, sagte Fritz, es wäre jemand dagewesen, der mich sprechen wollte. Nach der Beschreibung war es der Shawlmann. Wie er mich nur gefunden hatte? Ach ja, die Geschäftskarte! Ich dachte schon daran, meine Kinder von der Schule zu nehmen; denn es ist unangenehm, wenn einem noch zwanzig, dreißig Jahre später ein Schulkamerad nachläuft, der einen Shawl trägt statt eines Überziehers, und der nicht weiß, wie spät es ist. Auch habe ich Fritz verboten, nach dem Westermarkt zu gehen, wenn Jahrmarkt ist.

Tags darauf kam ein Brief mit einem großen Paket. Ich will euch den Brief lesen lassen:
[28]

»Lieber Droogstoppel!«


Ich finde, er hätte wohl »Hochgeehrter Herr Droogstoppel« sagen können, denn ich bin Makler.


»Ich bin gestern bei Ihnen gewesen mit der Absicht, ein Anliegen vorzutragen. Ich glaube, daß Sie in guten Verhältnissen leben ...«


Das ist wahr, wir sind im ganzen dreizehn auf dem Kontor –


»und ich wünschte, mich Ihres Kredits zu bedienen, um eine Angelegenheit zustande zu bringen, die für mich von großer Wichtigkeit ist.«


Hört sich das nicht an, als handelte es sich um einen Auftrag für die Frühjahrsversteigerung?


»Infolge von allerlei Umständen bin ich augenblicklich einigermaßen in Geldverlegenheit ...«


Einigermaßen! Er hatte kein Hemde auf dem Leibe. Das nennt er: einigermaßen!


»ich kann meiner lieben Frau nicht alles geben, was zur Annehmlichkeit des Lebens nötig ist, und auch die Erziehung meiner Kinder ist, aus pekuniären Gesichtspunkten, nicht so wie ich wünschte.«


Annehmlichkeit des Lebens? Erziehung der Kinder? Meint er, daß er für seine Frau eine Loge in der Oper mieten will, und seine Kinder in eine Anstalt nach Genf schicken? Es war Herbst und ziemlich kalt, – er wohnte auf einem Bodengelaß ohne Feuer. Als ich diesen Brief empfing, wußte ich das nicht, aber später bin ich bei ihm gewesen, und noch jetzt bin ich ärgerlich über den tollen Ton seines Geschreibsels. Zum Kuckuck! wer arm ist, kann sagen, daß er arm ist; Arme muß es geben, das ist notwendig in der menschlichen Gesellschaft; wenn er nur kein Almosen verlangt und niemand zur Last fällt, habe ich durchaus nichts dagegen, daß er arm ist; aber die Ziererei dabei paßt mir nicht. Hört weiter:


»Da nun auf mir die Pflicht ruht, für die Bedürfnisse der Meinen zu sorgen, habe ich beschlossen, ein Talent auszunutzen, das, wie ich glaube, mir gegeben ist. Ich bin Dichter ...«


Puh! Du weißt, Leser, wie ich und alle vernünftigen Menschen darüber denken.


»und Schriftsteller. Seit meiner Kindheit drückte ich meine Gefühle in Versen aus, und auch später schrieb ich täglich[29] nieder, was in meiner Seele vorging. Ich glaube, daß darunter einige Arbeiten sind, die Wert haben, und ich suche dafür einen Verleger. Aber das ist nun gerade die Schwierigkeit. Das Publikum kennt mich nicht, und die Verleger beurteilen die Werke mehr nach dem Namen und Ruf des Verfassers als nach dem Inhalt.«


Gerade wie wir den Kaffee nach dem Renommee der Sorten und Marken.


»Wenn ich nun auch annehme, daß mein Werk nicht ohne Wert sein würde, so würde das doch erst nach dem Erscheinen zu Tage treten, und die Buchhändler verlangen die Druckkosten u.s.w. im voraus ...«


Finde ich sehr vernünftig.


»was mir augenblicklich nicht gelegen kommt. Da ich indes überzeugt bin, daß meine Arbeit die Kosten decken würde, und ruhig mein Wort darauf verpfänden kann, bin ich, ermutigt durch unsere Begegnung von vorgestern ...«


Das nennt der ermutigen!


»zu dem Beschluß gekommen, an Sie die Bitte zu richten, ob Sie sich bei einem Buchhändler für die Kosten einer ersten Ausgabe verbürgen würden, und wäre es auch bloß ein kleines Bändchen. Ich überlasse die Auswahl für diesen ersten Versuch ganz Ihnen. In dem beifolgenden Paket finden Sie viele Manuskripte; Sie werden daraus ersehen, daß ich viel gedacht, gearbeitet und erlebt habe ...«


Ich habe nie gehört, daß er ein Geschäft hatte.


»und wenn die Gabe der Darstellung mir nicht ganz und gar versagt ist, soll es gewiß nicht an dem Mangel an Eindrücken liegen, wenn ich nicht Erfolg hätte.

In Erwartung einer freundlichen Antwort bin ich

Ihr alter Schulfreund ...«


Sein Name stand darunter, doch ich will ihn verschweigen, weil ich nicht gern jemand ins Gerede bringe.

Lieber Leser, du begreifst, was für ein Gesicht ich gemacht habe, als man mich so plötzlich zum Makler in Versen erheben wollte. Ich glaubte fest, wenn Shawlmann, – ich will ihn nur weiter so nennen – mich bei Tage gesehen hätte, so wäre er mir mit so etwas nicht gekommen; denn Ehrbarkeit und Würde lassen sich nicht verbergen; aber es war Abend, und ich nehme es ihm deshalb nicht so übel.

Selbstverständlich wollte ich von dem Unsinn nichts wissen.[30] Ich hätte das Paket durch Fritz zurückgeschickt, aber ich wußte seine Wohnung nicht, und er ließ nichts von sich hören. Ich dachte schon, er wäre krank oder gestorben.

Vorige Woche war Gesellschaft bei Rosemeyers – die in Zucker machen. Fritz war das erste Mal mitgegangen. Er ist sechzehn Jahre, und ich bin dafür, daß ein junger Mensch in die Welt kommt, sonst läuft er auf den Westenmarkt oder dergleichen. Die Mädchen hatten Klavier gespielt und gesungen, und beim Nachtisch neckten sie sich mit etwas, das wohl im Vorderzimmer vorgekommen war – während wir hinten beim Whist saßen – etwas, an dem auch Fritz beteiligt war.

»Ja, ja, Luise,« rief Betsy Rosemeyer, »geweint hast du! Papa, Fritz hat Luise zum Weinen gebracht.«

Meine Frau sagte, daß Fritz dann nicht mehr mitgenommen werden sollte; sie dachte, er hätte Luise gekniffen, oder sonst etwas, was sich nicht schickt, und ich wollte gerade auch schon ein Wort dazu geben, als Luise rief:

»Nein, nein! Fritz ist ganz nett gewesen, ich wollte, er thäte es noch einmal.«

»Was denn?«

Er hatte sie nicht gekniffen, er hatte deklamiert, da habt ihr's.

Natürlich hat die Hausfrau es gern, wenn beim Nachtisch eine »Unterhaltung« stattfindet; – das macht sich nett. Mewrouw Rosemeyer – die Rosemeyers lassen sich »Mewrouw« nennen, weil sie in Zucker machen und einen Anteil an einem Schiff haben – Mewrouw Rosemeyer meinte, was Luise zum Weinen gebracht hätte, würde auch uns unterhalten, und verlangte von Fritz, der so rot aussah wie ein Puter, ein Dacapo. Ich hatte keine Ahnung, was er da aufgetragen haben konnte, ich kannte seine Liste aufs Haar. Das war: die »goldene Hochzeit«, die »Bücher des alten Testaments« in Reimen, und ein Stück aus der »Hochzeit des Kamacho«, das[31] die Jungen immer so nett finden, weil da etwas von einer Beschummelei vorkommt. Was darunter eigentlich Thränen entlocken konnte, war mir ein Rätsel; zwar, so ein Mädchen weint ja bald einmal.

»Los, Fritz! ach ja, Fritz! komm, Fritz!« – und Fritz begann.

Ich bin kein Freund davon, des Lesers Neugier in Spannung zu versetzen, und will deshalb gleich sagen, daß sie zu Hause das Paket von Shawlmann aufgemacht hatten, und daraus hatten nun Fritz und Marie eine Naseweisheit und Sentimentalität geschöpft, die mir später viel Wirtschaft ins Haus gebracht haben. Ich will aber auch gleich beifügen, Leser, daß dies Buch auch aus jenem Pakete stammt, und ich werde mich nachher deshalb gebührend verantworten; denn ich halte darauf, daß man mich als einen Mann betrachte, der die Wahrheit liebt und der in seinem Geschäft tüchtig ist. (Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37.)

Nun trug Fritz ein Ding vor, das aus lauter Unsinn zusammenhing; nein, es hing überhaupt nicht zusammen. Ein junger Mensch schrieb an seine Mutter, daß er verliebt gewesen war, daß sein Mädchen einen anderen genommen hatte – woran sie meines Erachtens ganz recht that, – daß er aber bei alledem stets seine Mutter liebte. Sind diese drei Sätze deutlich oder nicht? Findet ihr da viele Umstände nötig, um das zu sagen? Nun also, ich habe ein Brötchen mit Käse gegessen, darauf zwei Birnen geschält, und ich war kaum zur Hälfte mit der Bewältigung der zweiten fertig, bevor Fritz seine Geschichte beendet hatte. Aber Luise heulte wieder, und die Damen sagten, es wäre sehr schön. Nun erzählte Fritz, der vermutlich meinte, er hätte ein großes Stück vollführt, daß er es in dem Paket des Mannes, der einen Shawl trug, gefunden hätte; und ich erklärte den Herren, wie das in mein Haus gekommen war; bloß von der Griechin sagte ich nichts, weil Fritz dabei war, und ich sagte auch nichts von dem Kapelsteeg. Jeder fand, daß ich ganz recht gethan hatte, mich von dem Menschen zurückzuhalten. Ihr werdet nachher sehen, daß auch andere Dinge soliderer Natur in dem Paket waren, und davon kommt eins und das andere in dies Buch, weil die Kaffeeversteigerungen [32] der Handelsgesellschaft damit in Beziehung stehen; denn ich lebe für mein Fach.

Später fragte mich der Verleger, ob ich nicht das, was Fritz deklamiert hatte, hier beifügen wollte. Ich will es thun, damit man wisse, daß ich mich mit diesen Dingen nicht aufhalte. Alles Lügen und Unsinn. Ich will nur noch bemerken, daß die Geschichte »18. 3. Padang« geschrieben ist, und daß das eine geringere Sorte ist – der Kaffee, meine ich.


Mutter, ferne von dem Land

Steh ich, dem ich einst entsprossen,

Wo meine ersten Thränen flossen,

Wo mich führte deine Hand,

Wo der Mutter Treu' des Knaben

Seele ihre Sorgen weihte

Und mir liebreich stand zur Seite

Stets mit Hand und Herz und Gaben; –

Ach! das Schicksal riß die Bande

Grausam ab ... so ist der Schein ...

Ich steh' hier am fremden Strande

Mit mir selbst, und Gott ... allein ...

Aber, Mutter! ob mir trübe

Sei im Herzen oder licht,

Mutter, zweifle an der Liebe,

An des Lieblings Herzen nicht!


Wenig Jahre sind entflogen,

Seit ich von der Heimat Küste

In die fremde Welt gezogen

Und mein Blick die Zukunft grüßte;

Alles Schöne mir zur Beute

Heischte ich mit keckem Ruf,

Stolz verschmäht' mein Sinn das Heute,

Der mir Paradiese schuf!

Durch der Hindernisse Mitten,

Die sich boten meinen Schritten,

Bahnt' mein Herz mit kühner That

Selig träumend sich den Pfad ...
[33]

Doch die Zeit, die so geschwind

Seit der Trennung hingezogen,

Wie der Schatten, den der Wind

Vorwärts treibt, im Nu verflogen:

Ach, sie ließ im Vorwärtsgehen

Tiefe, tiefe Spuren stehen!

Freud' und Schmerz hab ich erlitten,

Viel gedacht und viel gestritten,

Hab' gejauchzt und hab' gebebt,

Hab' nach Lebensheil gestrebt,

Hab' verloren und gefunden,

Und der ich vor kurzer Frist

War ein Kind noch, hab' in Stunden

Oftmals Jahre durchgelebt ...


Aber, Mutter! glaube immer,

Bei dem Himmel, der mich sieht,

Glaub' es, Mutter, deinem Kinde:

Nein, dein Kind vergaß dich nimmer!


Ich liebt' ein Mädchen. Durch die Liebe

Schien die Welt mir schön allein,

Sie sollt' mir die Krone sein

Meines Kampfs im Weltgetriebe.

Thränen netzten mir die Wangen,

Wenn ich für den Schatz ihm dankte,

Den von des Allmächtigen Huld

Ich als Gnade hatt' empfangen.

Liebe, Liebe war mein Beten,

Wenn im stillen Kämmerlein

Meine Seel' zu Gott getreten,

Dankt' ich ihm für sie allein!


Liebe bracht' mir Kümmernis,

Unrast quälte mir das Herz,

Nicht zu tragen war der Schmerz,

Der mein weich Gemüt zerriß!

Angst und Leid hat mich getroffen,

Wo aufs Höchste ging mein Hoffen, –

Nach dem Glücke war mein Streben,

Gift und Weh ward mir gegeben.


Mein Genuß war leidend Schweigen.

Standhaft Hoffen war mein Stern,[34]

Unglück ließ den Preis mir steigen.

Trug das Leid, für sie, so gern!

Aus des Schicksals harten Schlägen

Schuf ich eine Freude mir:

Alles trug ich ihretwegen,

Trennt' das Los mich nicht von ihr.


Und das Bild, das meinem Lieben

Als ein unschätzbares Gut

Treu bewahrt im Herzen ruht' –

Ach, es ist nicht mein geblieben.

Und harrt auch die Liebe aus,

Bis der letzte Hauch im Leben

Wir im bessern Vaterland

Endlich sie wird wiedergeben – –

Ich hatt' begonnen sie zu lieben!


Was ist Lieb', die einst begann,

Gegen jene ew'ge Liebe,

Die dem Kinde mit dem Leben

Wird zugleich ins Herz gegeben,

Wenn es noch nicht stammeln kann?

Da es an der Mutter Brust,

Kaum dem Mutterschoß entsprossen,

Lernt die erste Nahrung saugen,

Schauend in der Mutter Augen!


Nein, kein Band, das fester binde,

Fester Herzen hält umschlossen,

Als das Band, das Gott geschlossen

Zwischen Mutterherz und Kinde!


Und ein Herz, das hingegeben

So sich hat dem schönen Ziel,

Fand es auch in seinem Streben

Blumen keine, Dornen viel:

Könnt' ein solches Herz indessen

Eines Mutterherzens Treue,

Könnte es die Frau vergessen,

Die die ersten Kinderschreie

Sorgenvoll hat angehört,

Die mich liebend hat umfangen,

Thränen küsste von den Wangen,

Mich mit ihrem Blut genährt?
[35]

Mutter, Mutter, glaub' es nimmer, –

Bei dem Himmel, der mich sieht,

Glaub' es Mutter deinem Kinde:

Nein, dein Kind vergaß dich nimmer!


Was uns Schönes mag das Leben

In der süßen Heimat geben,

Alles, alles liegt mir weit –

Und der Jugend helle Freuden,

Meine Pfade sie vermeiden,

Einsam Herz kennt keine Freud'.

Steil und dornig sind die Wege,

Die ich schreite still einher,

Und das Unglück drückt mich schwer.

An den Busen der Natur

Sucht mein Haupt die milde Pflege:

Ob mein Herz wohl mag gefunden,

Mögen meine Thränen zeigen,

Wie so manche trüben Stunden

Mir das Haupt darnieder beugen ...


Sank der Mut mir, oftmals habe

In Gedanken ich geklagt:

Vater, schenke mir im Grabe,

Was das Leben mir versagt!

Vater, woll' mir dort bescheren,

Drückt der Tod die Augen zu,

Wolle dorten mir bescheren,

Was ich hier nicht kannte: Ruh'!


Aber wenn ich beten wollte,

Stieg die Bitte nicht zum Herrn,

Beugt' ich meine Knie nieder,

Und ich sprach: Noch nicht, o Herr!

Erst gieb mir die Mutter wieder!


Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 28-36.
Lizenz:

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